Nicht gegen die Politikerinnen und Politiker müssen wir ankämpfen, sondern gegen das kapitalistische Machtsystem

 

Vor drei Jahren, so berichtet die deutsche “Tagesschau” am 15. Juli 2022, sind während laufender Plenarsitzungen im deutschen Bundestag zwei Abgeordnete zusammengebrochen. Seither werde vermehrt über die ausserordentliche Belastung, der Politiker und Politikerinnen ausgesetzt sind, diskutiert: überlange Sitzungen, nicht selten bis zwei Uhr nachts, öffentliche Präsenz rund um die Uhr und selbst am Wochenende, Angriffe und Kritik von allen Seiten, insbesondere auch durch die Medien, bei denen ein zunehmend rauerer Ton festzustellen sei, Krisen, die in immer schnellerem Tempo und gehäufter aufeinander folgen. Vor allem belastend sei, dass man als Politikerin und Politiker ständig unter Beobachtung stehe, nicht nur durch Zeitungen und Fernsehen, sondern vor allem auch durch die sozialen Medien, wo gegen einzelne Politiker und Politikerinnen immer wieder verheerende “Shitstorms” ausgelöst werden, meist verbunden mit der Forderung, diesen Politiker oder jene Politikerin ihres Amtes zu entheben. “Wenn man den Zustand unserer Gesellschaft ansieht”, so war kürzlich in einem Twitter-Kommentar zu lesen, “dann zeugt es schon von grossem Mut, dass sich CDU-Politiker überhaupt noch an die Öffentlichkeit trauen.” Bei alledem geht vergessen, dass Politikerinnen und Politiker ja nicht kleine Königinnen und Könige sind, welche ihre Macht missbrauchen und deshalb mit allen Mitteln bekämpft werden müssen. Tatsächlich ist es das kapitalistische Wirtschaftssystem, das an allen Ecken und Enden seine Herrschaft auf uns ausübt. Und auch die fähigsten Politikerinnen und Politiker sind nichts anderes als Marionetten in den Händen des kapitalistischen Machtsystems – so lange sie nicht aus dem Hamsterrad aussteigen, in dem wir, ob Politiker oder Nichtpolitikerinnen, gemeinsam gefangen sind. Während wir das Ganze immer noch als “Demokratie” bezeichnen, leben wir in Tat und Wahrheit doch in einer Scheindemokratie, in der sich die einzelnen Politikerinnen und Politiker nur geringfügig voneinander unterscheiden, alle fest im Boden des kapitalistischen Wertesystems verankert sind und die verschiedenen Parteien somit letztlich nichts anderes sind als Fraktionen einer grossen kapitalistischen Einheitspartei. Dies in einem System, wo die “neuen” Politikerinnen und Politiker stets in die Fussstapfen der alten treten und sich daher auch im Grossen garantiert nichts verändert. So sind die Politiker und Politikerinnen sozusagen permanent eingeklemmt zwischen den Forderungen des Kapitals und den Forderungen der Menschen. Gegen Politikerinnen und Politiker zu schiessen, sie öffentlich blosszustellen, ja zu ihrer Abwahl aufzurufen, greift daher um ein Vielfaches zu kurz. Statt gegen Politikerinnen und Politiker anzukämpfen, müssten wir, gemeinsam mit ihnen, gegen das kapitalistische Machtsystem ankämpfen, welches einzig und allein dafür verantwortlich ist, dass die Unterschiede zwischen Arm und Reich immer grösser werden, so viele Menschen ausgebeutet und mit Hungerslöhnen abgespeist werden, soziale Sicherheiten immer mehr unter Druck geraten, Natur, Umwelt und Klima fahrlässig bedroht und überlastet werden in einer Weise, welche die Chance auf ein gutes Leben für zukünftige Generationen immer weiter schmälert, und Kriege im Dienste kapitalistisch-imperialistischer Grossmachtpolitik auch heute noch möglich sind. “Divide et impera!” – so lautet die Devise, mit der sich das Römische Reich vor zweitausend Jahren an der Macht hielt: Teile und herrsche! Je zerstrittener die einzelnen von Rom beherrschten Gebiete waren, umso unangefochtener die Herrschaft des Imperiums. Genau so ist es mit dem Kapitalismus, der seine Herrschaft über uns alle umso uneingeschränkter ausüben kann, je mehr sich die Menschen, Interessensgruppierungen, Parteien, Politiker und Politikerinnen, die im Kapitalismus leben, gegenseitig das Leben schwer machen. Um dies zu ändern, bräuchte es eine radikale Gegenstrategie: Nicht mehr gegeneinander, sondern miteinander sollten die Menschen Partei ergreifen gegen ein System, das uns letztlich alle krank macht, die bis an die Grenze körperlicher Belastbarkeit ausgebeuteten Bauarbeiter und Krankenpflegerinnen ebenso wie die Lehrerinnen und Lehrer, die ständig wachsendem Erwartungsdruck seitens der Eltern ihrer Schülerinnen und Schüler ausgesetzt sind, die Landarbeiter, deren Rücken vor lauter schwerer Arbeit fast zerbrechen, ebenso wie die Studierenden, die mit unnötigem Wissensballast vollgestopft werden, die Bus- und LKW-Fahrer, die ständig am Limit arbeiten und trotzdem nicht einmal einen anständigen Lohn bekommen, ebenso wie die überforderten Politikerinnen und Politiker. Sie alle müssten gemeinsam gegen dieses System, das in immer kürzerer Zeit eine immer höhere Leistung fordert und gleichzeitig immer mehr Menschen an den Rand drängt, aufstehen und sich für den Aufbau eines neuen, nichtkapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem einsetzen, in dem soziale Gerechtigkeit, das Ende aller Ausbeutung, der Frieden mit der Natur, das Ende aller Kriege und das gute Leben für alle Menschen über alle Grenzen hinweg Wirklichkeit geworden wären. Denn, wie es schon der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: “Was alle angeht, können nur alle lösen.”