Vom Radrennfahren bis zum Synchronschwimmen: die zerstörerischen Folgen des Konkurrenzprinzips

 

Normalerweise geht die Schweizerin Nicole Reist zwischen 19 und 20 Uhr zu Bett. Um halb zwei steht sie auf, um dann bis halb fünf zu trainieren. Um fünf Uhr sitzt sie in ihrem Büro, wo sie bis 16 Uhr als Hochbauzeichnerin arbeitet. Danach folgt die nächste Trainingseinheit. Und nun, am 15. Juni 2022, ist es soweit: Nicole Reist steht am Start des “Race Across America”, des härtesten Radrennens der Welt. 4963 Kilometer, 22’575 Höhenmeter, von Oceanside in Kalifornien bis Annapolis in Maryland, durch Gebiete, von denen viele wegen ihrer Gluthitze, andere wegen häufiger Tornados berüchtigt sind. Etappen gibt es keine. Jede Fahrerin und jeder Fahrer entscheidet selber, wann sie oder er eine Schlafpause einlegen möchte. Die meisten Fahrerinnen und Fahrer schlafen während zehn Tagen höchstens zwölf Stunden, jeweils 30 bis 40 Minuten am Stück. Häufige Folge sind Übermüdung, Halluzinationen und Stürze. Und genau dies wird Nicole Reist auch in diesem Jahr zum Verhängnis: 450 Kilometer vor dem Ziel stürzt sie. Nachdem einer ihrer schärfsten Konkurrenten an ihr vorbeigezogen ist, nimmt sie sich vor, die restliche Strecke bis zum Ziel ohne Pause durchzufahren. Bei jedem Tritt schmerzt der beim Sturz lädierte Oberschenkel, die Hände werden taub, der Nacken ist steif. Kein Wunder, stürzt sie nur wenige Stunden später ein zweites Mal und bricht sich dabei eine Rippe. Gedanken ans Aufgeben verscheucht sie dennoch augenblicklich. Sie kann nicht mehr selber auf ihr Fahrrad steigen und muss sich von ihrer Crew hochheben lassen. Als sie endlich als schnellste Frau und als Gesamtdritte im Ziel anlangt, muss sie sich von einem Helfer aus dem Sattel heben lassen. Gehen kann sie nicht mehr, die Crew trägt sie zum Interview. Sie sagt: “Das war das härteste Rennen meines Lebens, ich habe noch nie so gelitten.” Szenenwechsel: Am 22. Juni 2022 finden in Budapest die Weltmeisterschaften im Synchronschwimmen statt. Bei ihrer Einzelkür kollabiert die US-Amerikanerin Anita Alvarez und muss bewusstlos aus dem Becken gerettet werden. Kein Einzelfall: An den Olympischen Spielen 2008 in Peking verlor die Japanerin Hironi Kobayaski ebenfalls das Bewusstsein. Der Grund: Die Schwimmerinnen müssen bis zu 45 Sekunden lang unter Wasser bleiben, so kann es leicht zu einer Hypoxie, einem akuten Sauerstoffmangel, kommen, der im leichteren Fall Müdigkeit und Schwindel, im schlimmeren Fall permanente Hirnschäden zur Folge haben kann. Synchronschwimmen ist eine der härtesten Sportarten. Sieben Wassertrainings pro Woche sind bei den Eliteschwimmerinnen üblich, stundenlang. Dazu kommen neben kräftezehrenden Schwimm- und Koordinationsübungen stundenlanges Trainieren im Kraftraum. Viele Schwimmerinnen klagen über Hüftprobleme, Zerrungen und Muskelrisse durch übermässiges Dehnen, schon siebenjährige Mädchen werden mit Gewalt in den Spagat gezwungen, bis sie nicht mehr atmen können, weil der Rücken so stark nach hinten gezogen wurde. “Wir sehen immer so fröhlich aus”, sagte die deutsche Star-Synchronschwimmerin Marlene Boyer, “aber innerlich sterben wir.” Doch es sind nicht nur Radrennfahrerinnen und Synchronschwimmerinnen. Auch Abertausende weiterer Spitzensportlerinnen und Spitzensportler anderer Disziplinen sind gezwungen, im Kampf um die Medaillen ihre Gesundheit oder gar ihr Leben aufs Spiel zu setzen, Kunstturnerinnen und Eiskunstläuferinnen, Balletttänzerinnen und Skirennfahrer, Boxer und Langstreckenläufer, Tennisspielerinnen und Gewichtheber. Erklären lassen sich alle diese Leiden, diese Schmerzen, diese Qualen und diese Opfer wohl nur durch die Gesetzmässigkeiten des Konkurrenzprinzips. Es ist diese Lüge, auf der alles aufbaut: Die Lüge nämlich, jeder und jede könne eines Tages zuoberst auf dem Podest stehen, wenn er oder sie sich bloss genug anstrenge. Dabei liegt es doch in der Natur der Sache, dass sich alle noch so sehr bis zur Selbstaufgabe anstrengen könnten und am Ende doch immer nur ein Einziger, eine Einzige zuoberst auf dem Podest stehen wird. Weil aber alle daran glauben, liefern sie sich einen gegenseitigen Konkurrenzkampf, der naturgemäss immer härter und immer zerstörerischer wird in dem Masse, wie der Level der erforderlichen Spitzenleistungen immer weiter in die Höhe geschraubt wird. Doch nicht nur im Spitzensport herrscht die Lüge des Konkurrenzprinzips. Diese durchzieht die ganze kapitalistische Gesellschaft, die Arbeitswelt, die Wirtschaft. Jeder soll besser sein als alle anderen, jeder könne die anderen übertrumpfen – er müsse sich bloss genug anstrengen. Was im Umkehrschluss nichts anderes heisst, als dass alle, welche es nicht zur Spitze schaffen, selber daran Schuld seien – sie hätten sich eben nur ein bisschen mehr anstrengen sollen. Schon den Kindern in der Schule wird diese Lüge eingeimpft: Jedes Kind könne zu guten Noten, zu einem guten Zeugnis und zu einer erfolgreichen Lebens- und Berufskarriere gelangen, es müsste sich bloss genug anstrengen. Doch auch hier gilt, wie überall: Die Kinder könnten sich noch so sehr anstrengen, Tag und Nacht nur noch Wissensstoff pauken – selbst dann wären am Ende immer nur ein paar wenige auf dem “Siegerpodest” und alle anderen können früher oder später ihre Träume und Hoffnungen begraben. Doch glücklicherweise gibt es eine Alternative zum zerstörerischen und lebensfeindlichen Konkurrenzprinzip: das Prinzip der Kooperation. Kooperation bedeutet: Die Menschen werden bei ihrer Arbeit, ihren Leistungen und Begabungen nicht mehr miteinander verglichen und in einen gegenseitigen Wettstreit gezwungen, sondern jeder Mensch trägt zum Gelingen des Ganzen sein Bestes bei, ökonomisch, gesellschaftlich, politisch. Jeder Mensch erfährt dabei die volle Wertschätzung durch seine Umgebung dank dem, was er ist, und nicht dank dem, was er sein könnte.

„Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und
der Anfang der Unzufriedenheit“, sagte der dänische Philosoph 
Søren Kierkegaard. Wahrscheinlich würden dann, wenn das Konkurrenzprinzip erst einmal überwunden wäre, solche Absurditäten wie der “Race Across America” und Sportarten wie das Synchronschwimmen früher oder später von der Bildfläche verschwunden sein. Aber wäre das so schlimm? Ich bin fast ganz sicher, dass eine Neuorientierung weg von einem zerstörerischen Konkurrenzprinzip hin zu einem menschenfreundlichen Prinzip der Kooperation eine heute noch ungeahnte Riesenfülle an neuen, kreativen Ideen, Arbeitsformen, Projekten, Aktivitäten und Begegnungen aller Art zutage bringen würde, die alle davon leben würden, dass niemand mehr andere fertigmachen muss, um selber erfolgreich zu sein, sondern der Erfolg jedes Einzelnen stets auch der Erfolg aller anderen ist…