Dritter Teil der Geschichte von Amin, Ela, Baran und Aziz: Schlaflose Nächte und Sterne in dunklen Zeiten…

In den ersten beiden Teilen dieser Geschichte habe ich von meinen Erlebnissen mit Amin, Ela, Baran und Aziz erzählt, mit denen ich seit Juni 2024 mein Haus teile. Die Begegnung mit diesen unbeschreiblich liebenswürdigen und trotz allen schlimmen Erfahrungen immer noch so bewundernswert lebenslustigen Menschen aus Afghanistan hat mein Leben in kürzester Zeit tiefgreifender verändert, als dies je zuvor der Fall gewesen war.

Heute erzähle ich von Halime, der vierundzwanzigjährigen, zwei Jahre jüngeren Schwester von Ela, die auf der Flucht aus ihrer Heimat nach einer sechsjährigen Odyssee schliesslich in einem griechischen Flüchtlingscamp landete. Von dort aus flog sie nach Stockholm, zu ihrem Bruder, der ihr das Flugticket besorgt hatte, um anschliessend zu ihrer Schwester und ihrer Familie in die Schweiz zu kommen. Was für unbeschreibliche Glücksgefühle, als sich Ela und Halime nach sechs Jahren zum ersten Mal in die Arme nehmen konnten und Halime ihre beiden Neffen Baran und Aziz zum allerersten Mal gesehen hat…

Halimes Lebensgeschichte erfahre ich nur bruchstückhaft. Ela und Amin haben mir zwar schon einiges erzählt, aber das Allermeiste weiss ich noch nicht. Halime, das spüre ich von Anfang an, möchte nur wenig darüber erzählen. Eben erst ist sie in ihrem neuen Leben angekommen. Ihr grösster Wunsch besteht wohl darin, ihr ganzes bisheriges Leben so schnell wie möglich zu vergessen. Dementsprechend halte ich mich mit Fragen zurück. Doch das Wenige, was ich schon weiss, genügt für schlaflose Nächte mehr als genug…

Halime wurde im Alter von 16 Jahren zwangsverheiratet und jahrelang von ihrem Mann geschlagen, regelmässig fügte er ihr schwere Verletzungen zu und brach ihr einmal sogar den Arm. Schwager Amin versuchte ihr zu helfen, beschwor Halimes Mann, von seinen Tätlichkeiten abzusehen, suchte sogar Unterstützung durch einen Rechtsanwalt, doch es ging alles immer weiter und wurde im Laufe der Zeit sogar noch schlimmer.

“Terre des femmes”, November 2023: “Bereits 2018 sah eine Studie von Thomas Reuters Afghanistan auf Platz zwei der gefährlichsten Länder für Frauen weltweit. Anfang 2021 berichtete Human Rights Watch, dass 87 Prozent der afghanischen Frauen Menschenrechtsverletzungen erfahren haben. Diese reichen von Zwangsverheiratung und Prostitution über Vergewaltigung bis hin zu Entführung und Ehrenmord. Ein Drittel der Mädchen wird in Afghanistan minderjährig zwangsverheiratet. Fliehen sie vor häuslicher Gewalt, landen sie oft im Gefängnis, denn in Afghanistan gilt man als schlechte Frau, wenn man aus dem eigenen Haus davonläuft. Zu alledem wird Afghanistan seit langem von Kriegshandlungen und terroristischen Attentaten erschüttert, deren Auswirkungen vor allem für Frauen und Mädchen verheerend sind.”

Irgendwie gelang es Halime nach etwa zwei Jahren, dieser Hölle zu entfliehen. In einem Alter, da junge Frauen bei uns in Strassencafés sitzen, das Leben geniessen und im Sommer nach Mallorca fliegen, musste sich Halime jetzt mit ihren paar wenigen Habseligkeiten zu Fuss auf den Weg machen, einfach möglichst weit fort, egal wohin, einfach irgendwohin, wo man nicht täglich von einem Mann verprügelt wird, kaum genug zu essen hat und erst noch damit fertig werden muss, schon am gleichen Tag die Mutter und den Vater durch einen Bombenanschlag verloren zu haben, und keine Sekunde lang sicher sein kann, nicht auch noch selber unvermittelt einer Terrorattacke oder irgendeinem anderen Gewaltverbrechen zum Opfer zu fallen.

Wie lange sie im Iran war, wie sie dort überlebte, ob sie auch wieder von Männergewalt betroffen war, das alles weiss ich nicht. Ich weiss nur, dass sie eines Tages versuchte, über die Grenze in die Türkei zu gelangen. Was sie dabei erlebte, auch das entzieht sich momentan noch meiner Kenntnis. Nicht einmal ihrer Schwester und ihrem Schwager gelingt es, ihr mehr als ein paar wenige Worte abzuringen. Und so gehe ich wieder ins Internet, um die noch offenen Lücken in Halimes Odyssee zu füllen…

Human Rights Watch, 18. November 2022: “Die Türkei drängt routinemässig Zehntausende Afghanen an ihrer Landgrenze zum Iran zurück oder schiebt sie direkt nach Afghanistan ab, ohne ihre Ansprüche auf internationalen Schutz zu prüfen. Nähern sich Flüchtlinge der türkischen Grenze, schiessen die Grenzbehörden häufig in ihre Richtung oder direkt auf sie, insbesondere dann, wenn sie die Grenze zu überqueren versuchen. Oft werden die Flüchtlinge mit Schlagstöcken und Eisenstangen geschlagen. Wer es trotzdem schafft, in die Türkei zu gelangen, muss von Glück reden, einen Antrag auf internationalen Schutz stellen zu können, denn alle Städte, in denen bereits ein Fünftel der Bevölkerung ausländischer Herkunft sind, nehmen keine Anträge auf eine Aufenthaltsgenehmigung an.”

Irgendwie, ich weiss es noch nicht genau, schaffte sie es, in die Türkei zu kommen. Dort lebte sie vier Jahre lang, “illegal”, in beständiger Angst, von der Polizei aufgegriffen und wieder ausgeschafft zu werden. Den Lebensunterhalt verdiente sie sich durch einen Job in einem Kosmetiksalon. Mit dem ersten Geld, das sie sich erspart hatte, kaufte sie sich auf einem Jahrmarkt einen Fingerring mit einem kleinen blauen Plastikstein, den sie immer noch trägt. Es war für sie das Grösste, wie auch der kleine Pinsel, mit dem sie sich ihr erstes Makeup auftrug. Das Türkische beherrschte sie bald schon so perfekt, dass die meisten Menschen sie nicht für eine Fremde hielten, was für sie überlebenswichtig war.

Türkische Feriendestinationen sind bei Touristinnen und Touristen aus dem Westen nicht zuletzt deshalb so begehrt, weil dank der ausbeuterischen Löhne für Hotel- und Restaurantangestellte, Masseusen und Kosmetikerinnen höchst attraktive Angebote locken. So etwa ist im Ferienkatalog des österreichischen Reisebüros “Schönheitsreisen – Beauty am Meer” zu lesen: “Wir spezialisieren uns auf Schönheitsreisen nach Antalya zu äusserst attraktiven Preisen. Wir kümmern uns um den gesamten Ablauf Ihrer Behandlung und Reise. Entscheiden Sie sich für einen Reisezeitraum und überlassen Sie uns den Rest! So können Sie Ihren Aufenthalt stressfrei geniessen. Und Sie sparen erst noch bis zu 70% der Kosten für eine vergleichbare Behandlung im deutschsprachigen Raum.”

Vier Jahre lang machte Halime mit ihrer Arbeit unzählige Menschen, die genug Geld hatten, um sich diesen Luxus leisten zu können, schön und glücklich, schenkte ihnen ein neues Lebensgefühl. Ihre Reise aber, die Reise in der umgekehrten Richtung, war alles andere als eine stressfreie Schönheitsreise. Als die Angst vor einer drohenden Ausschaffung aus der Türkei immer stärker wurde, schloss sich Halime einer Gruppe von Flüchtlingen an, die sich aufmachten, um das Land zu verlassen und nach Griechenland zu entfliehen. 16 Mal versuchte sie es, auf unterschiedlichsten Wegen, oft durch dichtestes Gestrüpp, manchmal auch durch Bäche oder Flüsse watend, so schnell und weit als möglich fort rennend, wenn sie Schüsse oder das Schreien von anderen Flüchtlingen hörte, die von den griechischen Grenzwächtern zurückgeprügelt wurden. 16 Mal war auch sie bei denen, die es nicht schafften. Schon beim ersten Mal waren ihr sämtliche der wenigen Habseligkeiten, die sie noch besessen hatte, abgenommen worden, alle Kleider und das ganze Geld, das sie während der vier Jahre mit der Arbeit als Kosmetikerin in der Türkei verdient hatte. Doch sie gab nicht auf. Und beim siebzehnten Mal gelang es ihr, die Grenze an einer unüberwachten Stelle zu passieren und unbemerkt so weit ins Landesinnere zu gelangen, dass sie, als sie kurz darauf von Polizisten aufgegriffen wurde, nicht mehr über die Grenze zurückgeschickt wurde und in einem Flüchtlingscamp landete.

Aus der “Frankfurter Rundschau” vom 19. Juni 2023: “Immer häufiger werden an der griechisch-türkischen Grenze sogenannte Pushbacks durch kriminelle Gruppen durchgeführt. Schutzsuchende werden von griechischen Sicherheitskräften festgenommen und dann an bewaffnete Männer übergeben. Diese bringen die Betroffenen dann meistens an den Grenzfluss Evros und schicken sie mit einem Schlauchboot zurück auf die türkische Seite. Zuvor werden den Männern und Frauen sämtliche Wertgegenstände und Mobiltelefone weggenommen. Den Geflüchteten wird das Recht auf Schutz verwehrt, auch einen Antrag auf Asyl dürfen die Menschen nicht stellen. Betroffene berichten auch immer wieder von Gewalt durch die maskierten Männer. Nicht selten werden Frauen vergewaltigt.”

Drei Monate lang verbrachte Halime in diesem Flüchtlingscamp in der Nähe von Athen. Auch von dieser Zeit weiss ich erst wenig und lese im Internet nach…

“Meist sind es leere Container”, berichtete die “Deutsche Welle” am 3. Februar 2023, “manchmal gibt es nicht einmal Matratzen. Die Essenszuteilung erfolgt nach willkürlichen Vorgaben des Aufsichtspersonals, je nach Menge der vorhandenen Lebensmittel und der Zahl der Schutzsuchenden, die von Tag zu Tag erheblich schwanken kann. Wer Pech hat und nicht auf der jeweiligen Tagesliste aufgeführt ist, bekommt die Reste, wenn alle anderen im Camp ihr Essen bereits bekommen haben. Meist sind die Mahlzeiten kaum geniessbar. Am schlimmsten aber ist die ständige Unsicherheit und das oft wochenlange Warten auf den Asylentscheid. Da die Türkei mittlerweile durch die EU als sicheres Herkunftsland eingestuft wurde, ist die Gefahr gross, wieder dorthin zurückgeschafft zu werden.”

Zu ihrer grossen Erleichterung wurde nach dem Ablauf der drei Monate ihrem Antrag auf Asyl in Griechenland zugestimmt, die zermürbende Ungewissheit hatte ein Ende. Mit viel Glück, da Ausweiskontrollen am Athener Flughafen nur stichprobenweise erfolgen, konnte sie nach Stockholm fliegen und sich dort bei ihrem Bruder während vier Wochen von den jahrelangen Strapazen ein klein wenig erholen. Dann zog es sie in die Schweiz, zu ihrer Schwester Ela und ihrem Schwager Amin, die sie vor sechs Jahren zum letzten Mal gesehen hatte, und zu ihren Neffen Baran und Aziz, die sie überhaupt noch nie gesehen hatte.

4. September, Mittwoch. Was für Glücksgefühle! Halime schäkert mit den beiden Buben, küsst sie auf die Ohren und auf die Nasen, drückt sie immer wieder ganz fest an sich, und immer wieder lacht sie mit Ela und Amin aus vollem Herzen, jedes Mal, wenn Amin, der Witzbold, wieder etwas Lustiges gesagt hat, wovon ich natürlich kein einziges Wort verstehe, aber es muss schon sehr, sehr lustig sein, denn auch die beiden Buben kugeln sich immer wieder vor Lachen. Was für eine Lebenskraft muss in dieser jungen Frau stecken, die während mindestens acht Jahren – über ihre Kindheit weiss ich ja erst recht noch rein gar nichts – so viel Schreckliches erlebt hat, so viele schlaflose Nächte vor Angst, so viele Verletzungen in ihrem Körper und in ihrer Seele, so viele Tage, an denen sie kaum etwas zu essen hatte, und alles andere, was noch so viel schlimmer gewesen sein muss, dass sie jetzt nicht einmal ihrer Schwester etwas davon erzählen möchte. Was für eine Lebenskraft dies allem zum Trotz, dass sie jetzt so herzhaft lachen und so liebevoll mit den beiden Buben umgehen kann, als hätte sie die glücklichste Kindheit gehabt, die man sich nur vorstellen kann.

5. September, Donnerstag. Nach dem glücklichen Wiedersehen nach so vielen Jahren hat uns auf einen Schlag die Realität knallhart wieder zu Boden geworfen. Denn Halime kann ja höchstwahrscheinlich nicht einfach hier in der Schweiz bei ihren Familienangehörigen bleiben, was verständlicherweise ihr allergrösster Traum wäre. “Dublin-Abkommen”, zischt wie ein greller Blitz durch meine Gedanken. Ein Wort, das so harmlos klingt. Aber konkret bedeutet es, dass Asylsuchende in dem Land bleiben müssen, in dem sie zum ersten Mal einen Schutzstatus bzw. eine Aufenthaltsbewilligung bekommen haben. Beantragen sie in einem anderen Land Asyl, wird aufgrund ihrer Fingerabdrücke mithilfe eines gesamteuropäischen Computersystems in Sekundenschnelle festgestellt, ob sie nicht schon in einem anderen Land einen positiven Asylentscheid haben. Wenn ja, können sie entweder freiwillig dorthin gehen oder werden dorthin ausgeschafft…

Griechenland ist, wie alle wissen, die sich nur einigermassen im europäischen Asylwesen auskennen, das mit Abstand berüchtigste Land. Jegliche finanzielle Unterstützung für Flüchtlinge endet im Moment der Statusgewährung automatisch. 30 Tage nach der Anerkennung des Schutzstatus verlieren die Betroffenen auch ihren bisherigen Unterbringungsplatz, wenn sie denn überhaupt einen hatten. Anschlusslösungen gibt es nicht. Die Schutzberechtigten müssen sich ohne staatliche Hilfe auf dem freien Wohnungsmarkt selber zurechtfinden. Erst wenn sie eine Wohnung haben, erhalten sie eine Sozialversicherungsnummer, welche sie zum Bezug einer knappstens bemessenen Überlebenshilfe berechtigt. Auch bei der Arbeitssuche sind sie voll und ganz auf sich selber gestellt. Und Zugang zur Gesundheitsversorgung erhalten sie ebenfalls erst nach dem Vorlegen zahlreicher Dokumente, über welche die meisten gar nicht verfügen. Aufgrund aller dieser kaum überwindbaren Hürden sind unzählige Flüchtlinge, auch wenn sie über einen offiziellen Schutzstatus verfügen, obdachlos, werden zu Opfern von Menschenhändlern oder landen in der Prostitution.

In der folgenden Nacht kann ich nicht schlafen. Unentwegt sehe ich Halime vor mir, wie sie am Flughafen von Athen ankommt, ohne Geld, mit einem kleinen Koffer und ihren paar wenigen Habseligkeiten, ohne die geringsten Kenntnisse der Landessprache, ohne auch nur einen einzigen Menschen, der ihr hilft. Ich sehe sie schon irgendwo in einer dunklen Strassenecke liegen, todmüde, hungrig, frierend, und wie ein bulliger Mann auf sie zukommt, sie packt, in sein Auto zerrt und später einem anderen bulligen Mann vor die Füsse wirft, der diese wunderschöne junge Frau, diese Blume mitten in der Nacht, zerreissen und in kurzer Zeit zu einem Wrack machen wird. Mir ist, als würde mir das Herz aus dem Leibe gerissen. Einen Moment lang denke ich, wenn ich jetzt nur sterben könnte, um dieses Bild nicht ertragen zu müssen.

Auch in den folgenden Tagen beschäftigt mich Halimes Schicksal so tief, dass ich mich kaum mehr auf die alltäglichen Dinge konzentrieren kann. Ich vergesse den Geburtstag eines lieben Freundes. Es klingelt an der Tür und da steht eine Bekannte, mit der ich abgemacht, es aber komplett vergessen hatte. Ich verwechsle die Wochentage. Plötzlich sehe ich eine Zeitung, die ich vor drei Tagen irgendwo hingelegt und noch gar nicht gelesen habe. Am Billettautomat löse ich ein Ticket, bezahle es, aber im Zug, als die Billettkontrolle kommt und ich mein Portemonnaie öffne, ist es leer – mein Ticket liegt wahrscheinlich jetzt noch in diesem Automaten…

7. September, Samstag. Heute ist Aziz zwei Jahre alt. Sie haben mir gesagt, ich solle oben im Büro warten, sie rufen mich dann, wenn es so weit ist. Und als ich dann kurz darauf gerufen werde und das Wohnzimmer betrete, verschlägt es mir fast den Atem. Meine Frau und ich hatten ja auch, als unsere eigenen Kinder noch klein waren, an Geburtstagen jeweils das Wohnzimmer festlich dekoriert. Aber so etwas habe ich noch nie gesehen. Die ganze Decke hängt voller Ballone, die Fenster sind mit Silberfäden behangen, mitten im Raum ragt ein über einen Meter hoher goldener Ballon in Form einer Zwei in die Höhe, auf dem Tisch glitzert Flitter und mehrere Schüsseln sind mit vielen kleinen, selber gebackenen Küchlein gefüllt. Und mittendrin Halime, in einem langen Festkleid voller Blumenmuster, das sie sich wahrscheinlich von Ela geliehen hat. Und wieder dieses wundervolle Lachen, das alles durchdringt und bis ganz tief in die Seele geht. Sie scheint diese wunderbare Gabe zu besitzen, wie ein Kind voll und ganz nur im Augenblick zu leben und alles, aber auch alles auszublenden, was vorher gewesen ist und was nachher sein wird. Ja, vielleicht ist sie ja noch immer dieses Kind ihrer allerersten Lebenszeit, weil ja alles andere, alles, was später kam, gar kein wirkliches Leben war oder nichts von dem, was man sich normalerweise darunter vorstellt.

Die nächste Nacht ist fast noch schlimmer. Jetzt sehe ich sie nicht nur an einem Strassenrand als Opfer eines Menschenhändlers irgendwo inmitten von Athen. Jetzt sehe ich sie gleichzeitig als ein vollkommenes, an Schönheit nicht zu übertreffendes Geschenk des Himmels. Sie könnte hier, bei uns, zusammen mit ihren Liebsten, ein Leben führen wie im Paradies. Und gleichzeitig könnte sie von einem stockbesoffenen Freier im Hinterhof einer griechischen Kneipe halb zu Tode geprügelt werden und wäre mitten in der Hölle.

Wenn es nach IHM ginge, wäre sie jetzt schon längstens dort. ER prangt seit ein paar Tagen auf riesigen Plakatwänden an allen Ecken und Enden unserer Stadt, auch direkt gegenüber unserem Haus. ER ist Kandidat der SVP bei den kommenden Wahlen in den Stadtrat. ER verbringt seine Freizeit am liebsten in einem Bunker. ER verspricht der Bevölkerung “Sicherheit”. ER rühmt sich, im Gegensatz zu vielen anderen noch ein richtiger, waschechter Schweizer zu sein. Wenn es nach IHM ginge, wäre kein einziger Flüchtling aus Afghanistan, aus Syrien, aus Äthiopien, aus Nigeria oder aus Eritrea hier in der Schweiz, auch nicht Baran und Aziz, und erst recht nicht Halime.

Und dann sehe ich sie auf einmal in ihrer ganzen Brutalität vor mir, einen neben dem andern: Halimes Mann, der sie zwei Jahre lang fast täglich blutig schlug. Die Grenzsoldaten, welche verzweifelt Flüchtenden alle Kleider vom Leibe reissen und mit Eisenstangen auf sie einschlagen. Den Besitzer jenes Kosmetiksalons, in dem Halime vier Jahre lange zu einem Hungerlohn schuftete, während er gleichzeitig immer reicher wurde. Den Luxustouristen aus Westeuropa, der sich in einer griechischen Wohlfühloase von einer schönen jungen Frau seinen Bauch massieren lässt, aber keinen Finger krümmen würde, wenn in seinem eigenen Land eine Initiative lanciert würde für die Einführung von Mindestlöhnen in schlechtbezahlten typischen Frauenberufen. Und ganz am Ende noch den Mann im Bunker, der von einer Schweiz ohne Ausländerinnen und Ausländer träumt und offensichtlich noch nie eine solche Geschichte gehört hat wie die von Halime, oder wenn, dann sein Herz so versteinert gewesen sein muss, dass er dabei nicht den geringsten Schmerz verspürte. Aber auch verspüre ich, ob ich will oder nicht, eine immer stärker werdende Wut auf alle, die in einem solchen Luxusland wie der Schweiz leben dürfen, so viel Zeit und so viel Energie, so viel Wissen und so viele Ressourcen zur Verfügung hätten, aber nichts Gescheiteres mit alledem anzufangen wissen, als drei Mal pro Jahr irgendwo möglichst weit fortzufliegen, das Leben in vollen Zügen zu “geniessen”, sich unter Palmen am Meer ihre Bäuche vollzuschlagen und den Rest der Zeit dafür zu verwenden, Bücher über erfundene Liebesgeschichten oder Kriminalfälle zu lesen. Während gleichzeitig ohne jede Hilfe Millionen von Menschen wie Halime täglich um ihr Überleben kämpfen müssen.

8. September, Sonntag. Das Wochenende war die reinste Tortur, weil wir untätig warten mussten. Manchmal lacht Halime in ihrer vollkommenen inneren und äusseren Schönheit durch das ganze Haus. Dann aber wieder sitzt sie irgendwo vor einem offenen Fenster und starrt mit tieftraurigem Blick ins Leere hinaus. Was wohl in diesen Augenblicken in ihr vorgeht? Das Beste an diesem Tag ist noch, dass ein plötzlicher heftiger Südwind das Plakat mit dem Bunkermann auf der anderen Seite der Strasse weggerissen und weit fort geblasen hat.

9. September, Montag. Endlich. Ich erreiche telefonisch die Auskunftsstelle des HEKS, Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz. Und innerhalb weniger Minuten fällt mir wohl der schwerste Stein vom Herzen, der jemals dort gelegen hatte. Als alleinstehende Frau, die schon in jungen Jahren so viel Gewalt erfahren musste und eine so unvorstellbare Leidensgeschichte hinter sich hat, ist die Chance gross, dass Halime, trotz des griechischen Schutzstatus, in der Schweiz eine F-Bewilligung für eine befristete Aufenthaltsbewilligung bekommen kann, die sich später in eine definitive Aufenthaltsbewilligung umwandeln lässt. Nach dem Telefonat muss ich minutenlang weinen vor Glück.

Als ich ihr die gute Nachricht überbringe, kann sie es im ersten Moment gar nicht glauben. Noch sieht sie wahrscheinlich in solchen Momenten, wenn sie alles immer wieder einholt, nur lauter riesige, schwarze Wände rund um sich. Wahrscheinlich genügt dann nur schon der winzigste Rest von Zweifel, um nicht allzu viel Hoffnung aufkommen zu lassen, die sich dann ohnehin wieder als reine Illusion entpuppen könnte. Mir wird bewusst, wie zerbrechlich diese Blume noch ist und wie viele gute Erlebnisse und Erfahrungen es noch brauchen wird, damit der Boden unter ihren Füssen allmählich wieder fester werden kann. Denn mindestens 18 Jahre lang zwischen der Kindheit und dem Ankommen im Erwachsenenalter, welches die schönste Zeit des Lebens hätte sein können, hat sie nur eines erfahren: Dass sie nicht willkommen ist, nicht im Hause ihres Mannes, nicht in dem Land, wo sie geboren wurde, nicht im Iran, nicht in der Türkei, nicht in Griechenland und nicht einmal in der Schweiz, wo jetzt wieder an allen Ecken und Enden diese Plakate hängen und aus allen Rohren gegen alles geschossen wird, was mit “Ausländischem” oder “Fremdem” zu tun hat. Das Einzige, was sie bis jetzt gehört hat: Geh fort, wir brauchen dich nicht, wir wollen dich nicht, für dich gibt es keinen Platz in dieser Welt.

15. September, Sonntag. Über Nacht ist es bitterkalt geworden, laut Wetterbericht der grösste Temperatursturz seit 30 Jahren. Heute werden wir eine Vorstellung in dem kleinen Zirkus besuchen, der wie durch einen glücklichen Zufall diese Woche in unserer Stadt gastiert. Auf dem Weg dorthin fällt mir auf, dass Halime trotz der Kälte nur ein dünnes Jäckchen trägt. Eine Winterjacke hat sie nicht. Wir werden so schnell wie möglich etwas besorgen müssen…

Und dann, der magische Moment, in dem Amin, Ela, Halime und die beiden Buben das Zirkuszelt betreten. Es ist das allererste Mal in ihrem Leben, dass sie einen Zirkus besuchen und in eine Welt eintauchen werden, von der sie bisher höchstens so viel mitbekommen haben wie von irgendeinem Märchen aus tausend und einer Nacht. Als wir in der Loge sitzen und es zuerst ganz dunkel wird, bis die Musik beginnt, von allen Seiten Scheinwerfer aufleuchten und die erste Akrobatin in ihrem Glitzerkleid die Manege betritt, beginnen für mich zwei Stunden, die ich ganz gewiss in meinem ganzen Leben nie mehr vergessen werde, so schön ist es, die Freude, die Begeisterung, das Lachen und die weit offenen, staunenden und strahlenden Augen von fünf Menschen mitzuerleben, die zum ersten Mal in ihrem Leben in einem richtigen Zirkus sind. Wenn jetzt eine Fee käme und ich könnte mir drei Dinge wünschen, dann würde ich mir drei Mal genau das Gleiche wünschen: Dass alles Geld, welches heute noch für Kreuzfahrtschiffe, Opernhäuser, Luxushotels, Weltraumraketen oder, noch viel, viel schlimmer, für Raketen, Bomben und Kampfflugzeuge verschleudert wird, dafür verwendet wird, dass es in jedem Land auf der Welt so viele und so schöne Zirkusse gibt, dass ein jedes Kind mit seinen Eltern, egal ob in Norwegen, Äthiopien, Neuseeland, Bangladesch oder Mexiko, das erleben dürfte, was Amin, Ela, Halime, Baran und Aziz an diesem Sonntagmorgen in unserer kleinen Stadt in dem kleinen Zirkuszelt erleben durften.

Morgen werden Ela und ich Halime ins Aufnahmezentrum für Asylsuchende begleiten. Zaco aus Pristina, der selber einmal ein Flüchtlingskind war und heute im Asylwesen tätig ist, hat uns noch ein paar wertvolle Tipps mit auf den Weg gegeben: Halime müsse offen über alles reden, was sie erlebt hat und auch vor Unangenehmem nicht zurückschrecken, denn genau das sei oft das Problem, dass sich Frauen für das schämen, was ihnen angetan wurde, lieber darüber schweigen und dann so in den Befragungen nicht die ganze Tragik ihrer Lebensgeschichte sichtbar wird. Weiters sollten wir unbedingt darauf drängen, dass in der Befragung durch Hilfswerke und Migrationsamt sowie vor allem beim Übersetzen vom Persischen ins Deutsche ausschliesslich Frauen diese Aufgaben wahrnehmen. Dies alles könnte entscheidend sein für einen positiven Asylentscheid. Die Verbindung zu Zaco hat mir Medina verschafft, eine langjährige gute Freundin, selber mit Migrationshintergrund, die mir schon von Beginn an, als Amin zum ersten Mal mein Haus betrat und Ela und die Kinder noch im Iran auf ihre Ausreisepapiere warteten, ihre bedingungslose Unterstützung angeboten hatte. Was für Sterne in so dunklen Zeiten.

Ein Bekannter meinte, das wäre ja alles gut und recht. Aber ob ich nicht auch schon daran gedacht hätte, dass Amin, Ela, Baran, Aziz und Halime ja nicht die Einzigen sind mit einer solchen Lebensgeschichte und man ja eigentlich allen helfen müsste und nicht nur ein paar wenigen “Glückspilzen”. Natürlich weiss ich das. Natürlich weiss ich, dass es weltweit Millionen von Amins und Halimes gibt, auf die jetzt gerade an irgendeiner Grenze Bluthunde gehetzt werden und denen tausendfach um die Ohren gebrüllt wird, dass sie nicht willkommen sind, weder hier noch dort noch anderswo. Aber das kann doch nicht Anlass dafür sein, dass ich mich nicht jetzt gerade mit aller Zeit und Energie, die mir zur Verfügung stehen, dafür einsetzen werde, dass Halime in der Schweiz bleiben kann, inmitten von Menschen, die sie gernhaben, und ihr Leben nicht in irgendeinem griechischen Strassengraben viel, viel zu früh enden muss.

Denn, wie es die deutsche Historikerin und Autorin Dagmar Fohl so wunderschön gesagt hat: “Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt.”

Wenn du wissen möchtest, wie diese Geschichte angefangen hat und wie sie weitergeht, dann schreibe doch bitte eine Email mit dem Stichwort “Afghanistan” an: info@petersutter.ch. Dann bekommst du die bisherigen und die zukünftig erscheinenden Artikel.