Kantersieg der AfD in den deutschen Europawahlen vom 9. Juni 2024 und die Hoffnungen von Jamie, Lucas und Anke…

Grosse Siegerin der Europawahl in Deutschland ist mit 17 Prozent der Wählerstimmen, auf Platz zwei nach CDU/CSU, die AfD. Insbesondere bei den Jungen – die erstmals schon ab 16 Jahren stimmberechtigt waren – hat sie höchst erfolgreich abgeschnitten: 16 Prozent der bis 24Jährigen, 11 Prozent mehr als 2019, gaben ihr ihre Stimme, während die Grünen in der gleichen Altersgruppe 23 Prozent Wählerstimmen verloren. “Das Kalkül der AfD”, so das schweizerische Nachrichtenmagazin SRF vom 10. Juni, “scheint aufgegangen zu sein. Das Kalkül, konsequent die sozialen Medien mit plakativen, populistischen Schnipseln zu bedienen. AfD-Videos werden auf Tiktok hunderttausendfach angeklickt, die Hälfte der reichweitenstärksten Persönlichkeiten sind AfD-Leute.” Nicht einmal die ganze Serie von Skandalen, von welchen die Partei in jüngster Zeit erschüttert worden sei, hätten erstaunlicherweise, so SRF, eine erhebliche abschreckende Wirkung erzeugt: “Dass sich die AfD-Spitzenkandidaten Maximilian Krah und Petr Bystron wegen Spionage, Betrug und Korruption verantworten müssen und von der Parteileitung praktisch versteckt werden mussten – geschenkt. Dass Bystron für seine Russland-PR Geld genommen haben soll – unwichtig. Dass Krah die Waffen-SS verharmlost – wurscht.”

Doch vielleicht sind es ja nicht nur die Tiktok-Videos, welche so viele deutsche Jugendliche dazu “verführt” haben, die AfD zu wählen. “Wenn ich an früher denke”, so die 17jährige Jamie in einem Interview mit “20 Minuten” vom 11. Juni, “wird mir bewusst, wie viel sich durch die Ampelkoalition verschlechtert hat. Wir versinken in einer Wirtschaftskrise. So wie jetzt kann es nicht weitergehen. Besonders kritisch sehe ich die Migrationspolitik. Viele Migranten bekommen mehr Geld als deutsche Rentner.” Der 22jährige Lucas sagt: “Viele meiner Kollegen haben die AfD gewählt. Die CDU/CSU oder die SPD sind Altparteien – wählt man die, geht es weiter wie bisher.” Und auch für die 23jährige Anke ist die AfD jene Partei, die “genau die Themen anspricht, die mich bewegen: Unsere Eltern finden kaum noch eine Arbeit. Das deutsche Volk bekommt viel zu wenig Wertschätzung. Nur die AfD gibt mir Hoffnung für die Zukunft.”

Wirtschaftskrise. Migration. CDU, CSU und SPD als “Altparteien”. Arbeitslosigkeit. Fehlende Wertschätzung für die arbeitende Bevölkerung. Viel präziser kann man die heutigen Probleme nicht mehr beschreiben. Statt junge Menschen, die “rechtem” oder gar “rechtsextremem” Gedankengut folgen, zu verunglimpfen, zu verurteilen oder ihnen bloss naive Manipulierbarkeit zu unterstellen, täten wir wohl besser daran, ihre Sorgen und Ängste ernst zu nehmen, ihnen zuzuhören, von ihnen zu erfahren, wie sie sich eine schönere und bessere Zukunft vorstellen. Denn die allermeisten Jugendlichen sind wohl viel besser informiert, als wir Älteren meinen. Sie sind weit neugieriger, kommunikativer und gerechtigkeitsliebender als ein grosser Teil der älteren Generation, Seismographen, die noch feinfühliger vorausspüren, wohin sich die Gesellschaft bewegt. Sie haben noch ein ganzes langes Leben vor sich, nicht so wie all jene, die nichts anderes mehr im Kopf haben, als den Rest ihres Lebens im Stil von “Nach mir die Sintflut” irgendwo auf einem Kreuzfahrtschiff, an einem fernen Meeresstrand oder auf einer Safari in Südafrika zu verprassen.

Das Grundübel ist nicht die AfD. Das Grundübel ist auch nicht eine “fehlgeleitete” Jugend, die sich ausschliesslich in den sozialen Medien bewegt und jeglichen Kontakt zur Realität verloren hätte. Das eigentliche Grundübel ist der Kapitalismus. Ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das sich nicht am Wohl der Menschen orientiert, sondern am Wohl der unaufhörlichen Geldvermehrung in den Händen jener, die sowieso schon viel zu viel davon haben. Ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das unaufhörlich Arbeit in Kapital verwandelt, durch unendliche Profitgier die Lebensgrundlagen aller zukünftiger Generationen systematisch zerstört und das durch jahrhundertelange und bis in die Gegenwart andauernde Ausbeutung der Länder des Südens durch die Länder des Nordens sowie durch den gleichzeitig dadurch angeheizten Klimawandel auch die Hauptursache bildet für die Flucht einer immer weiter millionenfach wachsenden Zahl von Menschen aus den Zonen des sich immer weiter ausdehnenden Elends in die immer schneller schrumpfenden, noch verbliebenen Zonen des vermeintlichen Paradieses.

Männer und Frauen in Deutschland oder einem anderen europäischen Land, die keine ausreichend entlohnte Arbeit mehr finden und in Armut versinken. Jugendliche, die alle Hoffnung verloren haben und sich nur mit irgendwelchen künstlichen Aufputschmitteln noch einigermassen über Wasser halten. Krankenpflegerinnen, die sich ein Leben lang ihre Rücken kaputtarbeiten müssen und sich dennoch nicht einmal auf einen genussvollen Lebensabend freuen dürfen. Junge Männer aus Tunesien oder Marokko, welche die gefahrvolle Fahrt übers Mittelmeer knapp überlebt haben und nun irgendwo an einem deutschen oder französischen Bahnhof oder in einem Stadtpark fern ihrer Heimat anderen Menschen, die sich wiederum ihrer eigenen Heimat beraubt fühlen, zur Last fallen. Kinder und Jugendliche, die sich gegenseitig verprügeln. Nachbarinnen und Nachbarn, die sich Seite an Seite mit immer mehr Menschen aus anderen Ländern an viel zu dicht befahrenen und viel zu lauten Strassen mit immer mehr Verkehr in viel zu enge Wohnungen zwängen müssen. Von Gewalt oder Armut Vertriebene, fünfzehn Stunden am Tag auf einer Baustelle oder in einem Schlachthof sich Abrackernde, deren fast einziger Lohn darin besteht, von ihren Vorgesetzten von früh bis spät herumgehetzt und beschimpft zu werden. Alleinerziehende Mütter, die bloss für das nackte Überleben Tag und Nacht schuften muss, während ihre Kinder alleine vor dem Fernseher sitzen und mit allem Elend der Welt, ohne mit irgendwem darüber sprechen zu können, bombardiert werden. Sie alle und Abermillionen andere sind Opfer des gleichen weltweit herrschenden kapitalistischen Macht- und Ausbeutungssystem, das sich nur deshalb immer noch an der Macht zu halten vermag, weil die Lüge, dass all die leidenden, kaputtgearbeiteten, verzweifelten und aller Hoffnung beraubten Menschen an ihrem Elend selber schuld seien, immer noch nicht aufgedeckt ist. Sodass die Menschen, statt sich als Opfer des gleichen Systems zu erkennen und sich im gemeinsamen Kampf gegen dieses System zu solidarisieren, alles Üble und Böse bloss in jedem einzelnen anderen Menschen sehen, von dem sie gerade unmittelbar bedroht sind, der ihnen das Leben schwer macht, ihnen im Weg steht oder ihnen etwas vorenthält, worauf sie vermeintlich einen Anspruch haben.

“Was alle angeht”, sagte der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt, “können nur alle lösen.” Reine Symptombekämpfung bringt nichts. Es braucht so etwas wie eine neue Aufklärung. Die Erkenntnis, dass alles mit allem zusammenhängt. Und dass das “Böse” nicht im einzelnen Menschen liegt, sondern in einem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gesamtsystem, welches es den Menschen verunmöglicht, so gut zu sein, wie sie von Natur aus eigentlich gedacht wären. Denn, wie der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi schon vor 250 Jahren so treffend sagte: “Der Mensch ist gut und will das Gute. Und wenn er böse ist, so hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.”

Es braucht die Aufklärung. Das Wissen, dass dieses Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das uns allen das Leben so schwer macht und uns dazu bringt, uns gegenseitig zu hassen statt zu lieben, nicht eines Tages vom Himmel gefallen ist, sondern von Menschen aufgrund ganz bestimmter Interessen genau so aufgebaut wurde und deshalb auch jederzeit von Menschen wieder umgebaut, abgebaut und durch etwas radikal anderes ersetzt werden kann. Das wäre eigentlich gar nicht so schwierig, denn die Sehnsucht nach einer friedlichen Welt, in der alles unter alle gerecht verteilt ist, liegt im tiefsten Inneren jedes Menschen verborgen. Es wäre das Paradies auf Erden. Und es ist machbar. Würde es Wirklichkeit, dann würden auch Wut, Hass, Gewalt, künstlich aufgebaute Feindbilder und Kriegstreiberei für immer der Vergangenheit angehören.

Mehr denn je brauchen gerade in so schweren Zeiten wie der unseren insbesondere junge Menschen mit ihrem unermesslichen Potenzial an Lebenshunger, Kreativität, Phantasie und Sehnsucht nach Liebe und Gerechtigkeit glaubwürdige Visionen und den Glauben an eine Zukunft, die so ganz anderes aussehen würde als unsere Gegenwart. Doch die Gefahr ist gross, dass sich gerade die Hoffnung vieler, die jetzt aus jener Motivation, welche die 23jährige Anke als “Hoffnung für die Zukunft” bezeichnet hat, ihre Stimme der AfD gegeben haben, schon sehr bald als Illusion erweisen und wie eine Seifenblase zerplatzen könnte. Denn natürlich ist die AfD nur ein vermeintlicher Hoffnungsträger und verdankt ihren Erfolg wiederum bloss der Tatsache, dass sich die “Altparteien” schon längst von der Idee verabschiedet haben, eine von Grund auf “neue Welt” zu bauen. Viel näher an der Hoffnung auf etwas echt Neues ist da schon das Bündnis Sahra Wagenknecht. Doch gerade Wagenknechts Position zur Migrationspolitik, welche Hardlinerpositionen anderer Parteien aufgreift, zeigt, dass auch diese Partei weit weg ist von einer radikalen Kapitalismuskritik, würde eine solche doch bedeuten, die Migrationsfrage in einen viel grösseren Zusammenhang zu stellen und demzufolge deren Grundursachen – Kolonialismus, Ausbeutung bis in die Gegenwart, Reichtum der Reichen auf Kosten der Armut der Armen, usw. – ins Zentrum zu stellen und demzufolge nicht reine Symptombekämpfung , etwa durch verschärfte Asylverfahren, sondern einen grundlegenden Systemwandel zu fordern, in dem kein Land ein anderes, kein Kontinent einen anderen wirtschaftlich ausbeuten darf.

Aber wahrscheinlich müssen wir noch ein paar Schritte weitergehen und eine grundlegende Überwindung der “Parteiendemokratie” andenken. Eine solche ähnelt nämlich in fataler Weise dem kapitalistischen Konkurrenzprinzip: Jede Partei versucht mit ihrem Programm, in permanenter Konkurrenz und im Machtkampf gegen die anderen Parteien, möglichst viele Anhängerinnen und Anhänger bzw. “Konsumentinnen” und “Konsumenten” anzulocken. Wem dies am besten gelingt, hat das Spiel “gewonnen”, alle anderen haben es “verloren”. Dabei geht es zwangsläufig nicht in erster Linie um Inhalte, und schon gar nicht um solche, die unbequem sind, mit denen man anecken und mit denen man zu viele potenzielle Wählerinnen und Wähler vergraulen könnte. Somit erscheinen wertvolle, notwendige, aber im Moment noch nicht mehrheitsfähige Ideen und innovative Zukunftslösungen schon gar nicht erst auf dem Tapet – so wie es die 17jährige Jamie meinte, als sie sagte: “So wie jetzt kann es nicht weitergehen.” Es geht eben immer so weiter, wenn nicht radikal Sand ins Getriebe kommt und sich nicht nur einzelne Rädchen, sondern die ganze Maschine in eine andere Richtung zu bewegen beginnt.

Meine beste Zeit als Politiker hatte ich in der siebenköpfigen Exekutive meiner Stadt. Nur selten gab es eine Abstimmung. In der Regel wurde so lange diskutiert, bis man sich einig war und im besten Falle ein jedes Mitglied einen eigenen Teil zur Lösung beitragen konnte. Oft gab es erstaunliche Überraschungen, zum Beispiel, wenn ein Ratsmitglied eine Idee einbrachte, die bei den anderen zunächst nur Kopfschütteln bewirkte. Dann aber begann der eigentliche Denkprozess, durch Fragen, Einwände, Kritik, Einbringen anderer Lösungen, bis man am Schluss oft dann ganz nahe wieder bei jener Lösung, nun aber im Konsens, angelangt war, die am Anfang nur Kopfschütteln ausgelöst hatte. Übrigens ein uraltes, vorkapitalistisches Demokratiemodell, das schon vor Jahrhunderten in den Dorfgemeinschaften Afrikas praktiziert wurde, in der Form des “Palavers”, das so lange dauerte, bis sich alle einig waren – Demokratie durch gegenseitiges Zuhören, durch Versuch und Irrtum, durch Vertiefung, durch Respekt gegenüber Andersdenkenden, durch gemeinsames sich Bemühen um die beste Lösung für alle.

Wie erbärmlich dagegen die Parteiendemokratie, die ich während meiner schlechtesten Zeit als Politiker erlebte: In einem 200köpfigen Parlament, wo man nur zusammenkam, um sich gegenseitig bereits bis ins Letzte vorbereitete Positionen um die Köpfe zu schlagen. Bevor der nächste Redner ans Pult trat, brach die gegnerische Partei schon in höhnendes Gelächter aus. Niemand hörte einem anderen zu, alle wussten schon von Anfang an, was richtig war und was falsch. Nicht wenige versteckten sich hinter einer Zeitung, hackten pausenlos auf ihrem Handy herum oder verliessen sogar den Saal, nur um nicht andere, ihnen widersprechende Meinungen anhören zu müssen. Null Neugierde, null Zuhören, null Respekt gegenüber Andersdenkenden, null echte Fortschritte, null Lernen. Fast wie im Krieg, wo sich jeder möglichst tief in die Erde eingräbt und der Gegner bloss der ist, den man zu zerstören versucht.

Die “Parteiendemokratie” ist auch deshalb so fortschrittsfeindlich, weil sie davon ausgeht, dass die Mehrheit immer Recht hat. Dabei läge das grösste Potenzial für echten Fortschritt und gesellschaftliche Weiterentwicklung doch gerade in all jenen neuen, unkonventionellen, noch nie gedachten Ideen, die längst noch nicht mehrheitsfähig sind, aber die grosse Chance bieten, die Dinge ganz neu und anders zu sehen, als man sie bisher gesehen hatte. Auf diesem Weg einen entscheidenden Schritt vorwärtszukommen, würde aber auch bedeuten, die verhängnisvolle Spaltung in sogenannte “Profis” und “Experten” auf der einen Seite und das gewöhnliche “Volk” auf der anderen Seite, das angeblich sowieso von allem nichts versteht, zu überwinden. Echte Demokratie ist entweder Basisdemokratie oder sonst gar nichts. Denn Jamie, Lucas und Anke haben nicht schlechtere Ideen und sind nicht weniger gescheit als all die sich selber gegenseitig hochgezüchteten und von der tatsächlichen Lebensrealität der meisten Menschen unendlich weit abgehobenen Kaste bestbezahlter und mehr oder weniger machtbesessener “Expertinnen” und “Experten”, die trotz einem Riesenaufwand an Zeit und Geld bisher noch erschreckend wenig wirklich Brauchbares zustand gebracht haben.

Wenn Rechthaberei, Intoleranz, Feindbilder und gegenseitige Beschimpfungen in der heutigen Zeit immer krassere Formen annehmen, dann ist das auf den ersten Blick zwar höchst erschreckend und desillusionierend. Auf den zweiten Blick aber ist es nur ein Zeichen dafür, dass sich ein Zeitalter mehr und mehr seinem Ende entgegen neigt. Unter den zerfallenden Trümmern des Bisherigen wartet schon das Neue, voller Ungeduld. Vielleicht Jamie, Lucas und Anke. Und wahrscheinlich noch viele Millionen andere, die es kaum erwarten können…