Miguel und die Deutschprüfung zum Thema “Nomen”: Wenn Steine, statt sie wegzuräumen, mitten in den Weg des Lernens gelegt werden…

Der elfjährige Miguel ist vor drei Jahren mit seiner Familie aus Mexiko in die Schweiz gekommen. Jetzt ist er in der fünften Klasse. Morgen steht eine Deutschprüfung zum Thema “Nomen” an. Wir schauen uns die Lernziele an. Er ist voller Eifer, möchte unbedingt eine gute Note machen. Akribisch notiert er sich die Tipps, die ich ihm gebe, alles in Spanisch, damit er es sich besser einprägen kann.

Eines der Lernziele lautet: Nomen mit dem richtigen Artikel versehen. Also: Was ist korrekt, “der Ball” oder “das Ball”? Miguel fragt mich, ob es dafür eine Regel gäbe. Leider nicht, sage ich, man muss das bei jedem Wort wieder neu lernen. Es gibt keinen logischen Zusammenhang. Es ist leider auch nicht so, dass es in jeder Sprache gleich ist, im Spanischen ist es “la pelota”, also weiblich, im Deutschen “der Ball”, also männlich. Wie dumm, meint Miguel, warum haben die das nicht miteinander abgemacht, als sie die Sprachen erfunden haben, es wäre doch so viel einfacher. Enttäuscht notiert er in sein Heft “ninguna regla” – keine Regel. Zweifellos wird er in diesem Teil der Prüfung keine hohe Punktzahl erreichen. Schlicht und einfach deshalb, weil er im Vergleich zu seinen Mitschülerinnen und Mitschülern mit deutscher Muttersprache alle diese Artikel noch viel zu wenig oft gehört hat, um diese sozusagen “automatisiert” zu haben.

Ein weiteres Lernziel lautet, in einem Text, in dem alle Wörter mit Grossbuchstaben geschrieben sind, die Nomen zu erkennen und diese zu unterstreichen. Eine seltsame Aufgabe, denn normalerweise werden ja in einem Text nie alle Wörter mit Grossbuchstaben geschrieben. Miguel ist offensichtlich verwirrt. Wir lesen eine Beispielübung zu diesem Lernziel und ich stelle fest, dass er – völlig verständlich – die Bedeutung etwa der Hälfte der Wörter gar nicht kennt. Da kommen Wörter vor wie “nacheifern”, “unterstellen” oder “aufgeben”, die Miguel noch nie gehört hat. Wie soll er nun in einem Text die Nomen erkennen können, wenn er so viele Wörter nicht einmal versteht? Es nützt auch nichts, wenn ich ihm die Bedeutung dieser Wörter erkläre, denn in der Prüfung werden wieder ganz andere Wörter vorkommen, die Miguel ebenfalls noch nie gehört hat. Ich erkläre ihm dann, dass man Nomen dadurch erkennt, dass man sie mit einem Artikel versehen kann. Das probiert er sogleich aus und es funktioniert tatsächlich. Weil er aber die Sätze in ihrem Gesamtzusammenhang nicht erkennt und intuitiv merkt, welches die Nomen sind, muss er nun diese Regel bei jedem einzelnen Wort ausprobieren, was äusserst zweitaufwendig ist. Wenn er das in der Prüfung so machen will, dann wird er für diese einzige Aufgabe vermutlich so viel Zeit brauchen, dass ihm für die restlichen Aufgaben kaum mehr viel Zeit zur Verfügung stehen wird.

Ein drittes Lernziel lautet, aus Adjektiven oder Verben durch Anhängen eines entsprechenden Suffixes ein Nomen zu bilden, also zum Beispiel aus “nachhaltig” die “Nachhaltigkeit”, oder aus “üben” die “Übung”. Wieder fragt mich Miguel nach einer Regel. Und wieder muss ich ihn enttäuschen. Es gibt keinen logischen Grund, weshalb es “Nachhaltigkeit” heisst und nicht “Nachhaltigung”, warum “Übertreibung” und nicht “Übertreibigkeit”. Man muss die Wörter einfach genug oft gehört haben, es muss einfach genug tief ins Ohr bzw. ins Unbewusste eingedrungen sein, anders kann es sich nicht im Gedächtnis festhalten, ganz abgesehen davon, dass Miguel ja nicht einmal weiss, was “nachhaltig” bedeutet und es eigentlich völlig absurd ist, wenn er nur Nomen aus Wörtern bilden soll, die für ihn überhaupt keinen Sinn machen. Wieder notiert er in sein Heft “ninguna regla” und ahnt wahrscheinlich bereits, dass er auch in diesem Teil der Prüfung nicht sehr viele Punkte erreichen wird.

Die weiteren Lernziele sind ähnlich. Wenn es keine muttersprachliche, über viele Jahre schon ab der Geburt nach und nach gewachsene Verankerung im Sprachgedächtnis gibt, kann Miguel noch so viele Regeln auswendig lernen, sich noch so sehr anstrengen – immer wird er hoffnungslos im Nachteil sein gegenüber seinen Mitschülerinnen und Mitschülern deutscher Muttersprache. Nicht weil er weniger “gescheit” wäre, nicht weil er weniger “sprachbegabt” wäre, nicht weil er ein schlechteres Gedächtnis hätte, sondern schlicht und einfach deshalb, weil das Deutsche nicht seine Muttersprache ist, die er schon als Baby sozusagen mit der Muttermilch in sich aufgesogen hat. Fazit: Man kann Miguel deshalb gar nicht mit seinen Mitschülerinnen und Mitschülern vergleichen, ebenso wenig, wie man eine Schnecke mit einem Hasen, ein Gänseblümchen mit einer Rose, Äpfel mit Birnen vergleichen kann.

Und doch tut man es. Miguel muss exakt die gleiche Prüfung absolvieren wie alle seine Mitschülerinnen und Mitschüler deutscher Muttersprache. Wozu? Weshalb? Und mit welchen Folgen? Mit Lernförderung hat dies nicht das Geringste zu tun. Lernförderung wäre, Miguel bei seiner individuellen Sprachentwicklung – bei der er im Übrigen innerhalb der drei Jahre, die er bisher in der Schweiz gelebt hat, schon unglaubliche Fortschritte gemacht hat – gezielt zu unterstützen, ihm dabei ganz viele positive Erlebnisse und Gefühle zu vermitteln, ihn dabei immer mehr zu stärken und ihm das Gefühl zu vermitteln, ein unglaublich begabter, intelligenter Mensch zu sein, denn das ist er zweifellos. Aber diese Deutschprüfung zum Thema “Nomen”, mit der er morgen konfrontiert sein wird, wird genau das Gegenteil bewirken. Es wird zweifellos für ihn, der doch so gerne eine gute Note schaffen würde, eine riesige Enttäuschung sein, es wird an seinem Selbstvertrauen nagen und er wird sich vielleicht sogar im schlimmsten Fall die Frage stellen, ob er vielleicht tatsächlich ein bisschen dümmer ist als Röbi, Marianne und Christine, die mit ihren Fünfeinhalbern und Sechsern erhobenen Hauptes nach Hause gehen und von ihren Eltern beglückwünscht werden, während Miguels Papa und Mama die Stirn runzeln und vielleicht nicht einmal so richtig verstehen können, weshalb Miguel keine bessere Note hätte schaffen können, auch wenn er sich noch so sehr angestrengt hätte.

Wie absurd. Lehrkräfte beklagen sich über mangelnde Deutschkenntnisse “fremdsprachiger” Kinder. Aber sie tun alles, damit es nur noch schlimmer wird. Denn Prüfungen wie diese haben nicht den geringsten Lerneffekt, sie zerstören bloss bereits Vorhandenes. Es ist im Grunde doch völlig zweitrangig, ob es korrekt “der Ball”, “die Ball” oder “das Ball” heisst. Es spielt im wirklichen Leben auch nicht die geringste Rolle, ob man das Wort “Ball” mit einem kleinen oder grossen Anfangsbuchstaben schreibt. Zu 99 Prozent ist das Wesentliche, dass Miguel weiss, was ein “Ball” ist. Wenn er beim Spielen seinen Ball nicht mehr findet, dann zählt, wenn er das Nachbarkind fragt, ob es ihn irgendwo gesehen habe, einzig und allein, dass er dieses Wort kennt und verwenden kann, alles andere, die grammatikalische “Perfektion”, ist völlig nebensächlich – wie es auch überhaupt nicht wesentlich ist, ob man “ich bin gesessen” oder “ich bin gesitzt” sagt, das Entscheidende ist doch einzig und allein, dass mein Gesprächspartner versteht, was für eine Botschaft ich ihm übermitteln will – die Perfektion kommt mit der Zeit ganz von selber, so wie wir das beim natürlichen Lernen der ersten Lebensjahre beobachten können: Auch im Alter von vier oder fünf Jahren sagen viele Kinder noch “Ich bin gesitzt” – ein oder zwei Jahre später sagt ein jedes von ihnen “ich bin gesessen”, ohne dass hierfür irgendein von aussen vorgeschriebenes “Lernziel”, eine Prüfung oder eine Note nötig gewesen wäre, sondern nur ganz einfach dadurch, dass das Kind genug oft das “Richtige” gehört und sich dieses Richtige dadurch früher oder später “automatisiert” hat. Und genau so lernt auch Miguel. Auch er wird eines Tages wissen, dass der Ball “männlich” ist und die Zitrone “weiblich” und man nicht “Nachhaltigung” sagt, sondern “Nachhaltigkeit”. Aber hierfür bräuchte es rein gar nichts in der Art wie die Deutschprüfung, die er morgen absolvieren muss und die ihm heute schon so viel Bauchweh bereitet.

Die Schule schafft es, diesem einen Prozent Unwesentlichen gegenüber dem 99 Prozent Wesentlichen unvergleichlich viel zu viel Gewicht zu geben und damit den lernenden Kindern unnötig viel zu viele Steine in den Weg zu legen, über die sie stolpern können, statt alle diese Steine möglichst aus dem Weg zu räumen und die Flügel der Kinder, egal woher sie kommen und egal, welche Lernerfahrungen sie schon gesammelt haben, auf dem Weg ihres Lernens immer mehr zu stärken. Denn die brutale Folge ist, dass Miguel wegen der schlechten Note in der “Nomenprüfung”, die fast zwangsläufig auf ihn zukommen wird, mehr oder weniger viel von seinem Selbstvertrauen verlieren wird, sein Verhältnis zur Sprache dadurch auch mehr und mehr negativ belastet werden könnte, er auch in einer weiteren Prüfung vermutlich wieder scheitern wird und die Konsequenz von alledem darin besteht, dass er irgendwann als Schüler mit “schwachen” sprachlichen Leistungen taxiert wird und ihm deshalb dann zahlreiche zukünftige Lern-, Entwicklungs- und Bildungswege verwehrt bleiben werden, die für andere ganz selbstverständlich sind. Nicht weil er weniger intelligent, weniger ehrgeizig, fleissig und wissbegierig wäre, sondern einzig und allein deshalb, weil er das “Pech” hatte, erst im Alter von acht Jahren in jenes “Sprachbad” eintauchen zu können, in dem sich alle anderen schon acht Jahre lang bewegt hatten. So absurde und lernfeindliche Dinge wie eine Deutschprüfung, bei der Kinder wie Miguel resigniert zum Schluss gelangen müssen, dass es leider “ninguna regla” gibt, müssten für immer der Vergangenheit angehören…

(Nachtrag am 5. September 2024. Mein Brief an die Deutschlehrerin von Miguel: “Er hat sich voller Eifer auf diesen Test vorbereitet, er wollte unbedingt eine gute Note machen. Aber beim Üben wurde mir bewusst, dass dies für ihn, da ja Deutsch nicht seine Muttersprache ist, nahezu unmöglich ist. Er kennt einfach noch nicht die korrekten Artikel bzw. das Geschlecht der Nomen. Kann er auch nicht, weil es ja hierfür keine logischen Regeln gibt und er einfach, im Gegensatz zu seinen Mitschülerinnen und Mitschüler mit deutscher Muttersprache, dies noch nicht „im Ohr“ hat, noch nicht verinnerlicht hat, es noch nicht in seinem Gedächtnis verankert und in seinem Unterbewusstsein angekommen ist. Er könnte stundenlang üben, aber es würde nicht viel nützen. Das Gleiche, wenn er in einem Text, in dem alle Wörter mit Grossbuchstaben geschrieben sind, die Nomen erkennen soll. Wenn er etwa die Hälfte der Wörter gar nicht versteht und deshalb auch keinen Sinnzusammenhang hat, kann er, wiederum im Gegensatz zu seinen deutschsprachigen Mitschülerinnen und Mitschülern, nicht intuitiv erfassen, welches die Nomen sein könnten, also muss er bei jedem einzelnen Wort ausprobieren, ob man ihm einen Artikel voranstellen könnte oder nicht. Das braucht aber so viel Zeit, dass ihm dann wahrscheinlich viel zu wenig Zeit bleibt, um auch noch die übrigen Aufgaben zu bewältigen. Auch herauszufinden, wie man aus Adjektiven Nomen bilden kann, ist für ein Kind, dessen Muttersprache nicht Deutsch ist, extrem anspruchsvoll. Wenn er nicht einmal die Bedeutung des Wortes „nachhaltig“ kennt, wie soll er dann wissen, dass das zugehörige Nomen „Nachhaltigkeit“ heisst? Es könnte ja ebenso gut „Nachhaltigung“ lauten, er verfügt deshalb über keine Regel, auf die er sich abstützen kann. Bei allen Aufgaben des Tests ist das fremdsprachige Kind zum Vornherein überfordert und gegenüber den deutschsprachigen Mitschülerinnen und Mitschülern krass benachteiligt. Und so kam es, wie ich erwartet hatte: Trotz fleissigem Üben und seinem starken Willen und Ehrgeiz schaffte er nur eine 3,5, die – wie er mir sagte – viertschlechteste Note der Klasse, und war entsprechend enttäuscht. Ich habe mir dann überlegt, ob man nicht für diese Kinder einen separaten Test machen könnte, in dem sie zeigen können, was sie schon alles können und gelernt haben, und nicht damit konfrontiert werden, was sie noch nicht können und noch nicht lernen konnten. Folgende Testaufgaben könnte ich mir für anderssprachige Kinder vorstellen: Sie sollen zu vorgegebenen Nomen ein passendes Adjektiv setzen, also zum Beispiel zu „Ball“ das Adjektiv „rund“ oder zu „Haus“ das Adjektiv „hoch“. Eine andere Aufgabe könnte sein, dass sie 10 Nomen bekommen, die sie in einem Lückentext an der richtigen Stelle einsetzen müssten. Oder Sätze mit korrekten Aussagen (z.B. Viele Flüsse fliessen ins Meer) von Sätzen mit falschen Aussagen (z.B. Kieselsteine sind grösser als Berge) unterscheiden, immer mit einem ihren Möglichkeiten angepassten Wortschatz. Oder von 5 Nomen (z.B. Rose – Apfelbaum – Igel – Löwenzahn – Gras) herausfinden, welches von ihnen nicht zu den anderen vier passt. Wahrscheinlich würden sie auch dann nicht alles korrekt lösen können, aber mindestens hätten sie eine echte Chance auf eine gute Note, und das würde ihr Selbstvertrauen stärken, welches ja die wichtigste Voraussetzung ist für erfolgreiches Lernen. Mir ist völlig klar, dass es eine grosse Herausforderung für die Lehrkräfte wäre, für anderssprachige Kinder andere Prüfungen zu machen. Aber ich denke, es würde sich lohnen. Um das Selbstvertrauen dieser Kinder zu fördern, sie auf ihrem individuellen Weg des Lernens, auf dem sie nun einmal unmöglich gleich weit sein können wie ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, welche in die deutsche Sprache von klein auf hineinwachsen konnten, zu unterstützen und zu begleiten, damit sie auf ihrem „Leiterchen“ ebenso erfolgreich in die Höhe klettern wie die anderen auf ihren „Leiterchen“. Es versteht sich von selber, dass Sie allein als einzelne Lehrerin diese Herausforderung nicht stemmen können. Aber es wäre vielleicht ein Thema im Lehrerkollegium oder anlässlich einer Weiterbildung.”)