Der Kunde ist König: Als wäre es ein Menschenrecht, andere zu schikanieren und zu demütigen…

 

“Kampfzone Check-in” titelt der “Tagesanzeiger” am 14. Juli 2022 und beschreibt die zunehmend aggressive Atmosphäre in den Abflughallen der Flugplätze: Aufgebrachte Fluggäste brüllen herum, bedrohen und beleidigen Schalterangestellte, spucken das Personal an, klettern über die Abschrankungen zu den Schaltern, verfolgen Mitarbeitende am Schichtende auf dem Weg durch die Abflughallen. Die deutsche Gewerkschaft Verdi beklagt eine “drastische Zunahme der Gewalt gegen Beschäftigte”. Und eine Swissportangestellte meint, die Leute hätten immer höhere Ansprüche und hielten das Fliegen für eine Art Menschenrecht. Gleichzeitig würden die Kundinnen und Kunden immer unselbständiger. Früher hätten sie selber eine Lösung gesucht, wenn das Gepäck zu schwer war, heute müsse man ihnen fast noch beim Umpacken behilflich sein. Dass die Kundschaft immer höhere Ansprüche stellt, davon kann allerdings nicht nur das Bodenpersonal von Flugplätzen ein Lied singen. Ähnliche Geschichten könnten uns auch Hotelangestellte, Köche, Kellnerinnen, Coiffeusen, Paketboten, Ärztinnen, Floristinnen, Verkäuferinnen, Prostituierte und, nicht zuletzt, das Kabinenpersonal der Flugzeuge erzählen. Alles unter dem Motto “Der Kunde ist König”, wobei ich hier die weibliche Form bewusst weglasse, da eine Mehrzahl derer, die sich bedienen lassen, Männer sind, während eine Mehrheit derer, die andere bedienen, Frauen sind. Eine verkehrte Welt. Eigentlich müssten all jene, die eine Dienstleistung in Anspruch nehmen, dafür dankbar sein, dass es Menschen gibt, welche diese Dienstleistungen erbringen. Doch so oft ist das Gegenteil der Fall: Die Dienstleistung wird als etwas Selbstverständliches angeschaut und man ist sich nicht zu schade, auf denen, welche die Dienstleistung erbringen, herumzuhacken, sie zu schikanieren oder an den Pranger zu stellen, zum Beispiel mittels von schon weit verbreiteten Bewertungsformularen im Internet. Kein Wunder, nimmt die Zahl der Menschen, die eine Dienstleistung erbringen, in gleichem Masse ab, wie die Zahl jener, die von Dienstleistungen anderer profitieren, im gleichen Zeitraum zunimmt. Wodurch auf den verbliebenen, weniger zahlreichen Dienstleistenden noch mehr Druck lastet und sich ihre Situation zusätzlich verschlimmert – ein Teufelskreis. Doch nicht nur der Slogan, dass der Kunde König sei, ist tief in unsere Köpfe eingebrannt. Sondern auch die Vorstellung, dass Menschen, welche eine Dienstleistung erbringen, nicht nur weniger Wertschätzung, sondern auch weniger Lohn bekommen sollen als jene, die Dienstleistungen anderer in Anspruch nehmen. Daran hat sich seit dem Zeitalter des Sklavenhandels nicht grundsätzlich etwas geändert: So selbstverständlich es war, dass afrikanische Sklavinnen und Sklaven auf den Plantagen, in den Bergwerken und in den Haushalten amerikanischer Kolonisten Schwerstarbeit zu verrichten hatten, ohne dafür auch nur einen Cent Lohn zu bekommen, so selbstverständlich lässt sich der gutbetuchte Börsenmakler im Luxusrestaurant von einer Kellnerin bedienen, welche sich in ihrem ganzen Leben nicht ein einziges Mal ein Essen in diesem Restaurant leisten könnte. So selbstverständlich bewohnt die Lehrerfamilie ein Einfamilienhaus, das von Arbeitern gebaut wurde, die sich nie in ihrem ganzen Leben ein solches Haus leisten könnten. Und so selbstverständlich lässt sich die vermögende Achtzigjährige in der Privatklinik von einer Krankenpflegerin umsorgen, welche, wenn sie dereinst ebenfalls pflegebedürftig werden sollte, einen Platz in dieser Privatklinik niemals bezahlen könnte. So pflanzen sich Denkmuster und Abhängigkeiten über Jahrhunderte fort, die stets von Neuem das Absurde zum “Normalen” werden lassen und selbst dem gröbsten Flugpassagier, dem pingeligsten Restaurantbesucher, dem kleinlichsten Hotelgast und der anspruchsvollsten Kundin im Blumenladen immer noch das Gefühl geben, im Recht zu sein, wenn sie an allen Ecken und Enden etwas auszusetzen haben. Wie heilsam wäre es doch, wenn jene, die sich gewohnt sind, sich bedienen zu lassen, von Zeit zu Zeit in die Rolle der Dienenden schlüpfen würden und umgekehrt. Wetten, dass sich in sehr kurzer Zeit sehr vieles ändern würde…