Jahrhundertelange Komplizenschaft zwischen Kapitalismus und Patriarchat

Dies ist das 7. Kapitel aus meinem Buch PRO MEMORIA – EINE ANDERE GESCHICHTE DES KAPITALISMUS, das voraussichtlich Mitte 2025 erscheinen wird. Eine Geschichte der Schattenseiten des Kapitalismus und der Opfer eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das trotz allem immer noch von vielen als die einzige mögliche und alternativlose Art und Weise angesehen wird, wie das Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten organisiert werden kann.

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Wir wähnen uns zwar in «modernen» Zeiten, senden uns Nachrichten, Fotos und Filme in Bruchteilen von Sekunden rund um den Erdball zu, lassen uns von künstlicher Intelligenz ganze Romane schreiben, Bilder malen, musikalische Meisterwerke komponieren und uns vielleicht schon bald von selbstgesteuerten Automobilen spazieren fahren. Doch mitten in diesen «modernen» Zeiten werden unzählige wiedergeborene Hexen, man nennt sie heute «Prostituierte», Nacht für Nacht stundenlang vergewaltigt und halb zu Tode geprügelt, an eiserne Gestelle gekettet und blutig geschlagen, bis fast zum Ersticken gewürgt, mit Betäubungsmitteln gefügig gemacht und am Ende, wenn sie ihren Dienst getan haben, mit Blutergüssen oder einem gebrochenen Kiefer irgendwo an einen Waldrand geworfen. Und unzählige wiedergeborene Scharfrichter, man nennt sie heute «Freier», scheint genau das, die Machtausübung über Schwächere, ihnen hilf- und schutzlos Ausgelieferte, die allergrösste Lust zu bereiten.

IMMER NOCH TAUSENDFACHE ABHÄNGIGKEITSVERHÄLTNISSE UND MACHTUNTERSCHIEDE

Doch Prostitution ist nicht etwas Exotisches, Singuläres, nicht eine abartige Abweichung von der Normalität. Nein, sie ist nur die extremste Form jener «Normalität» tausendfacher Abhängigkeitsverhältnisse und Machtunterschiede zwischen Frauen und Männern, die bis zum heutigen Tag an viel zu vielen Orten und in viel zu vielen Lebensbereichen immer noch gang und gäbe sind. Denn Geld ist Macht. Und wer, wie die Freier, mehr davon hat, als er zum Leben braucht, kann dadurch Macht ausüben über jene, die, wie die Prostituierten, weniger davon haben, als sie eigentlich zum Leben bräuchten. Nur deshalb ist die Prostituierte dem Freier hilflos ausgeliefert, weil sie ohne das Geld, das er im Übermass besitzt, ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten könnte. Und nur deshalb müssen die Kellnerin, das Zimmermädchen und die Coiffeuse jeden Wunsch des Bankers, des Immobilienmaklers und des IT-Spezialisten erfüllen und, wenn diese damit nicht zufrieden sind, sich von ihnen vielleicht sogar noch beschimpfen lassen, weil sie auf das Geld, welches diese besitzen, existenziell angewiesen sind.

Doch weshalb besitzen Männer so viel mehr Geld und damit so viel mehr Macht als Frauen? Aus dem ganz simplen Grund, weil die meisten bis heute weltweit herrschenden politischen Institutionen, Gesetze, Macht- und Besitzverhältnisse ursprünglich nicht von Frauen, sondern fast ausschliesslich von Männern geschaffen wurden, und natürlich in der Weise, dass sie ihren Interessen, den Interessen der Männer, am meisten entsprachen. Sie, die Männer, haben definiert, was «höherwertige» – hauptsächlich von Männern ausgeübte – und deshalb besser bezahlte Tätigkeiten sind, und was «minderwertige» – hauptsächlich von Frauen ausgeübte – und daher schlechter bezahlte Tätigkeiten sind. Und sie, die Männer, haben sogar die unfassbare Tatsache in die Welt gesetzt, dass eine Frau, die sich «nur» um den Haushalt und die Kinder kümmert, dafür auch nicht einen einzigen Rappen Lohn bekommen darf, so dass man selbst heute noch, wenn man ein Kind fragt, was seine Mutter arbeite, zur Antwort bekommt, sie arbeite nicht, sondern koche nur, putze nur die Wohnung, gehe nur einkaufen, füttere nur die Haustiere, jäte nur den Garten, organisiere nur Geburtstagspartys, pflege nur die kranke Grossmutter, unterhalte nur die Beziehungen mit der Nachbarschaft, kümmere sich nur um die Kinder und helfe ihnen nur bei den Hausaufgaben. Eigentlich müsste man noch ergänzen: Dass die Mutter, die ja angeblich gar nicht arbeitet, «nur» von Zeit zu Zeit auch noch ein Kind gebärt – was aus kapitalistisch-patriarchaler Sicht offensichtlich schon gar nicht auch nur im Entferntesten mit «Arbeit» in Verbindung gebracht wird, obwohl es sich dabei doch im Grunde um die zentralste sämtlicher möglicher Arbeitsleistungen handelt, ohne welche es alle anderen Arbeitsleistungen gar nicht erst gäbe. Der gesamte kapitalistische Überbau beruht auf der Gratisarbeit von Frauen. Würden sie diese verweigern, bräche das gesamte kapitalistische Machtsystem von einer Sekunde zur andern i sich zusammen.

Sie, die Männer, haben auch das gesamte Geldsystem, die Banken, die Finanzflüsse, das Prinzip der Selbstvermehrung von Geld in Form von Zinsen und die Lüge, dass Geld selber arbeiten und seinen Besitzer dadurch immer reicher machen könne, all das so eingerichtet, dass jene, die schon reich sind – und auch das sind vor allem wieder Männer –, immer noch reicher werden, während andere, die schon arm sind – und auch das sind vor allem wieder Frauen – lebenslang arm bleiben. Denn es ist zweifellos alles andere als ein Zufall, dass sich unter den weltweit zurzeit 2640 allerreichsten Menschen, mit je einem Vermögen von über einer Milliarde US-Dollar, gerade mal 399 Frauen befinden und unter den 50 Reichsten der Schweiz gerade mal fünf weiblichen Geschlechts sind.

SELBST GOTT IST EIN MANN

Sie, die Männer, haben auch früh erkannt, wie stark der Zusammenhang ist zwischen Sprache und Denken, und so haben sie dann unzählige Wörter, Begriffe und Redewendungen erfunden, in denen wiederum sie, die Männer, im Mittelpunkt stehen und die Frauen entweder verschwiegen, an den Rand gedrängt oder in ein schiefes Licht gerückt werden. Etwas Schönes ist «herrlich», etwas Unpassendes ist «dämlich». Typisch weibliches und negativ bewertetes Verhalten bezeichnet man als «weibisch», aber niemand kommt auf die Idee, ein als mühsam oder lästig empfundenes typisch männliches Verhalten als «männisch» zu bezeichnen. Das englische Wort «woman» kommt von «wifman», was so viel bedeutet wie «weiblicher Mensch», als wäre nur «man» sozusagen der eigentliche, wahre Mensch. Eine «Künstlerin» ist sozusagen eine weibliche Neben- oder Unterkategorie des eigentlichen – als «Norm» empfundenen «Künstlers». Bis in die jüngste Vergangenheit wurden unverheiratete Frauen selbst im Alter von 50 oder mehr Jahren als «Fräulein» bezeichnet, bemitleidenswerte Geschöpfe, die nach so langer Zeit immer noch keinen Mann gefunden hatten, während unverheirateten Männern als «Junggesellen» auch heute noch durchaus Sympathien infolge ihrer «Eigenständigkeit» und ihrer «freien», «selbstbestimmten» Lebensweise entgegengebracht werden. Eine widerspenstige junge Frau ist eine «Göre», ein widerspenstiger junger Mann dagegen ein «Rebell» oder sogar ein «Held». Frauen, die auf Gleichberechtigung mit Männern pochen, sind «Emanzen», Männer, die an traditionellen Vorrechten von Männern gegenüber Frauen festhalten, werden im Volksmund dagegen nur selten «Patriarchen» genannt, dann schon eher, vor allem wenn sie ein Unternehmen erfolgreich leiten, als «Patrons» von altem Schrot und Korn, was meistens sogar mit einer gewissen Bewunderung oder geradezu Ehrfurcht verbunden ist. Nachbarinnen können sich am Gartenzaun mit noch so philosophisch hochstehenden Themen beschäftigen oder noch so viele wertvolle  Erfahrungen im Umgang mit kranken oder hilfsbedürftigen Menschen austauschen, es ist eben nur «Frauengeschwätz», während Verwaltungsräte auch noch mit den dümmsten und unbrauchbarsten Ideen um sich werfen können, stets handelt es sich um, notabene erst noch bestens bezahlte, «Sitzungen», «Konferenzen» oder «Meetings».

Selbst die Wissenschaft haben sie, die Männer, für sich gekapert, und es ist noch gar nicht so lange her, da haben führende und zu ihrer Zeit höchst angesehene Köpfe sogar «wissenschaftlich» zu beweisen versucht, weshalb Frauen weniger intelligent seien als Männer. Das wiederum war dann gefundenes Fressen für jene Mehrheit sämtlicher Männer, die, wie zum Beispiel in der Schweiz, noch bis ins Jahr 1971 felsenfest davon überzeugt waren, Frauen hätten in der Politik nichts zu suchen. Und als Gipfel von allem, aber eigentlich nicht besonders verwunderlich: Der, welcher über allem Irdischen thront, der «Schöpfer» und «Lenker» von allem, ist, wie könnte es auch anders sein – ein Mann. Noch heute wird das Bild dieses «Gottes» den meisten Kindern in den christlichen Ländern schon von klein auf eingeimpft, egal, ob es sich dabei um einen «rachsüchtigen», «allmächtigen» oder «liebevollen» Gott handelt, Hauptsache, es ist ein Mann.

PATRIARCHAT NUR EINES VON ZAHLLOSEN UNTERDRÜCKUNGS-, AUSBEUTUNGS- UND MACHTVERHÄLTNISSEN

Das patriarchale Machtsystem hat sich, wie oft behauptet wird, im Laufe der Zeit nicht abgeschwächt, sondern sich im Gegenteil, Hand in Hand mit allen anderen kapitalistischen Ausbeutungsformen, nach und nach über die ganze Erde ausgebreitet. Patriarchale Machtverhältnisse treffen wir heute nicht nur, in mehr oder weniger starker Ausprägung, in jedem einzelnen kapitalistischen Land an, sie widerspiegeln sich auch in der Dominanz der reicheren und mächtigeren gegenüber den ärmeren und weniger mächtigeren Ländern: So etwa in der erbarmungslosen Ausbeutung von Dienstmädchen aus den Philippinen in den Haushalten der reichen Oberschicht Dubais, Kuwaits oder Saudi-Arabiens, in zwanzigstündigen Arbeitsschichten von Textilarbeiterinnen in Bangladesch zwecks exorbitanter Unternehmensgewinne französischer, italienischer oder kanadischer Modekonzerne, in den bis zum Zerbrechen kaputtgearbeiteten Rücken marokkanischer Erdbeerpflückerinnen unter der sengenden Sonne Andalusiens zur unaufhörlichen Geldvermehrung in den Kassen deutscher oder belgischer Supermärkte und ihrer Aktionäre, in den Leiden und Erniedrigungen brasilianischer, kolumbianischer und kenianischer Prostituierter, aus denen jenes Geld herausgeschunden wird, mit dem dann ihre Zuhälter und weltweit organisierte Menschenhändler wertvollsten Schmuck, prunkvollste Villen und teuerste Luxuskarossen kaufen, mit denen sie ihren Reichtum ganz öffentlich und unverfroren auf den Strassen spanischer oder griechischer Städte zur Schau tragen.

Bei alledem gibt es freilich nicht nur geschlechtsspezifische Macht-, Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse. Im über alle Grenzen hinweg globalisierten Kapitalismus befinden sich die Arbeiter in den kongolesischen Goldminen ebenso auf der Opferseite, wie sich all jene westeuropäischen Frauen auf der Täterseite befinden, welche sich die zahllosen Schmuck- und Luxusgegenstände leisten können, die aus jenem Gold gefertigt wurden, welches die Minenarbeiter qualvoll und unter gefährlichsten Bedingungen aus dem Boden geschürft hatten. Frauen können auch andere Frauen ausbeuten, ebenso wie Männer andere Männer und Frauen Männer, je nach Geburtsort und sozialem Status. Je weiter im Zuge der Globalisierung die Orte des Reichtums und die Orte der Armut auseinandergerissen wurden, umso geringer das öffentliche Bewusstsein darüber, dass letztlich das gesamte kapitalistische Weltwirtschaftssystem letztlich auf nichts anderem beruht als auf der permanenten Ausbeutung jener, die weniger Geld und weniger Macht haben, durch jene, die mehr davon haben. Das Patriarchat ist dabei nur eines von zahlreichen Unterdrückungs-, Ausbeutungs- und Machtverhältnissen, aber zweifellos nach wie vor eines der wesentlichsten und am meisten dominierenden.

DAS PATRIARCHAT KAM ERST AM 31. DEZEMBER UM SIEBEN UHR MORGENS AN DIUE MACHT

Blicken wir weiter in die Geschichte zurück, werden wir sogleich feststellen, dass patriarchale Macht- und Ausbeutungsverhältnisse ganz und gar nicht über Jahrtausende hinweg die Norm waren. Eine im Jahre 1998 durchgeführte Studie ergab, dass 160 von insgesamt weltweit 1267 untersuchten Ethnien bis in die jüngste Gegenwart eine rein matrilineare, also ausschliesslich auf weiblicher Erbfolge beruhende Gesellschaftsstruktur aufweisen und weitere 101 Ethnien ein gleichwertiges Nebeneinander von matrilinearen und patrilinearen Abstammungsregeln.

So etwa kennen die Minangkabau auf Sumatra, mit drei Millionen Menschen die grösste matrilineare Bevölkerungsgruppe der Welt, ausschliesslich die mütterliche Erbfolge. Frauen und Männer haben eine gleichrangige Stellung innerhalb der Gesellschaft, Land und Produktionsmittel sind Gemeineigentum. Die Mosuo, ein ebenfalls matrilinear organisiertes Volk im Südwesten Chinas, betreiben eine reine Tauschwirtschaft ohne Verwendung von Geld. Dem weiblichen Haushaltsvorstand sind alle Haushaltsmitglieder beiderlei Geschlechts untergeordnet. Bei den Beziehungen ausserhalb der Grossfamilie treffen Frauen die geschäftlichen, Männer die politischen Entscheidungen. Die Mosuo kennen keine Ehe zwischen Frau und Mann, sie pflegen ausschliesslich «Besuchsbeziehungen», bei denen sowohl Frauen als auch Männer mit mehreren Partnerinnen oder Partnern nebeneinander oder nacheinander sexuelle Beziehungen haben. Die auf den Trobriandinseln im Südpazifik lebenden Trobriander sind für ein auffallend konfliktarmes Gesellschaftsleben bekannt, auch bei ihnen sind sexuelle Freizügigkeit und Tauschhandel die Regel. Eine noch über den Tauschhandel hinausgehende Wirtschaftsweise trifft man bei den Tolai in Papua-Neuguinea an: eine sogenannte «Schenkökonomie», ein auf allgemeiner Solidarität und Grosszügigkeit beruhendes soziales System, in dem Güter und Dienstleistungen ohne direkte oder zukünftige Gegenleistung weitergegeben werden. Bei den Khasi im Nordosten Indiens liegen Grund und Boden ausschliesslich in der Hand von Frauen. Bei den Tuareg in Nordafrika entscheiden die Frauen, wen sie heiraten, die Frau darf ihren Mann verstossen.       

Auch auf der Insel Orango vor dem westafrikanischen Guinea-Bissao, «Insel des Friedens» genannt, haben heute noch die Frauen das Sagen, wie Heiner Hoffmann im «Spiegel» vom 3. April 2022 berichtete: «Isabel Yaranto hievt ein Schilfbündel auf den Kopf, es ist Baumaterial für das neue Haus ihrer Schwester. So will es die Tradition, Frauen bauen die Häuser, dafür gehören sie ihnen anschliessend. Männer sind darin höchstens zu Gast. Auf Orango wird die Geburt einer Tochter besonders intensiv gefeiert, denn Frauen gebären nicht nur Kinder, sondern managen auch das Leben im Dorf. Entscheidungen gehen auf Orango so, dass zwei Räte, einer aus Männern und einer aus Frauen, Lösungen für Konflikte oder anstehende praktische Fragen diskutieren und anschliessend miteinander einen Kompromiss aushandeln. Zwar arbeiten auch auf Orango die Frauen viel mehr als die Männer, kümmern sich um die Kindererziehung, die Arbeit auf dem Feld, das Sammeln von Meeresfrüchten, den Hausbau und den Haushalt, während Männern lediglich das Fischen und Sammeln von Palmfrüchten vorbehalten ist. Dafür aber gelten die Frauen als das starke Geschlecht und verfügen über viel mehr Macht als die Männer. Nicht nur die Häuser, sondern auch die unzähligen Hühner, Schweine und Kühe gehören ihnen, somit verfügen sie über die Lebensgrundlage der Haushalte. Auch heute noch wird Okinka Pampa, von 1910 bis 1930 die letzte Königin der Insel und so etwas wie die Urmutter der matriarchalen Strukturen, auf Orango zutiefst verehrt. Sie schaffte die Sklaverei ab, stärkte die Frauenrechte und wehrte mehrere portugiesische Kolonialisierungsversuche erfolgreich ab.»

Solche Relikte matriarchaler Traditionen sowie zahllose archäologische Funde aus der Frühzeit der Menschheit, die auf die Verehrung weiblicher Gottheiten hindeuten, legen die Vermutung nahe, dass matriarchale Gesellschaftsstrukturen bis vor etwa rund 4000 bis 5000 Jahren nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel waren. Wenn wir davon ausgehen, dass die Geschichte der Menschheit vor etwa 2,5 Millionen Jahren begann, dann wären diese letzten 5000 Jahre, in denen das Patriarchat die Oberhand gewann, weniger als ein Klacks: Rechnen wir die gesamte Menschheitsgeschichte in ein Jahr um, dann wäre also das Patriarchat erst am 31. Dezember um sieben Uhr morgens an die Macht gekommen.

DOCH WIE UND WESHALB ERFOLGTE DIE MACHTERGREIFUNG DURCH DIE MÄNNER?

In ihrem 1988 erschienenen und 2015 neu aufgelegten und aktualisierten Buch «Patriarchat und Kapital» erklärt Maria Mies den Aufstieg des Patriarchats wie folgt: Seit Urzeiten gab es eine geschlechtliche Arbeitsteilung zwischen den Frauen, die hauptsächlich sammelten und Hackbau betrieben, und Männern, welche sich auf die Jagd spezialisierten. Auf diese Weise waren, so Mies, «die Frauen in der Lage, die täglichen Lebensmittel nicht nur für sich selbst, sondern auch für den ganzen Clan zu sichern. Sie waren die Ernährerinnen nicht nur ihrer Kinder, sondern weitgehend auch der Männer, die ja nicht immer Glück auf ihren Jagdexpeditionen hatten.» Es ist anzunehmen, dass die Frauen bis zu 80 Prozent der täglichen Nahrung produzierten. Dies verschaffte den Frauen eine gewisse Machtstellung, die sich zum Beispiel bei den Irokesen in der Weise manifestierte, dass die Frauen ein Mitspracherecht bei Entscheidungen über Jagdexpeditionen und Kriegszügen hatten. Wenn sie es ablehnten, den Männern Proviant mitzugeben, mussten mitunter Jagd- und Kriegszüge abgeblasen werden. Archäologische Funde zeigen, dass die ältesten Werkzeuge Behälter waren, um Nahrung aufzusammeln: Körbe, Behälter aus Blättern oder Rinden und Krüge, offensichtlich lauter Erfindungen von Frauen, so wie auch der Grabstock und die Hacke für den frühen Ackerbau. Die von Männern erfundenen Werkzeuge dagegen waren Wurfspiesse sowie Pfeil und Bogen für die Jagd. So waren die Werkzeuge der Frauen eigentliche «Produktionsmittel, die dazu dienten, etwas Neues zu produzieren und das Produzierte zu transportieren und aufzubewahren. Die Jagdinstrumente jedoch, die Waffen, konnten für keinen anderen Zweck benutzt werden als zum Töten.» Und so wie Tiere getötet werden konnten, so konnten auch Menschen getötet werden – der «Ursprung ungleicher und ausbeuterischer gesellschaftlicher Verhältnisse und einer asymmetrischen Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen. Das gab den Jägern eine Macht über lebende Wesen, Tiere und Menschen. So konnten sie sich auch mit Hilfe der Waffen andere Produzentinnen und Produzenten aneignen und unterwerfen. Indem die Jäger nicht nur Tiere jagen, sondern auch Dörfer anderer Gruppen überfallen konnten, hatten sie auch die Möglichkeit, unbewaffnete Frauen und Kinder zu rauben und sich als Beute anzueignen – erste Formen von Privateigentum. Durch das Monopol der Männer über Zwangsmittel, Waffen und direkte Gewalt konnten permanente Herrschaftsbeziehungen zwischen den Geschlechtern aufgebaut und erhalten werden. Bis heute dient die Produktion von Waffen zur Sicherung eines störungsfreien Zuflusses von billigen Rohstoffen aus den Ländern des Südens in die Länder des Nordens. Die internationale Arbeitsteilung würde sofort zusammenbrechen, wenn sie nicht, in letzter Instanz, durch die militärische Überlegenheit der kapitalistischen Industrieländer aufrechterhalten würde.»

Wie eng die gegenseitige Verflechtung von Patriarchat, Kriegsführung und Terrorregimen ist, sehen wir nur schon daran, dass sämtliche Kriege in Vergangenheit wie Gegenwart nahezu ausschliesslich von Männern angeführt wurden und werden und sich auch unter Diktatoren und Despoten, die ihre eigenen Völker mit eiserner Faust regierten und ihnen gegenüber vor keinen noch so grausamen Menschenrechtsverletzungen zurückschreckten, fast ausnahmslos Männer befinden, von Alexander dem Grossen und Ivan dem Schrecklichen über Francisco Pizarro, Hernando Cortez und König Leopold II von Belgien, Adolf Hitler, Idi Amin und Pol Pot bis Benjamin Netanyahu und den sudanesischen Generälen Abdelfatah Burhan und Mohammed Hamdan Daglo, die anfänglich eng befreundet waren, sich dann aber dermassen zerstritten und sich gegenseitig Rache schworen, dass daraus einer der schlimmsten Kriege unserer Zeit entstand, dem bereits über zehntausend Menschen, zu einem grossen Teil Frauen und Kinder, zum Opfer gefallen sind und der rund sechs Millionen Menschen in die Flucht geschlagen hat. Und das ist nur ein ganz kleiner Ausschnitt aus einer endlosen Liste machtbesessener Männer, von denen die meisten kaum jemals daran gedacht hätten, selber in den Krieg zu ziehen, und die sich stattdessen in sicheren Bunkern und hinter meterdicken Mauern verschanzt hatten und es sich dort wohl ergehen liessen, während unzählige Unschuldige qualvoll für sie leiden und sterben mussten.

Ebenso lang oder vermutlich noch viel länger wäre die Liste der Namen von Pazifistinnen, von Frauen, die oft ihr ganzes Leben dem bedingungslosen Einstehen für eine Welt ohne Waffen und ohne Krieg verschrieben: Bertha von Suttner, Margarete Selenka, Anita Augsburg, Lida Heymann, Minna Cauer, Jane Addams, Edith Ballantyne, Eleonore Romberg, Hedwig von Pötting, Sophie Scholl oder Olga Karach – um nur ein paar ganz wenige von ihnen zu nennen. Doch ihre Namen suchen wir in den allermeisten Geschichtsbüchern vergebens. Obwohl sie sich infolge ihres mutigen und selbstlosen Auftretens in kriegerischen Zeiten grösster Feindseligkeit und nicht selten sogar Lebensgefahr aussetzten und eigentlich als die wahren Heldinnen ihrer Zeit gefeiert werden müssten. Doch die gleiche patriarchale Geschichtsschreibung, welche die Namen der grössten Verbrecher der Menschheitsgeschichte unsterblich gemacht hat, droht ihre Namen, die Namen der Friedenskämpferinnen und all ihrer Mitstreiterinnen, Millionen und Abermillionen namenloser Mädchen und Frauen über Jahrhunderte hinweg, für immer auszulöschen.

PATRIARCHAT UND KAPITALISMUS HAND IN HAND

Patriarchale Macht- und Ausbeutungsverhältnisse gab und gibt es zweifellos auch in vorkapitalistischen Zeiten und in nichtkapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen. Aber im Kapitalismus hat das Patriarchat sozusagen einen seiner zuverlässigsten Verbündeten gefunden, beruht der Kapitalismus im Innersten doch auf den genau gleichen Grundprinzipien wie das Patriarchat. «Wie die Kolonien und wie die Natur», so Maria Mies, «so werden im Kapitalismus auch die Frauen als freie Güter betrachtet und auf diese Weise praktisch ohne grosse Kosten ausgebeutet. Diese Kolonisierung von Ländern, Frauen und Natur bildet die Grundlage für den raschen Aufstieg der westlich-kapitalistischen Industrieländer. Ohne all diese Gewalt wäre er nicht möglich gewesen.»

Und hier schliesst sich der Kreis von der Auslöschung der amerikanischen Urbevölkerung über die Hexenverfolgungen bis zur auch in unseren Tagen ungebrochen weitergeführten Ausplünderung der Erde auf Kosten zukünftiger Generationen. Heute, Hunderte Jahre später, empören wir uns über die barbarische Auslöschung der indigenen Urbevölkerung Nordamerikas, über die unfassbaren, von den spanischen und portugiesischen Konquistadoren an den Indios in Zentral- und Südamerika begangenen Grausamkeiten, über die Zwangsdeportation und Versklavung von bis zu 15 Millionen Afrikanerinnen und Afrikanern, über die Ausschweifungen des Sonnenkönigs und seines Gefolges in Versailles und über die unbeschreiblichen, von Männern an Frauen verübten Entsetzlichkeiten im Zuge der Hexenverfolgungen, ganz so, als wären dies alles nur einzelne, voneinander unabhängige Erscheinungen in der Geschichte der Menschheit, von denen jede einen ganz bestimmten Anfang und ein ganz bestimmtes Ende hatte. Tatsächlich aber fand dies alles mehr oder weniger zur gleichen Zeit statt und waren dies alles logisch in sich miteinander verbundene Ausprägungen jenes im Grunde immer gleichen, in sich miteinander verbundenen kapitalistischen Grundprinzips, immer mehr natürliche Ressourcen und immer mehr menschliche Arbeitskraft in immer höhere Profite für die Reichen und Mächtigen umzuwandeln bis zum heutigen Tag.

«Der gesamte Aufstieg der modernen Naturwissenschaft und Technik», so Maria Mies, «gründete letztlich auf nichts anderem als einem gewaltsamen Angriff und einer Vergewaltigung der Mutter Erde. So etwa empfahl Francis Bacon, einer der Väter der modernen Naturwissenschaft, im Bestreben, der Mutter Natur ihre Geheimnisse zu entreissen, die gleichen gewalttätigen Mittel, wie sie von Kirche und Staat benutzt wurden, um zu den Geheimnissen der Hexen vorzustossen, nämlich Folter und Inquisition. Die Tabus gegenüber dem Bergbau, dem Graben von Löchern in den Leib der Mutter Erde, wurden gewaltsam gebrochen, weil die neuen Patriarchen an die wertvollen Metalle und andere Rohmaterialien herankommen wollten, die im Schoss der Erde verborgen waren. Der Aufstieg der modernen Naturwissenschaften, einer rein mechanistischen Weltanschauung, stützte sich auf das Töten der Natur als lebendigen Organismus und ihre Umwandlung in ein gewaltiges Vorratslager an natürlichen Ressourcen, die vom Mann analysiert und in seine neuen Maschinen integriert wurden, mit denen er bestrebte, sich von der Natur mehr und mehr unabhängig zu machen.»