Ukraine und Russland: Wer hat Angst vor wem?

 

Wie das Internetportal “Watson” am 20. Juni 2022 berichtet, hat das ukrainische Parlament unlängst mit einer Zweidrittelmehrheit einem Gesetzesentwurf zugestimmt, wonach die öffentliche Aufführung von Musik russischer Künstlerinnen und Künstler verboten wird. Begründet wird der Entscheid damit, dass das “musikalische Produkt des Aggressionsstaates auf separatistische Strömungen in der Bevölkerung einwirken” könnte. Russische Musik würde die Annahme einer russischen Identität attraktiver machen und ziele auf eine Schwächung des ukrainischen Staates ab. Parallel dazu wurden der Import und die Verbreitung von Büchern und anderen Printprodukten aus Russland, Belarus und den russisch besetzten Gebieten komplett verboten. Schon seit 2016 unterlagen Bücher aus Russland einer Zensur. Der neueste Beschluss bedeutet, dass mehr als 100 Millionen Bücher aus den öffentlichen Bibliotheken der Ukraine entfernt werden müssen, unter anderem Klassiker der Weltliteratur wie Leo Tolstois mehrfach verfilmtes Meisterwerk “Krieg und Frieden”, aber auch Kinderbücher, Liebes- und Kriminalromane.

Bereits vor dem Beginn des Krieges hatte die ukrainische Regierung elf regierungskritische Parteien sowie mehrere TV-Sender und Zeitungen verboten. Auch wurden bereits mehrere Gesetze erlassen, um die Vormachtstellung der ukrainischen gegenüber der russischen Sprache zu sichern. So sind beispielsweise Staatsangestellte, Verkehrspolizisten, Gerichtsdiener, Klinikärztinnen sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Supermärkten, Apotheken und Banken verpflichtet, ihre Kundschaft auf Ukrainisch anzusprechen, Zuwiderhandlungen werden mit Geldstrafen geahndet.

Seltsam. Eben noch erklärte der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck, der Hauptgrund für den Angriff auf die Ukraine sei die Angst der russischen Regierung vor einer “Sogwirkung” gewesen, welche das westlich-demokratische Gesellschaftsmodell auf die russische Bevölkerung auszuüben drohte. Doch offensichtlich scheint nicht nur die russische Staatsmacht vor demokratischen Ideen Angst zu haben. Mindestens so viel Angst hat offensichtlich auch die ukrainische Staatsmacht selber vor demokratischen Tendenzen, selbst “feindliche” Musik, Sprache und Literatur erachtet sie als gefährlich für die eigene Identität. Umso erstaunlicher ist das alles, wenn man bedenkt, dass auch die ukrainische Seite immer wieder betont, Russland und die Ukraine seien “Brüdervölker”. Behandelt man Brüder so, dass man ihre Musik, ihre Literatur, ihre Sprache und ihre politischen Ideen bekämpft und verbietet?

Und: Wer hat da eigentlich Angst vor wem? Bei alledem mutet es wie ein schlechter Witz an, dass die EU-Kommissionspräsidentin Ursula van der Leyen von einer “europäischen Wertegemeinschaft” spricht, die Ukraine als Vorkämpferin für Freiheit und Demokratie in alle Himmel lobt und dem Land einen baldmöglichsten Beitritt zur EU in Aussicht stellt. Zwar könnte man einwenden, ein EU-Beitritt würde möglicherweise die demokratischen Strukturen des Landes unterstützen und fördern. Wenn dies aber so wäre, dann hätte man die sechs Länder des Westbalkans, welche zum Teil schon seit 20 Jahren auf eine Mitgliedschaft warten, schon längst in die EU aufnehmen müssen. Offensichtlich geht es da nicht um Gerechtigkeit, sondern um nichts anderes als reine Machtpolitik. Eine Machtpolitik, bei der jede Seite offensichtlich nur das sieht, was sie sehen will. Eine Machtpolitik, der es schon längst nicht mehr um die Wahrheit geht, sondern nur noch um das, was jede Seite als ihre Wahrheit definiert. Eine Machtpolitik, die bereits so reibungslos funktioniert, dass kein Aufschrei mehr durch die Welt geht, wenn aus Bibliotheken mitten im Herzen Europas 100 Millionen Bücher zu Grabe getragen werden und selbst jene, die trotz allem immer noch auf der Suche nach der Wahrheit sind, all die wunderbaren Worte, die Leo Tolstoi vor über 150 Jahren schrieb, nicht einmal mehr lösen können. “Je weiter ich im Alter voranschreite”, so der begnadete Schriftsteller, den man heute wohl als Pazifisten bezeichnen würde, “und je mehr ich die Frage des Krieges durchdenke, desto überzeugte bin ich, dass die einzige Lösung der Frage die Weigerung der Bürger ist, Soldat zu werden.” Sind es wohl solche Gedanken, die bei der ukrainischen Führung dermassen panische Angst auslösen?