Grundvoraussetzung für eine funktionierende Demokratie ist, sich nicht nur mit der Vergangenheit kritisch auseinanderzusetzen, sondern auch mit der Gegenwart

 

“Die Geschichte der DDR”, schreibt Peer Teuwsen in der “NZZ am Sonntag” vom 21. August 2022, “diese Diktatur, die vierzig Jahre lang Millionen von Menschen gefangen hielt, ist in weiten Teilen unaufgearbeitet. Und das in einem Land, das so stolz ist auf seinen Umgang mit den eigenen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs. Es gibt keinen Lehrstuhl für die Geschichte des Kommunismus, fast keine Museen, die sich mit der Gewalterfahrung in der DDR auseinandersetzen, kaum andere Formen des Gedenkens an die Opfer der realsozialistischen Diktatur, die Forschung ist praktisch zum Stillstand gekommen.”

Es ist zweifellos wichtig, sich mit der Vergangenheit kritisch auseinanderzusetzen. Aber mindestens so wichtig wäre eine kritische Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Wer bloss die Analyse der Vergangenheit fordert, verfestigt damit die allgemein verbreitete Auffassung, wonach wir selber in der besten aller Welten leben und “Böses” oder “Schlechtes” daher nur entweder in der Vergangenheit oder aber ausserhalb unserer eigenen Welt, ausserhalb unseres eigenen Denksystems, ausserhalb unseres eigenen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells, vorkommen kann. Tatsächlich aber ist der Kapitalismus, in dem wir leben, ein ebenso willkürliches, nach ganz bestimmten Gesetzen funktionierendes und mit zahllosen Unzulänglichkeiten, Widersprüchlichkeiten und zerstörerischen Auswirkungen behaftetes Gesellschaftssystem. Dass eine grundlegende kritische Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus nicht nur in Deutschland, sondern in sämtlichen westlich-kapitalistischen Ländern weitgehend inexistent ist, hat wohl damit zu tun, dass die systematische kapitalistische Gehirnwäsche über 500 Jahre hinweg uns so weit gebracht hat, dass wir uns ein von Grund auf anderes, nichtkapitalistisches Wirtschafts- und Gesellschaftssystem schon gar nicht mehr vorstellen können und wir daher, wie eine bekannte Redewendung sagt, den Wald vor lauter Bäumen gar nicht mehr zu sehen vermögen. Auch die verschiedenen politischen Parteien täuschen bloss eine demokratische Vielfalt vor, tatsächlich sind sie nichts anderes als einzelne Fraktionen einer grossen kapitalistischen Einheitspartei. 

Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus wäre gerade in der heutigen Zeit dringender denn je, sind doch die immer grösser werdenden Herausforderungen von der sozialen Frage über die Ernährungssicherheit bis hin zum Klimawandel mehr oder weniger direkte Folgen eines Wirtschaftssystems, das nicht so sehr auf die Bedürfnisse der Menschen und schon gar nicht auf die Bedürfnisse der Natur ausgerichtet ist, sondern auf die Bedürfnisse der Aktienkurse, der Profitmaximierung und des Bruttosozialprodukts. Kapitalismus bedeutet, dass die Güter nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo genug Geld vorhanden ist, um sie kaufen zu können – was zur Folge hat, dass in den Ländern des reichen Nordens ein Drittel der gekauften Lebensmittel im Müll landen, während weltweit 800 Millionen Menschen hungern und jeden Tag rund 15’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben. Kapitalismus heisst, dass man nicht dadurch reich wird, dass man viel arbeitet, sondern dadurch, dass man reich geboren wird. Kapitalismus bedeutet, dass das Geld nicht als Mittel zur allgemeinen Wohlstandsvermehrung dient, sondern als Instrument, welches es jenen, die es besitzen, ermöglicht, sich der Arbeitskraft jener zu bemächtigen, die es nicht besitzen – was dazu führt, dass sowohl die Zahl der weltweiten Millionäre und Milliardäre wie auch die Zahl jener, die selbst in den wohlhabenderen Ländern des Nordens von existenzieller Armut betroffen sind, unaufhörlich in die Höhe wachsen. Kapitalismus heisst, dass das weiterhin unangefochtene Dogma eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums dazu führt, dass die natürlichen Ressourcen in einem so grossen Masse ausgebeutet werden, dass ein Weiterleben der Menschen auf diesem Planeten in 50 oder 100 Jahren mehr und mehr in Frage gestellt ist.

Ja. Es gäbe genug Anlass, sich mit der Gegenwart ebenso kritisch auseinanderzusetzen wie mit der Vergangenheit. Eigentlich müsste das schon in der Schule beginnen, wo nebst dem Einmaleins und dem ABC der Buchstaben auch das ABC des Kapitalismus vermittelt werden müsste. Und erst recht müssten an den Universitäten Lehrstühle für Kapitalismuskritik und Systemtheorien eingerichtet werden. Und auch Museen sollten sich nicht nur mit den Verbrechen vergangener totalitärer Systeme befassen, sondern auch mit den ganz aktuellen und gegenwärtigen Verbrechen, die im Namen des Kapitalismus begangen werden und an denen wir alle, solange wir uns nicht darüber empören und uns dagegen auflehnen, mitbeteiligt sind. 

Echte Meinungsvielfalt, Selbstkritik und das Hinterfragen von all dem, was bloss als “gottgegeben” und “alternativlos” angesehen wird, dies alles sind unverzichtbare Voraussetzungen für eine funktionierende Demokratie. Denn die “moderne Diktatur”, so der US-amerikanische Schriftsteller Gore Vidal, “kommt nicht mit braunen und schwarzen Uniformen, sondern mit Unterhaltung, mit Fernsehen, mit Spass und mit einer Erziehung, die verdummt.”