“Neue Autorität”: Ein neuer Begriff geistert durch die pädagogische Landschaft – doch was steckt dahinter?

Voll des Lobes ist Thomas Minder, Präsident des Verbands der schweizerischen Schulleiterinnen und Schulleiter, in einem im Elternmagazin “Fritz und Fränzi” vom 17. April 2024 veröffentlichten Artikel über die sogenannte “Neue Autorität”, mit der sich, wie es der Titel des Artikels besagt, Eltern, Lehrkräfte und ganz allgemein Erziehungspersonen wieder “Respekt” verschaffen können, ohne sich deswegen dem Vorwurf ausgesetzt zu sehen, “autoritär” zu sein. Die “Neue Autorität” ist ein pädagogisches Konzept, das in den 1980er Jahren vom israelischen Psychologen Haim Omer entwickelt wurde und sich seither in der pädagogischen Fachwelt und bei zahlreichen Erziehungspersonen grosser Beliebtheit erfreut. Ein Konzept, auf das wohl all jene, die schon seit Jahren bedauern, Erwachsene verfügten, im Gegensatz zu früher, nicht mehr über genügend Wirksamkeit, um sich gegen rebellische, widerspenstige oder sonstwie “schwierige” Kinder und Jugendliche durchzusetzen, lange schon sehnlichst gewartet hatten. Doch je näher man sich mit den Hintergründen dieser Theorie auseinandersetzt, umso erstaunter muss man feststellen, dass sich dahinter uralte, längst überholte Muster im Umgang von Erwachsenen mit Kindern und Jugendlichen verbergen und bloss, in ein “modernes” Kleid verpackt, dadurch etwas harmloser erscheinen sollen. Alter Wein in neuen Schläuchen…

“Oft ist zu hören, dass Kinder den Erwachsenen nicht den nötigen Respekt zollen”, so ist im ersten Abschnitt des Artikels zu lesen. Und damit ist von Anfang an schon die falsche Spur gelegt und man wird wieder gedanklich in frühere, angeblich bessere Zeiten zurück katapultiert, als die Welt eben noch in “Ordnung” war und Erwachsene über genügend Respekt verfügten, um ihre Vorstellungen von Moral und “richtigem” Verhalten bei ihren Kindern bzw. Schülerinnen und Schülern durchzusetzen. Doch müsste es eigentlich schon längst allgemeines Gedankengut sein, dass man so etwas wie Respekt nur erwarten darf, wenn man ihn gegenüber anderen ebenso konsequent an den Tag legt. Respekt darf nie etwas Einseitiges sein, und schon gar nicht so etwas wie ein “Recht”, über das ältere Menschen gegenüber jüngeren verfügen, bloss weil sie älter sind. Es gibt keinen einsichtigen Grund dafür, dass Erwachsene Kindern und Jugendlichen nicht genau den gleichen Respekt entgegen bringen sollten, den sie auch von diesen gegenüber ihnen erwarten. Im Gegenteil: Etwas glaubwürdig vertreten kann man nur, wenn man es mit dem eigenen Beispiel vorlebt. Nicht nur Kinder und Jugendliche können von Erwachsenen etwas lernen, genau so vieles und genau so Wichtiges können auch Erwachsene von Kindern und Jugendlichen lernen. Wo immer der Altersunterschied zwischen Kindern und Erwachsenen dazu missbraucht wird, dass die einen über die anderen Macht ausüben, dadurch besondere Privilegien geniessen und im Zweifelsfall immer Recht haben, ist es eine Verletzung elementarer Menschenrechte. Nähme man das ernst, müsste kein Mensch mehr von “neuer Autorität” sprechen, man könnte sich diesen ganzen Artikel ersparen und auch die gesamte dahinter steckende Theorie.

“Man kann nur auf Menschen einwirken”, so ist im Weiteren zu lesen, “mit denen man eine Beziehung pflegt.” Darum sei es so schwierig, einer unbekannten Person, die sich im öffentlichen Raum nicht gebührend verhält, zu sagen, sie solle mit dem störenden Verhalten aufhören: “Folglich müssen wir in den Schulen stetig an der Beziehung zu unseren Schützlingen arbeiten.” Wieder wird unhinterfragt davon ausgegangen, “nicht gebührendes und störendes Verhalten” sei ausschliesslich den jüngeren Menschen, in diesem Falle den Schülerinnen und Schülern, zuzuschreiben, und es sei deshalb ausschliesslich die Pflicht der Erwachsenen bzw. der Lehrpersonen, gegen solches “Fehlverhalten” einzuschreiten. Kein Wort davon, dass auch Erwachsene und selbst Lehrpersonen durchaus in gewissen Situationen “ungebührendes und störendes” Verhalten an den Tag legen können, und zwar immer dann, wenn sie die Kinder und Jugendlichen nicht respektvoll behandeln bzw. ihre Privilegien als sozusagen öffentliche “Erziehungspersonen” in Form von Zurechtweisungen, Moralisieren oder gar irgendwelchen Strafmassnahmen missbrauchen. Und ebenfalls kein Wort davon, dass die sogenannte “Widerspenstigkeit” oder das sogenannte “Fehlverhalten” von Kindern und Jugendlichen meist nichts anderes ist als eine natürliche Reaktion auf Bevormundung, Fremdbestimmung oder Machtdemonstration seitens der Erwachsenen, gegen die sich die jungen Menschen gar nicht anders wehren können als durch “Frechheit” oder “Ungehorsam”. Trügerisch ist auch die Verknüpfung mit dem Begriff der “Beziehung”. Persönliche “Beziehung” soll also dazu dienen, dem jungen Menschen das “richtige” Verhalten beizubringen. Dabei beruhen echte menschliche Beziehungen stets auf Gegenseitigkeit und schliessen das Durchsetzen von Machtinteressen der einen gegen die andere Seite zum Vornherein aus. Ins Auge sticht auch das Wort “Schützling”, das man früher meist im Zusammenhang mit “Mündel” und “Schutzbefohlenen” verwendete und damit meinte, einzig die für sie verantwortliche Erziehungs- bzw. Autoritätsperson wisse, was für diese gut sei und was nicht.

Einen wichtigen Teil der Zielsetzungen der “Neuen Autorität” bildet die Forderung nach dem Aufbau von Netzwerken, in denen sich Lehrpersonen und Eltern verbinden und gegenseitig unterstützen sollten, um geeint auftreten und die “notwendigen Veränderungen so lange einfordern zu können, bis die Veränderung eintritt”, denn als “Einzelperson” sei man meistens überfordert. “Ein starkes Team”, so Minder, “ist hilfreich, die gemeinsame Haltung und die verbindenden Werte sind ein starkes Signal, das nach aussen wirkt, uns als Lehrerteam aber auch intern stärkt.” Kein Wort davon, dass eigentlich vor allem auch die Kinder und Jugendlichen auf Netzwerke und gegenseitige Unterstützung angewiesen wären, da ja gerade sie als “Einzelpersonen” möglichem Machtmissbrauch seitens von Erwachsenen in hohem Masse schutzlos ausgeliefert sind – man denke nur an die immer noch in vielen Schulen weit verbreiteten, oft völlig überrissenen Strafmassnahmen nur schon wegen geringster “Vergehen”, an das totale Ausgeliefertsein der Kinder und Jugendlichen an ausschliesslich von Erwachsenen vorgegebene Lehrpläne und schulische Inhalte oder, als besonders krasses Beispiel, an den schon fast als “normal” akzeptierten Machtmissbrauch seitens von Trainerinnen und Trainern im Spitzensport. Nicht nur im Zusammenhang mit der “Neuen Autorität”, sondern ganz allgemein ist gerade aus Lehrerteams immer wieder zu hören, es sei wünschbar, dass “alle am gleichen Strick ziehen.” Wenn man sich das dann aber konkret vorstellt, gibt das kein schönes Bild. Denn der “Strick”, an dem Lehr- und Erziehungspersonen gemeinsam ziehen, wird nicht selten zu einem Strick, dessen anderes Ende sich um den Hals der Kinder legt, und je fester das “Erziehungsteam” daran zieht, desto grösser ist die Gefahr, dass die Kinder dadurch in ihrer Gedanken- und Bewegungsfreiheit unnötig eingeschränkt werden. Ganz abgesehen davon, dass ein Lehrerteam, bei dem alle gleich denken und handeln, nicht gerade das adäquate Abbild einer demokratischen Gesellschaft ist, in der es nun mal ganz unterschiedliche, sich gelegentlich auch gegenseitig widersprechende Ansichten über Erziehung, Moral und Wertesysteme gibt, die man nicht unterdrücken oder gar ausschliessen, sondern vielmehr in einen gemeinsamen fruchtbaren Dialog bringen sollte.

Geradezu zynisch wird es, wenn sich die “Neue Autorität” auf den sogenannten “gewaltfreien Widerstand” und dessen berühmtesten Repräsentanten, nämlich Mahatma Gandhi, beruft. Es braucht schon ein ungeheures Mass an Geschichtsblindheit, den “Kampf” von Erziehungspersonen für das moralische “Wohlverhalten” von Kindern und Jugendlichen auch nur im Entferntesten mit dem Kampf Gandhis gegen die britische Kolonialherrschaft zu vergleichen. Als wären Kinder und Jugendliche Inbegriffe des Bösen oder geradezu Monster, die man nicht anders bezwingen kann als durch beharrliche “Befehlsverweigerung” und zivilen Ungehorsam oder, wie es im vorliegenden Artikel von Thomas Minder auf den Punkt gebracht wird: “Wir geben nicht auf, wir sind da und gehen nicht weg, selbst dann nicht, wenn es schwierig wird.” Auf diese Weise wird die Realität nicht nur ausgeblendet, sondern geradezu in ihr Gegenteil verkehrt: Der “passive Widerstand” von Lehrpersonen gegenüber Kindern dient ja nicht dazu, bestehende Machtverhältnisse zu beseitigen, sondern, im Gegenteil, dazu, sie zu verfestigen, zu zementieren und obendrein zu legitimieren, nur eben mit “moderneren” Mitteln, die in der heutigen Zeit eher akzeptiert werden als der frühere Prügelstock und die frühere Schamecke. Für die Kinder aber wird es dadurch noch schwieriger, sich gegen ungerechtfertigten Machtmissbrauch seitens der Erwachsenen zu wehren: Es ist viel einfacher, sich gegen einen Lehrer zu wehren, der Ohrfeigen verteilt, weil das Kind da nämlich in aller Regel die Eltern und sogar das Gesetz auf seiner Seite hat. Ungleich aber viel schwieriger ist es, sich gegen den Machtmissbrauch eines sanft lächelnden und scheinbar “liebevollen” Lehrers zu wehren, der seine Machtstellung auf ganz feine, subtile, geradezu unsichtbare Weise ausübt, nur schon dadurch, dass er den umfassenden Repressionsapparat des bestehenden Schulsystems nie grundsätzlich in Frage stellt und damit das pure Gegenteil dessen verkörpert, wofür Mahatma Gandhi ein Leben lang kämpfte.

Man hätte es eigentlich viel einfacher haben können als durch diesen Rückgriff auf die scheinbar “zeitgemässen” Theorien eines israelischen Psychologen, hinter denen sich nun all jene bequem verstecken können, die immer noch nicht eingesehen haben, dass “Erziehung”, auch wenn sie noch so gut gemeint ist, nie etwas zu tun haben darf mit der Durchsetzung und Aufrechterhaltung bestehender Machtverhältnisse seitens Erwachsener gegenüber Kindern und Jugendlichen, auch und gerade wenn diese noch so subtil und scheinbar “liebevoll” daherkommen. Statt Haim Omer würde man gescheiter wieder einmal den guten alten Johann Heinrich Pestalozzi lesen. Der wusste nämlich schon vor über 250 Jahren, dass nur die echte, bedingungslose und zweckfreie Liebe zählt und dass die Aufgabe der Erwachsenen nicht darin bestehen darf, die Kinder auf irgendeinen scheinbar “richtigen” Weg zu ziehen, sondern einzig und allein darin, mit ihnen gemeinsam diesen Weg zu gehen, beständig gegenseitig voneinander zu lernen und, statt “widerspenstige”, “ungehorsame” oder “freche” Kinder mit allen Mitteln anpassen und zurechtbiegen zu versuchen, gerade sie in ganz besonderem Masse als Chance zu erkennen, Seite an Seite mit ihnen die Welt jeden Tag ein bisschen neu kennenzulernen und ein bisschen besser, schöner und friedlicher zu gestalten…