Bahira und Ahmad aus Syrien, seit zehn Jahren in der Schweiz: So schnell kann Eis schmelzen

Heute habe ich Bahira und Ahmad besucht. Sie mussten 2014 aus Syrien fliehen, als der Krieg zwischen Regierungstruppen und Aufständischen fast über Nacht wie ein gewaltiger Tsunami über sie hereingebrochen war. Ein halbes Jahr lang lebten sie im Libanon, dann erhielten sie im Rahmen eines UNO-Programms für Kriegsflüchtlinge eine Aufenthaltsbewilligung für die Schweiz, mussten aber ein weiteres Jahr warten, bis die notwendigen Formalitäten erledigt waren und sie tatsächlich in die Schweiz einreisen konnten. Ihre Kinder sind heute 16 und 14 Jahre alt. Ahmad, der vor seiner Flucht aus Syrien als Koch in einem guten Restaurant gearbeitet hatte,  hat eine Stelle als Bäcker, verdient aber, weil er keine Lehre absolviert hat, pro Monat tausend Franken weniger als sein Schweizer Arbeitskollege, der genau die gleiche Arbeit leistet. Bahira, die vor der Flucht als Lehrerin gearbeitet hatte, konnte in der Schweiz nur unter Schwierigkeiten gelegentlich einen kleinen, befristeten Job finden. Zurzeit betreut sie stundenweise eine ältere, pflegebedürftige Frau. Fast alle Bewerbungen für eine grössere und dauerhafte Anstellung blieben unbeantwortet, auf einige erhielt sie eine Absage, meistens mit dem Hinweis auf ihr Kopftuch, das in dem betreffenden Job nicht toleriert würde. Bahira ist gebürtige Syrerin, Ahmad ist Palästinenser, seine Grosseltern mussten 1948 aus ihrer Heimat fliehen, und in seinem Pass stehen unter der Bezeichnung «Nationalität» drei X, was so viel bedeutet wie «staatenlos», etwas, was ihn bis heute zutiefst schmerzt, weil es ihm das Gefühl vermittelt, weniger wert zu sein als andere Menschen. Die Familie leidet unter grossem finanziellen Druck, kann sich nur das Allernötigste leisten, Bahira und Ahmad haben es aber geschafft, sich bis heute nicht zu verschulden, nicht zuletzt auch dank der Übernahme einiger Kosten durch die Caritas, ohne die es zeitweise gar nicht gut ausgesehen hätte.

Voller Stolz zeigt mir Bahira ein Buch, das sie im Verlaufe der vergangenen Jahre geschrieben hat und das kürzlich in arabischer Sprache veröffentlicht wurde. Sie beschreibt darin ihre Geschichte als Flüchtlingsfrau in Form eines Romans. Leider hat sie erst zehn Exemplare verkaufen können. Ihr grösster Traum wäre es, dieses Buch auch in einer deutschen Übersetzung erscheinen zu lassen. Eine Bekannte von ihr hat bereits damit angefangen, den Text zu übersetzen, Bahira sucht nun aber jemanden mit Deutsch als Muttersprache für eine abschliessende Gesamtüberarbeitung des Texts. Was für ein Strahlen in ihren Augen, als ich ihr anbiete, diese Aufgabe zu übernehmen.

Bahira erzählt: «Das Leben in Syrien war vor dem Beginn des Kriegs wunderbar. Wir waren nicht reich, aber wir hatten alle genug für ein gutes Leben. Der Krieg kam sozusagen über Nacht und zerstörte unser ganzes früheres Leben… An die Zeit im Libanon haben wir nur schlechte Erinnerungen. Ohne Aufenthaltsbewilligung hielten wir uns ganz knapp über Wasser, ich als schwarz angestellte Hilfslehrerin und Ahmad als Hilfskoch, für den er keinen Lohn, sondern nur ein gelegentliches Trinkgeld erhielt… Die Aussicht, in der Schweiz ein neues Leben aufbauen zu können, erfüllte uns mit grosser Hoffnung, doch kaum waren wir in der Schweiz, holte uns auch schon die bittere Realität wieder ein. Im Aufnahmezentrum für Asylsuchende kam ich mir vor wie in einem Gefängnis. Ich verstand auch nicht, weshalb man uns die Handys wegnahm. Eines Tages hatte ich das dringende Bedürfnis, meine Mutter anzurufen, irgendwie spürte ich, dass es ihr nicht gut ging, ich schrie und weinte, doch man weigerte sich, mir das Handy zu geben. Eine Woche später erfuhr ich, dass meine Mutter genau an diesem Tag infolge eines Verkehrsunfalls gestorben war… Ein halbes Jahr verbrachten wir dann in einem Flüchtlingsheim, in dieser Zeit verfiel ich in eine tiefe Depression, unter der ich etwa drei Jahre lang litt, bevor ich mich davon einigermassen wieder erholen konnte… Oft wurde mir gesagt, ich müsste doch froh sein, in der Schweiz leben zu können, das müsste doch für jemanden wie uns das Paradies sein. Aber leider muss ich, wenn ich an mein Leben in Syrien vor dem Ausbruch des Kriegs zurückdenke, sagen: Damals lebte ich tatsächlich im Paradies, in der Schweiz aber fühlte ich mich anfänglich wie in der Hölle… Wir fühlten uns sehr alleine, niemand half uns, von allen Seiten spürten wir Ablehnung, auch als wir dann nach dem Aufenthalt im Heim in eine kleine Wohnung umziehen konnten. Alles war schwierig, für alles mussten wir kämpfen, und immer standen uns die noch fehlenden Deutschkenntnisse im Weg… Wir nahmen viel Feindseligkeit war, mehrere Male riefen Nachbarn sogar die Polizei, nur weil unsere Kinder beim Spielen ein bisschen laut gewesen waren… Wir kannten die Gepflogenheiten ganz und gar nicht, wir wussten nicht, wie man eine Frage formuliert oder wie man die Menschen ansprechen muss, damit sie sich nicht angegriffen oder verletzt fühlen. Die Blicke, die wir, wenn wir im Dorf einkaufen oder spazieren gingen, wahrnahmen, vermittelten uns stets das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, doch niemand sagte uns, was dieses Falsche gewesen sein könnte… Unsere Versuche, mit Schweizer Familien Kontakt aufzunehmen, scheiterten allesamt, auch für die Kinder war es schwer, mit anderen Kindern Freundschaften zu knüpfen… Schlimm war es jeweils, wenn die Angestellten des Sozialamts zu uns nach Hause kamen und wir alles zeigen mussten und dann manchmal zum Beispiel beanstandet wurde, wenn wir einen Markenartikel gekauft hatten, obwohl wir diesen zu einem sehr günstigen Preis bekommen hatten. Diese Feindseligkeit und das Misstrauen, das wir auf Schritt und Tritt verspürten, war für uns ganz neu, von unserem früheren Leben in Syrien kannten wir es ganz und gar nicht, dort lebten die Menschen friedlich und mit grosser gegenseitiger Offenheit. Egal, zu welchem Volk oder zu welcher Religion man gehörte, alle akzeptierten alle…»

Ahmad erzählt: «In Syrien lebten wir an einer Strasse, da kannten sich alle. Gingst du am Morgen durch die Strasse, wurdest du von allen Menschen freundlich begrüsst, alle lachten, scherzten und diskutierten miteinander. Hier in der Schweiz redet nicht einmal der Nachbar, der neben uns wohnt, mit uns. Und wenn wir am Morgen das Haus veranlassen, sagt uns niemand guten Tag… Das Schlimmste war, als unser Bub noch klein war und auf dem Pausenplatz einen Streit mit einem einheimischen Buben hatte. Am nächsten Tag kam der ältere Bruder des Schweizer Kindes auf den Pausenplatz und verprügelte meinen Sohn. Um diesen Konflikt nicht eskalieren zu lassen und ein friedliches Miteinander möglich zu machen, suchte ich am nächsten Tag die Eltern dieses Buben auf, um alles in Ruhe zu besprechen. Kaum stand ich am Gartentor, kam der Vater schon drohend auf mich zu und warnte mich: Das sei sein Grundstück und wenn ich es zu betreten wage, werde er die Polizei rufen. Ich ging nachhause und dieser Mann hat nie mehr mit mir gesprochen. Und auch ich habe weiter nichts unternommen, denn wir haben alle grosse Angst vor der Polizei.»

Ob dieser Mann, wenn er am nächsten Tag zur Bäckerei gehen wird, sich wohl auch weigern wird, ein Brot zu kaufen und zu essen, das von Ahmad gebacken wurde?

Nach zehn Jahren wollen sich Mariam und Ahmad einbürgern lassen, sie zeigen mir einen Stapel an Formularen, die sie nun ausfüllen müssen. Jetzt schon haben sie Angst vor einem negativen Entscheid. Sie brauchen drei Referenzpersonen, aber wie sollen sie diese finden, wenn sie niemanden kennen? Und wie sollen sie beweisen, dass sie schon gut integriert sind, wenn man ihnen genau das so schwer macht, ihnen so viele Hindernisse in den Weg stellt und ihnen so deutlich zu verstehen gibt, dass die meisten Menschen offensichtlich ja gar nicht wollen, dass sie sich in die hiesige Gesellschaft integrieren?

Es ist nun im Verlaufe der letzten vier Wochen dies das zweite Mal, dass ich Bahira und Ahmad besucht habe. Ich habe zwei wundervolle Menschen kennengelernt. Geradezu verblüfft war ich, als Bahira beim zweiten Besuch gesagt hat, dass sie gar nicht so perfekt sein könne und es auch gar nicht wolle, wie man das offensichtlich von ihnen erwarte. 80 Prozent Perfektion sei genug, sagte sie, den Rest an Unzulänglichkeiten müsse man halt akzeptieren, egal, ob man ein «Schweizer» oder eine «Ausländerin» sei, so viel Toleranz müsse sein, und kein Volk sei besser oder schlechter als ein anderes. So viel Selbstbewusstsein hätte sie mittelweile wieder erlangt, nachdem sie dieses während so langer Zeit beinahe verloren hätte. Verblüfft war ich über ihre «80-Prozent-Regel» vor allem auch deshalb, weil ich selber schon vor vielen Jahren genau auf die gleiche Regel gekommen war und das für mich, der ich zuvor immer übertrieben perfekt sein sollte, so etwas wie eine wunderbare Befreiung war und man dann alles viel gelassener und toleranter sehen kann.

Und noch etwas hat mich verblüfft. Bei meinem ersten Besuch sprachen nur Bahira und ich miteinander, Ahmad sass auf einem Sofa, las in einem Buch und beteiligte sich mit keinem Wort an unserem Gespräch. Beim zweiten Besuch sass er schon von Anfang an mit uns zusammen am Tisch und hätte am liebsten gar nicht mehr aufgehört, von all dem zu erzählen, was er in der Schweiz bisher alles erlebt hat. Wahrscheinlich war es das allererste Mal in diesen zehn Jahren, dass ihm ein Schweizer zwei Stunden lang aufmerksam zugehört hat. Nächstes Mal wollen sie mich zum Essen einladen und nächstens möchten sie mich auch einmal bei mir zu Hause besuchen. So schnell und leicht kann das Eis schmelzen, auch wenn es zehn Jahre lang immer dicker geworden ist…

Während dieser beiden Gespräche mit Bahira und Ahmad musste ich ein paar Mal weinen. Und ein paar Mal war ich richtig wütend. Und ein paar Mal schämte ich mich richtiggehend, ein Schweizer zu sein, nicht zuletzt deshalb, weil doch immer alle Schweizerinnen und Schweizer, welche südliche Länder bereisen, so begeistert von der Gastfreundschaft der dortigen Menschen schwärmen, während sie umgekehrt in ihrem eigenen Land Menschen aus fernen Ländern so unglaublich viel Kälte entgegenbringen…

Am späteren Abend schickt mir Bahira noch ein Video. Es zeigt, wie engagiert sich freiwillige Helferinnen und Helfer der syrischen Community Wiens bei den Aufräumarbeiten nach den jüngsten Überschwemmungen beteiligt haben. Doch im Gegensatz zu dem 26jährigen syrischen Asylbewerber, der vor drei Tagen im deutschen Solingen drei Menschen umgebracht und damit eine gesamteuropäische Diskussion zwecks dramatischer Verschärfungen in der Asylpolitik ausgelöst hat, werden solche Nachrichten keine ebenso weit verbreiteten Diskussionen in die entgegengesetzte Richtung auslösen. Und erst recht nicht werden auch die Geschichten von Bahira und Ahmad auch nur annähernd so hohe Wellen werfen. Selbst wenn gerade dadurch, nämlich durch das Öffnen der Türen, durch gegenseitige Wertschätzung, durch das einander Zuhören und Ernstnehmen Vorfälle wie jener in Solingen höchstwahrscheinlich am wirkungsvollsten verhindert werden könnten…