Von der Illusion, technische Probleme könnten allein durch technische Massnahmen gelöst werden…

 

“Im Süden Frankreichs”, so berichtet die “NZZ am Sonntag” vom 17. Juli 2022, “entsteht gegenwärtig der experimentelle Fusionsreaktor Iter.” Das Prinzip: Mittels Laserstrahlen werden die Wasserstoffisotope Deuterium und Tritium verdichtet und auf 100 Millionen Grad Celsius erhitzt, damit sie ihre Abstossung überwinden und verschmelzen. Doch es gibt nur langsame Fortschritte, erste Experimente mit der neuen Technologie zeigen, dass die Entwicklung voraussichtlich noch drei Jahrzehnte in Anspruch nehmen und Milliarden verschlingen wird. “Zwar ist es mittlerweile”, so die “NZZ am Sonntag”, “im Experiment gelungen, Kernfusionsreaktionen zu starten, doch die frei werdende Energie betrug nur einen Bruchteil dessen, was für den Betrieb des Reaktors aufgewendet wurde.” Ein weiteres Beispiel für die gigantische Illusion, technische Probleme – in diesem Falle Energie- und Stromknappheit – könnten durch technische Massnahmen – in diesem Falle eine neue Generation von Kernreaktoren – dauerhaft gelöst werden. Die gleiche Illusion lässt uns hoffen, der Umstieg von Benzinautos auf Elektromobile wäre ein wirksamer Beitrag im Kampf gegen den Klimawandel – wohlweislich ausser Acht lassend, dass der hierfür benötigte Strombedarf alle derzeit zur Verfügung stehenden Quellen um ein Vielfaches übersteigen würde, ganz abgesehen von den seltenen Metallen und allen weiteren Rohstoffen, die für die Herstellung der Fahrzeuge und der Batterien erforderlich sind. Die gleiche Illusion lässt uns ebenfalls hoffen, neu entwickelte Wasserstoffflugzeuge wären die Lösung aller Probleme und würden es zukünftigen Touristinnen und Touristen möglich machen, wieder ohne schlechtes Gewissen durch die ganze Welt zu fliegen – doch niemand rechnet aus, wie viel Strom benötigt würde, um den Wasserstoff aufzubereiten, und wie viel Energie und Rohstoffe aufgewendet werden müssen, um die Werkhallen der neuen Flugzeuge aufzubauen. Es ist die gleiche Illusion, die uns glauben machen will, man könnte Maschinen konstruieren, welche CO2 aus der Luft absaugen und in den Erdboden versenken könnten – ohne zu bedenken, dass der Aufwand für den Bau solcher Anlagen immens wäre und dennoch nur eine verschwindend kleine Menge CO2 auf diese Weise unschädlich gemacht werden könnte. Es ist die gleiche Illusion, mit der neuerdings auch das Problem des immer dichteren Strassenverkehrs angepackt werden soll, indem noch mehr Autobahnen gebaut und Kreisel durch “intelligente” Signalanlagen ersetzt werden sollen – als würde nicht jeder neu gebaute Quadratmeter Strasse nur noch zusätzlichen Verkehr nach sich ziehen und als wären all die Materialien, all die Arbeit, all die Energie, all die Rohstoffe für den Umbau und den Ausbau von Strassen unerschöpflich zur Verfügung. Es ist die gleiche Illusion, mit der vorgegaukelt wird, es wäre ein wirkungsvolles Mittel gegen Energieverschwendung, wenn man ältere durch modernere Haushaltsgeräte, Computer oder Smartphones ersetzen würde – ohne daran zu denken, was mit all den nicht mehr benötigten Geräten geschieht und wie viele Rohstoffe und wie viel Energie gebraucht werden, um die “energiesparsameren” Geräte herzustellen. Und so weiter bis hin zur Illusion, die Menschheit könnte sich dereinst, wenn Leben auf der Erde nicht mehr möglich wäre, mittels Weltraumraketen auf den Planeten Mars absetzen, um dort eine neue Zivilisation aufzubauen. Nein. Technische Probleme lassen sich nicht mit technischen Massnahmen lösen, sie werden dadurch nur noch schlimmer. Der ökologische Fussabdruck der Schweiz beträgt drei Erden, mit anderen Worten: Wir verbrauchen drei Mal mehr Ressourcen, Rohstoffe und Energie, als uns die Erde im gleichen Zeitraum wieder zur Verfügung stellt. Wir werden, früher oder später, durch Einsicht oder gezwungenermassen, nicht darum herumkommen, unseren Lebensstil und unsere Lebensgewohnheiten der Erde anzupassen. “Die Welt”, sagte Mahatma Gandhi, “hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.” Wir können aus der Zitrone nicht mehr herauspressen, als drin ist. Oder, wie es ein chinesisches Sprichwort sagt: “Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.” Der nächste Quantensprung, der unausweichlich auf uns zukommt, ist nicht der Quantensprung zu neuen Kernkraftwerken, nachdem sich schon die bisherigen mit der ganzen Problematik der Endlager für die radioaktiven Abfälle als bombastischer Fehlschlag erwiesen haben. Der nächste Quantensprung ist auch nicht das Elektromobil und schon gar nicht eine neue Zivilisation auf dem Mars. Der nächste Quantensprung ist die Besinnung auf das Wesentliche, auf eine Lebensweise, die im Einklang steht mit den Bedürfnissen der Natur und mit den Bedürfnissen zukünftiger Generationen. Der nächste Quantensprung ist die Überwindung des Kapitalismus und der selbstzerstörerischen Wahnidee, Wirtschaft und Technik müssten unaufhörlich wachsen, um nicht unterzugehen. Der nächste Quantensprung ist kein technischer, sondern ein geistiger, ein philosophischer, ein zutiefst kreativer im besten Sinne, wozu Menschen fähig sind. Denn man kann Probleme, wie schon Albert Einstein sagte, “nicht mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.”