Die Welt profitiere von der Globalisierung – Doch welche Welt? Und welche Globalisierung?

 

“Es gab schon immer Leute, die das Aus der Globalisierung voraussagten”, meint ABB-Konzernchef Björn Rosengren im Interview mit dem “Tagesanzeiger” vom 28. Juli 2022, “aber ich glaube das nicht. Die Weltwirtschaft wird globalisiert bleiben, davon bin ich fest überzeugt, weil die Welt davon profitiert.” Wie oft habe ich das schon gehört: Die Welt profitiere von der Globalisierung, sie fördere den allgemeinen Wohlstand und den Fortschritt der Menschheit, jegliche Alternative dazu wäre zum Vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Aussage, die “Welt” profitiere von der “Globalisierung”, ist indessen etwas so Ungeheuerliches, Anmassendes und offenbart sich in ihrer immensen Widersprüchlichkeit sogleich, wenn wir die Begriffe “Globalisierung” und “Welt” auch nur schon ein ganz klein wenig kritisch hinterfragen. Zunächst der Begriff “Globalisierung”: Er suggeriert ein Wirtschaftsmodell, das über alle Grenzen hinweg auf weltweiter Kooperation beruht. Was soll daran schlecht sein? Tatsache aber ist, dass sich im Laufe der Jahrhunderte, und in einem nie dagewesenen Schub vor allem in den vergangenen 30 Jahren, nicht “irgendetwas” globalisiert hat, sondern nichts anderes als das kapitalistische Wirtschaftssystem, das nicht so sehr auf gleichberechtigter Zusammenarbeit beruht, sondern auf grösstmöglicher Gewinnmaximierung durch grösstmögliche Ausbeutung von Mensch und Natur, wodurch die Kluft zwischen Arm und Reich nicht nur weltweit, sondern auch in jedem einzelnen Land stets vergrössert wird und die natürlichen Ressourcen in einer Art und Weise übernutzt werden, dass ein Überleben der Menschheit in 50 oder 100 Jahren je länger je mehr in Frage gestellt zu werden droht. Ehrlicherweise müsste man also nicht von “Globalisierung” sprechen, sondern von einem Siegeszug des Kapitalismus – ganz im Sinne des US-Ökonomen Francis Fukuyama, der 1991, anlässlich des Zusammenbruchs der Sowjetunion, von einem endgültigen Sieg des Kapitalismus über alle ihn konkurrenzierenden Gegenmodelle gesprochen hatte und damit von nichts weniger als dem “Ende der Geschichte”. Und damit sind wir beim zweiten Begriff, der uns in die Irre führen will: die “Welt”. Woraus besteht die “Welt”, von welcher der ABB-Chef sagt, sie profitiere vom gegenwärtigen weltweit agierenden Wirtschaftssystem der “Globalisierung”? Ehrlicherweise müsste er von seiner Welt sprechen. Ja, er als Chef eines erfolgreichen Schweizer Industriekonzerns, kann gut reden. Wahrscheinlich lebt er mit seiner Familie nicht in einer winzigen Mietwohnung, wahrscheinlich fährt er nicht das billigste Auto, trägt nicht die billigsten Kleider, diniert nicht in den billigsten Kneipen und ist während seinen Ferien wohl kaum in einem billigen Hotelzimmer an einer lärmigen, dichtbefahrenen Strasse anzutreffen. Es gibt sie nicht, die “Welt”. Für jeden Menschen sieht die “Welt” gänzlich anders aus. Für den Chef eines grossen Industriekonzerns sieht sie gänzlich anders aus als für seine Angestellten und noch einmal gänzlich anders für die Minenarbeiter irgendwo im fernen Afrika, welche all die Rohstoffe zu Tage fördern, ohne welche auch der erfolgreichste Industriekonzern in Deutschland oder in der Schweiz keinen einzigen Tag lang seine Produktion aufrechterhalten könnte. Für den philippinischen Grossinvestor, der reiche Finanzspekulanten aus aller Welt an Land zieht, sieht die “Welt” gänzlich anders aus als für die philippinischen Hausmädchen, die in saudiarabischen Haushalten reicher Eliten wie Sklavinnen gehalten werden, den Launen ihrer Herrinnen und Herren 24 Stunden pro Tag schutzlos ausgeliefert sind und nach getaner Arbeit zu Tode erschöpft zum Dank noch auf bestialische Weise verprügelt oder missbraucht werden. Die “Welt” sieht gänzlich anders aus, ob man als ägyptischer oder libanesischer Milliardär in der Schweiz willkommen geheissen wird und gleichsam auf dem Silbertablett eine Villa am Genfersee serviert bekommt, oder ob man, als syrischer oder afghanischer Flüchtling, an der Grenze zu Polen von schwerbewaffneten Grenzpatrouillen in die bitterkalte Nacht hinausgeprügelt wird, voller schmerzhafter Wunden, ohne medizinische Hilfe und ohne jegliche Hoffnung auf eine menschenwürdige Zukunft. Auch sieht die “Welt” wohl gänzlich anders aus, je nachdem ob man in einem der reicheren Länder des Nordens sich den Luxus leisten kann, abends in einem feinen Restaurant zu essen, oder ob man eine afghanische oder jemenitische Mutter ist, die mit ansehen muss, wie eines um das andere ihrer Kinder qualvoll stirbt, weil es nicht genug zu essen hat. Und nicht zuletzt sieht die Welt auch ganz anders aus, wenn man sie, mit dem Sektglas in der Hand, auf einer Flugreise in den Süden durch das Fensterglas von oben betrachtet, oder ob man eines jener Millionen heute und morgen geborener Kinder ist, das auf diesem Planeten vielleicht keine Zukunft mehr hat. Ja, die “Welt” ist nicht die Welt. Oder, anders gesagt: So gänzlich anders, ja gegenteilig, sieht die Welt aus, je nachdem, ob man sie von “oben” erlebt”, aus der Warte der Mächtigen, Reichen, Privilegierten, Besitzenden, – oder von “unten”, aus der Sicht der Ohnmächtigen, der Armen, der Geknechteten, der Ausgebeuteten, der Opfer von Krieg, Verfolgung und politischer Unterdrückung. Damit fällt die Behauptung Björn Rosengrens, wonach die “Welt” von der Globalisierung profitiere, wie ein Kartenhaus in sich zusammen: Richtig müsste es heissen: “Eine privilegierte und reiche Minderheit profitiert von der Globalisierung bzw. vom Kapitalismus.” Für alle anderen ist die “Welt” mehr oder weniger ein Armenhaus und für nicht wenige schlicht und einfach die Hölle. Und dass dies auch weiterhin so bleibt, dafür haben die Reichen reichlich vorgesorgt. Selbst in “demokratischen” und ganz besonders freilich in autokratisch regierten Staaten wird die Staatsmacht meistens durch Eliten verkörpert, man findet weltweit kein einziges Land, wo Angehörige der Arbeiterschaft und der Unterprivilegierten, auch wenn diese eine Bevölkerungsmehrheit bilden, in den Parlamenten auch nur annährend repräsentativ vertreten wären. Auch die Medien befinden sich weltweit zum allergrössten Teil im Besitz der Reichen und Mächtigen. Auch die Universitäten predigen unisono das Einmaleins des Kapitalismus, antikapitalistische Denkansätze sucht man in aller Regel vergebens. Und auch die Justiz befindet sich in der Hand der Reichen und Mächtigen und verfolgt in aller Härte Taschendiebe und gewalttätig gewordene Übeltäter, während wohl noch nie ein Politiker oder ein Wirtschaftsboss verurteilt worden ist, weil er wirtschaftliche Machtpolitik betreibt, welche das Leben unzähliger Menschen gefährdet. Doch es sind nicht nur die Regierungen, die Medien, die Universitäten und die Justiz. Der Kapitalismus hat sich auch bis in unsere Köpfe und unser Denken hineingefressen und die Lüge zur vermeintlichen Wahrheit gemacht, wonach jeder, der in diesem System erfolglos, arm und ausgebeutet bleibt, selber daran Schuld sei, denn er hätte sich eben ganz einfach zu wenig angestrengt. Diese Lüge ist gleich doppelt heimtückisch: Erstens, indem sie das Scheitern und den Misserfolg des Einzelnen individualisiert und das Opfer sozusagen zum Täter macht. Zweitens, indem sie die Menschen immer weiter dazu antreibt, in einem immer härter werdenden gegenseitigen Konkurrenzkampf ihre letzten Kräfte zu verausgaben. Der Kapitalismus kann deshalb nur überwunden werden, wenn wir ihn in unseren Köpfen überwinden und all die Lügen, in welche wir seit 500 Jahren verstrickt worden sind, schonungslos aufdecken. “Der Kapitalismus”, sagte der französische Philosoph Lucien Sève, “wird nicht von selbst zusammenbrechen, er hat noch die Kraft, uns alle mit in den Tod zu reissen, wie der lebensmüde Flugzeugpilot seine Passagiere. Wir müssen das Cockpit stürmen, um gemeinsam den Steuerknüppel herumzureissen.”