Die Schweiz im November 2024: Kein Witz…
Joel, der vor drei Wochen zwei Jahre alt geworden ist, hat sich mit der Scherbe eines zerbrochenen Glases eine Schnittwunde am Daumen zugezogen. Die stark blutende Wunde notdürftig mit einem Verband versehen, melden wir uns, weil es Sonntag ist und alle Arztpraxen geschlossen sind, beim Notfalldienst des Kantonsspitals in der Nachbargemeinde. Die Auskunft am Schalter: Heute sei gerade kein Kinderarzt im Dienst, aber nun ja, man werde schauen, ob ein anderer diensthabender Arzt die Wunde anschauen könnte, doch man könne nichts versprechen, alle seien völlig ausgelastet. Aber dann doch noch: Nach zwei Stunden Warten schaut sich ein Arzt die Wunde an und verschliesst sie mit Klebestreifchen. Es wird uns eine Nachkontrolle zwei Tage später beim örtlichen Kinderarztzentrum empfohlen.
Zwei Tage später: Die Frau am Telefon des Kinderarztzentrums teilt uns mit, dass die Praxis infolge Überlastung kürzlich einen Aufnahmestopp verfügt hätte. Neue Kinder würden nur noch aufgenommen, wenn sie jünger als zwei Jahre sind. Pech gehabt, Joel ist drei Wochen zu alt.
Da Joel und seine Eltern erst seit Kurzem in der Schweiz leben und noch keinen Hausarzt bzw. keine Hausärztin finden konnten, rufe ich meine Hausärztin an, ob sie ausnahmsweise Joels Wunde kurz anschauen könnte. Würde sie ja gerne, aber heute und morgen sei alles voll und am Donnerstag und Freitag sei die Praxis geschlossen. Man empfiehlt uns den Notfallarzt in der fünf Kilometer entfernten Nachbarsgemeinde.
Dort heisst es: Aussichtslos, heute und morgen keine freien Termine. Aber wir könnten es ja in L., einer weiteren unserer Nachbargemeinden, versuchen. Dort praktiziere eine Kinderärztin. Das Problem sei nur, dass man sie kaum erreichen könne, da die Stelle ihrer Praxisassistentin zurzeit gerade nicht besetzt sei. Und jetzt, frage ich? Nun ja, heisst es, dann würde uns halt der Notfallarzt gegen Abend noch irgendwo hineinquetschen, aber es könnte sein, dass wir bis zu zwei Stunden warten müssten.
Wir müssen dann nur eine Stunde warten, der Arzt wirft einen kurzen Blick auf die schon gut verheilte Wunde und lässt uns nach einer Minute wieder gehen.
Das schweizerische Gesundheitssystem am 12. November 2024 in der Schweiz, einem der reichsten Länder der Welt. Ich bin fast ganz sicher, drei- oder vierhundert Jahre früher hätte man in jedem noch so kleinen Dorf eine Naturheilerin gefunden, die für eine kleine Schnittwunde am Daumen eines zweijährigen Kindes ein passendes Kräutchen parat gehabt und den Finger mit dem Blättchen einer wohltuenden Pflanze umwickelt hätte. Aber die hat man ja dann alle als Komplizinnen des Teufels zu Tode gefoltert und auf den Scheiterhaufen verbrannt…