Hass, Intoleranz und Feindbilder sind keine Mittel, um die Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen…

 

Am 29. Juli 2022 wird die 36jährige österreichische Ärztin Lisa-Maria Kellermayr tot in ihrer Praxis aufgefunden. Alles deutet auf einen Suizid hin. Vorausgegangen ist dem Tod der Ärztin ein jahrelanger Zermürbungskrieg: auf der einen Seite die Ärztin, die sich bis zur Erschöpfung für ihre coronainfizierten Patientinnen und Patienten einsetzte, auf der anderen Seite militante “Coronaleugner”, denen jedes Mittel recht war, die Ärztin in einschlägigen Foren und persönlichen Nachrichten zu beleidigen und ihr mit dem Tod zu drohen. Bereits vor zwei Wochen unternahm sie einen ersten Suizidversuch, wurde in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, dann wieder freigelassen. Jetzt ist sie tot. Doch Lisa-Maria Kellermayr ist kein Einzelfall. Im schweizerischen Spreitenbach musste der für eine Rede anlässlich des Nationalfeiertags eingeplante Nationalrat Roger Köppel kurzfristig wieder ausgeladen werden – aufgrund von Androhungen von Störaktionen und Gewalt von anonymer Seite. Köppel wird vorgeworfen, im Ukrainekonflikt gegenüber Russland eine zu wohlwollende Haltung einzunehmen. Mit wüsten Beschimpfungen und regelrechtem Niederschreien sind auch deutsche Politikerinnen und Politiker neuerdings bei öffentlichen Auftritten immer wieder konfrontiert, so unlängst Wirtschaftsminister Habeck in Bayreuth. Und der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach wäre um ein Haar im vergangenen April durch eine Gruppe sogenannter “Querdenker” entführt worden, wenn es den Behörden nicht gelungen wäre, das Komplott rechtzeitig auffliegen zu lassen. Vier Beispiele für so etwas wie eine “Zeitenwende” in der politischen Kultur. Ob Corona, der Klimawandel, der Krieg in der Ukraine, die “Genderdebatte” oder die Politik im Allgemeinen: Der Ton wird zusehends schärfer, an die Stelle des Dialogs treten die Konfrontation, blindes Feindbilddenken und die Einteilung der Welt in “Gut” und “Böse” mit unüberbrückbaren Gräben dazwischen. Zweifellos haben die “sozialen” Medien wesentlich zu dieser Verschärfung beigetragen, ist es doch allemal viel einfacher, einen Menschen oder eine Gruppe Andersdenkender zu beleidigen, wenn dies anonym geschieht und man diesen anderen Menschen nicht Auge in Auge gegenübersteht. Toleranz droht immer mehr ein Fremdwort zu werden. Dabei ist Toleranz eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine funktionierende Demokratie, eine der wichtigsten Errungenschaften der Neuzeit. Zu oft wird Toleranz mit Standpunktlosigkeit verwechselt, dabei ist sie doch gerade das Gegenteil: Wer einen klaren eigenen Standpunkt, eine klar eigene Meinung hat, muss keine Angst haben, sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen, ohne diese gleich zum Vornherein zu verurteilen. Wer dagegen in Bezug auf seine eigene Meinung unsicher ist, versteckt sich gerne hinter Intoleranz, baut Feindbilder auf oder flüchtet sich in eine möglichst grosse Masse Gleichdenkender. Und noch etwas ist typisch für die Toleranz: Auch in noch so heftigen kontroversen Auseinandersetzungen werden stets nur Meinungen und Ideen “angegriffen”, nie aber die Menschen, welche sie aussprechen. “Intellektuell sein heisst gerecht sein”, sagte der österreichische Schriftsteller Stephan Zweig, “heisst Verständnis aufbringen für sein Gegenüber, für die Oppositionellen, für die Gegner.” Eine Gesellschaft kann sich nur vorwärtsbewegen, wenn sich ihre Bürgerinnen und Bürger nicht hinter vermeintlichen “Wahrheiten” verkeilen, sondern bereit sind, einander zuzuhören, voneinander zu lernen und aus vielen guten Ideen noch bessere entstehen zu lassen. “Ein gutes Gespräch”, so der Philosoph Hans-Georg Gadamer, “setzt stets voraus, dass der andere recht haben könnte.” Bei alledem geht es letztlich um die Frage, wie wir unsere Mitwelt und die Gesellschaft, in der wir leben, in eine positive Richtung bewegen können. Dies geht niemals mit Hass, sondern einzig und allein durch Liebe. “Wo Liebe wächst, gedeiht Leben”, sagte Mahatma Gandhi, “wo Hass wächst, droht Untergang.” Viel zu oft geht vergessen, dass es letztlich viel mehr gibt, was die Menschen miteinander verbindet, als was sie voneinander trennt. Im echten Dialog, in der Toleranz, in der Menschenliebe wird dies sichtbar. Die Probleme, vor denen die Menschheit heute steht, sind viel zu gross, als dass wir uns den Luxus leisten könnten, unsere Zeit, unsere Energie und unsere Phantasie in gegenseitigen Zermürbungskämpfen zu vergeuden. “Solange die Menschlichkeit uns verbindet”, sagte der deutsche Komponist Erich Ferstl, “ist es völlig egal, was uns trennt.” Dies ist nicht mehr und nicht weniger eine Frage des gemeinsamen Überlebens, denn, wie Martin Luther King es so wunderbar für uns Nachgeborene gesagt hat: “Entweder werden wir als Brüder und Schwestern gemeinsam überleben oder aber als Narren miteinander untergehen.”