Der Parteitag der deutschen Linkspartei und die Suche nach den “grossen Fragen”…

 

“Grund zum Feiern hat sie nicht”, so die deutsche “Tagesschau” vom 24. Juni 2022 über die Linkspartei, die zurzeit in Erfurt ihren Bundesparteitag abhält. Und weiter: “Die Partei steckt in einer tiefen Krise und ist zerstritten wie lange nicht mehr. Es gibt nicht mehr viele Chancen für die Partei, wieder auf die Beine zu kommen.” Im Zentrum der Streitigkeiten stehen interne Macht- und Richtungskämpfe, innerparteiliche Sexismusvorwürfe, die Haltung gegenüber Russland im Ukrainekonflikt sowie die insbesondere von Sahra Wagenknecht angestossene Kritik an den von ihr so bezeichneten “Lifestyle-Linken” aus Grossstadtmilieus, die sich von den tatsächlichen Sorgen und Nöten der breiten Bevölkerung verabschiedet hätten. Die Krise der deutschen Linkspartei ist umso bedauerlicher, als angesichts der aktuellen Weltlage und der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse in Deutschland eine konsequent linke, antikapitalistische Kraft dringender nötig wäre denn je. Gemäss dem “Trust Barometer” der amerikanischen Kommunikationsagentur Edelman, die regelmässig internationale Befragungen durchführt, glaubt nur noch jeder achte Deutsche, dass er von einer wachsenden Wirtschaft profitiert. Mehr als die Hälfte der Befragten, nämlich 55 Prozent, sind der Meinung, dass der Kapitalismus in seiner jetzigen Form mehr schade als nütze. “Weil die Wirtschaft auf die Sorgen und Nöte der Menschen keine ausreichende Antwort gibt”, so Christiane Schulz von “Edelman Deutschland”, “stellen immer mehr Menschen das kapitalistische System selbst in Frage.” Und: “Die Menschen sind auf der Suche nach den grossen Fragen.” Die Suche nach den grossen Fragen. Müsste nicht genau dies das Motto der Linkspartei sein? Unglaublich, aber wahr: 55 Prozent der Deutschen sehen im kapitalistischen Wirtschaftssystem keine Zukunft. Gleichzeitig aber mangelt es an einer echten Alternative, viele sind ratlos, verzweifelt, richten ihre Wut gegen Andersdenkende und vermeintlich politische “Feinde” oder ziehen sich ins Private zurück und wollen von allem, was mit Politik zu tun hat, nichts mehr wissen. Es wäre die Geburtsstunde einer neu erwachten Linkspartei. Sie könnte mit einem Wählerpotenzial von 55 Prozent rechnen und alle anderen Parteien weit überflügeln! Freilich nur, wenn es ihr gelänge, glaubwürdige Alternativen zum kapitalistischen Wirtschaftssystem aufzuzeigen, all die Zusammenhänge zwischen Reichtum und Armut und den ganz alltäglichen Ausbeutungsverhältnissen aufzudecken, nicht mehr länger um den heissen Brei herumzureden, sich nicht mehr länger in Scheindiskussionen und internem Machtgerangel zu verlieren. Gewiss, der Kapitalismus kann nicht in Deutschland allein überwunden werden, zu sehr ist er ein globales Machtsystem geworden, in dem alles mit allem zusammenhängt. Eine linke politische Kraft, der es mit der Überwindung des Kapitalismus ernst ist, müsste sich daher mit gleichgesinnten politischen Kräften anderer Länder verbinden. Der Globalisierung des Kapitalismus müsste die Globalisierung all jener politischer Kräfte entgegengestellt werden, welche seine Überwindung zum Ziel haben. Wenn, wie der “Edelman Trust Barometer” feststellt, die Menschen je länger je mehr auf der “Suche nach den grossen Fragen” sind, dann müsste es einer echt antikapitalistischen Linkspartei das wichtigste Anliegen sein, auf diese grossen Fragen eine Antwort zu geben, im Klartext: ein glaubwürdiges antikapitalistisches Wirtschafts- und Gesellschaftskonzept zu erarbeiten. Das heisst: Die Partei braucht so etwas wie einen Wissenschaftsrat, der die theoretischen Grundlagen einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung aufbauen würde, in der die soziale Gerechtigkeit, das Ende aller Ausbeutung und das gute Leben für alle an oberster Stelle stehen müssten. Freilich dürfte das niemals eine abgehobene, rein akademische Angelegenheit sein. Im Gegenteil: Die Erkenntnisse des “Wissenschaftsrats” müssten in eine Sprache heruntergebrochen werden, die auch vom Bauarbeiter, vom LKW-Fahrer, von der Krankenpflegerin und von der Putzfrau verstanden würde und sie alle begeistern könnte. Mit anderen Worten: Die Linke müsste im besten Sinne des Wortes eine echte Volkspartei werden und diese heute so verhängnisvolle Spaltung zwischen Politik und “gewöhnlicher” Bevölkerung überwinden. Auch dürfte eine linke Partei, um wirklich glaubwürdig zu sein, sich nicht nur auf theoretische Diskussionen beschränken, sondern sich gleichzeitig auch um das tägliche Wohl der Menschen hier und heute kümmern, ohne freilich dabei das grosse Ziel aus den Augen zu verlieren. Denn bei allen Nöten und Sorgen, bei aller Wut und Verzweiflung steckt doch in jedem Menschen eine tiefe Sehnsucht nach einer anderen Welt, die soviel gerechter und friedlicher wäre als die unsere. Könnte es für eine politische Partei eine schönere und wichtigere Aufgabe geben als die, Wegbereiterin zu sein für eine Zukunft, von der wird doch alle insgeheim träumen?