18. August 2024: Viel Raum in der Sonntagspresse für die verschrobenen und altertümlichen Ideen eines Zürcher Pädagogikprofessors…

Gleich zwei Mal kommt der an der Universität Zürich lehrende Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach heute Sonntag, 18. August 2024, zu Wort. Einmal mit einem ganzseitigen Interview in der “Sonntagszeitung”, zum andern mit einem weiteren Interview in der “NZZ am Sonntag”, das sich über fast zwei Zeitungsseiten hinweg erstreckt. Ich frage mich, welches wohl die Beweggründe sind, weshalb dieser bisher eher unbekannte Pädagogikprofessor auf einmal eine so grosse Plattform bekommt, um seine verschrobenen und altertümlichen Ideen kundzutun.

Das Interview in der “Sonntagszeitung” steht unter dem Titel “Schule ohne Noten ist wie Kapitalismus ohne Geld. Das funktioniert nicht.” Zwar räumt Reichenbach ein, Noten seien “problematisch” und “weder objektiv noch gerecht”, um dann aber entgegenzuhalten: “Zu behaupten, dass die Leistungen nicht sinken würden, wenn man auf Noten verzichtet, ist fromm.” Hausaufgaben abzuschaffen findet er “eine schlechte Idee”, denn sie “geben die Möglichkeit, Gelerntes zu konsolidieren und Lerninhalte besser zu verstehen.” Dass “alle Lehrkräfte der Idee zunicken”, man müsse die Kinder aufgrund ihrer unterschiedlichen Leistungsfähigkeit entsprechend “unterschiedlich behandeln”, bezeichnet er als “pädagogischen Gottesdienst”, denn Lernen, so sagt er, “lässt sich nicht selbstbestimmt und individuell organisieren.”

DAZU MEIN LESERBRIEF AN DIE “SONNTAGSZEITUNG”:

Schule ohne Noten funktioniere nicht, behauptet der Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach. Hat er keine eigenen Kinder gehabt? Sonst müsste er nämlich wissen, wie unglaublich viel höchst Komplexes Kinder in ihren ersten Lebensjahren lernen, ohne je dafür eine Note zu bekommen. Mir wurde schon vor über 50 Jahren während meiner Ausbildung zum Sekundarlehrer an der Uni Zürich der Unterschied zwischen „intrinsischer“ und „extrinsischer“ Motivation beigebracht und dass natürliche, intrinsische Motivation aus Neugierde und echtem Interesse stets zu besseren Lernleistungen führe als all jene Formen von extrinsischer Motivation, die künstliche Anreize schaffen, von Fremdbestimmung, Druck und oft auch von Angstmacherei bestimmt sind und keinen logischen Zusammenhang aufweisen mit dem betreffenden Lerninhalt. Oder, wie es Johann Heinrich Pestalozzi schon vor über 250 Jahren ganz einfach sagte: „Lernen ohne Freude ist keinen Heller wert.“ Echtes Lernen braucht keinen Quervergleich mit anderen Kindern und daher auch keine Prüfungen und Noten. Wenn Schule davon ausgeht, dass Kinder ohne Noten nichts lernen würden, dann ist dies bloss das Eingeständnis der Schule, dass die von ihr vermittelten Lerninhalte offensichtlich viel zu wenig zu tun haben mit den echten Lern- und Lebensbedürfnissen der Kinder, zu deren Erfüllung man kein einziges von ihnen mit irgendwelchen künstlichen Mitteln „motivieren“ müsste, weil sie es nämlich noch so gerne freiwillig und ohne äusseren Druck täten.

Das Interview in der “NZZ am Sonntag” steht unter dem Titel “Viele Kinder wollen nicht mehr leisten”. Reichenbach sieht als eines der Hauptprobleme die “Krise der Autorität”, die den Lehrerberuf “im Kern” treffe: “Denn wir wissen, wie wichtig die Autoritätsanerkennung der Lehrperson durch die Schülerinnen und Schüler sowie durch deren Eltern für die Anstrengungs- und Lernbereitschaft ist.” In welcher pädagogischen Mottenkiste hat Reichenbach wohl diese “Weisheiten” entdeckt? Und wo, um Himmelswillen, ist er wohl auf folgendes Konstrukt gestossen, das man mindestens zwei Mal lesen muss, um dann immer noch nicht zu begreifen, was er damit wohl gemeint haben könnte: “Natürlich könnten manche Kinder den Schulstoff zu Hause gezielter und schneller lernen als in der Schule. Aber ohne Klassenzimmer, ohne Schulgemeinschaft und die damit verbundenen Rituale und auch individuellen Opfer, ohne die zahlreichen Erfahrungen mit den teilweise störenden Eigenarten der Lehrpersonen hätten diese Kinder am Ende sehr wenig vom Leben verstanden, also von sich und der Welt.”

DAZU MEIN LESERBRIEF AN DIE “NZZ AM SONNTAG”:

„Viele Kinder wollen nicht mehr leisten“ – schon der Titel des Interviews mit dem Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach ist ein Schlag ins Gesicht des Kindes, das in seinen ersten Lebensjahren so komplexe Lernleistungen vollbringt wie das Erlernen der Muttersprache, und dies ohne eine einzige Schulstunde, ohne Lehrplan, ohne Lehrer, ohne Prüfungen und ohne Noten. Wer sich mit Schulfragen beschäftigt, darf dieses zugleich so lustvolle und erfolgreiche Lernen des Kleinkindes nie aus den Augen verlieren. Dann wird nämlich schnell klar, dass fast alle der heute diskutierten Schulprobleme nicht so sehr die Probleme „schwieriger“, „verhaltensgestörter“ oder „lernunwilliger“ Kinder sind, sondern die Probleme einer Schule, die sich viel zu weit von den natürlichen Grundlagen menschlichen Lernens entfernt hat. Eine Schule kann nur in der Weise eine gute Schule sein, als es ihr gelingt, ausnahmslos jedem Kind die Möglichkeit zu bieten, seinen ihm eingeborenen, individuellen und einzigartigen „Lernplan“ zur Entfaltung zu bringen. Besser als die beste Schule wäre daher ein Abschied von der traditionellen Lehrplan- und Jahrgangsklassenschule, die Aufhebung all dessen, was Lernen und Leben voneinander trennt, und die Rückbesinnung auf die zentrale Erkenntnis, wonach die wirkungsvollste Art zu lernen jene des „Learning by Doing“ ist, Lernen durch Tun, durch Beobachten, Forschen und Experimentieren und durch das allmähliche Hineinwachsen des Kindes in die Welt der Erwachsenen.