Michail Gorbatschow und die versäumten Chancen des Westens

 

“Michail Gorbatschow”, so twitterte die deutsche Aussenministerin Analena Baerbock am 30. August 2022, ” hat sich in Schicksalsmomenten unserer Geschichte von Frieden und der Verständigung zwischen den Menschen leiten lassen. Das Ende des Kalten Kriegs und die deutsche Einheit sind sein Vermächtnis. Wir trauern um einen Staatsmann, dem wir dafür ewig dankbar sind.”

Die von nahezu sämtlichen westlichen Politikern und Politikerinnen geteilte Dankbarkeit gegenüber dem letzten Präsidenten der Sowjetunion dafür, dass er den Kalten Krieg beendet hat, hat jedoch noch eine andere, weitaus fragwürdigere und zwiespältigere Seite. Denn Gorbatschow strebte nicht nur mehr Demokratie und Wirtschaftsreformen innerhalb der Sowjetunion an – deren Zerfall nicht sein Ziel gewesen war -, sondern er strebte weit darüber hinaus eine neue Weltordnung an, die auf globaler Partnerschaft, Frieden und Abrüstung aufbauen sollte. “Wir alle”, sagte er, “sind Passagiere an Bord des Schiffs Erde, und wir dürfen nicht zulassen, dass es zerstört wird. Eine zweite Arche Noah gibt es nicht.” Immer wieder betonte Gorbatschow die Bedeutung der friedlichen Zusammenarbeit über alle Grenzen hinweg: “Die Nationen der Welt ähneln heute einer Gruppe von Bergsteigern, die durch ein Kletterseil miteinander verbunden sind. Entweder steigen sie zusammen weiter bis zum Gipfel, oder sie stürzen zusammen in einen Abgrund.” Nicht nur gegenüber dem Kommunismus legte er eine kritische Haltung an den Tag, sondern ebenso gegenüber dem Kapitalismus – beide Wirtschaftssysteme müssten überwunden werden, um einer neuen, menschenfreundlichen Ordnung Platz zu machen, einem neu zu schaffenden Humanismus, der sowohl die Nachteile des Kommunismus wie auch jene des Kapitalismus überwinden müsste: “Für die Zukunft besteht die Wahl nicht zwischen dem Kapitalismus und dem Sozialismus, sondern es geht um eine Synthese all jener Erfahrungen, die wir in diesen beiden Systemen gemacht haben.” Konsequenterweise vertrat Gorbatschow dabei auch stets eine unmissverständliche Friedens- und Abrüstungspolitik: “Eben deshalb ist es notwendig, die nukleare Guillotine niederzureissen. Die kernwaffenbesitzenden Mächte müssen über ihren nuklearen Schatten springen, hinein in eine kernwaffenfreie Welt.” Doch Gorbatschow stellte nicht nur die Kernwaffen in Frage, sondern ganz generell den Krieg als Mittel zur Lösung politischer Konflikte: “Keines der aktuellen Probleme – Massenvernichtungswaffen, Armut, Umweltschutz und Terrorismus – kann mit militärischen Mitteln gelöst werden.”

Der Westen hätte nur die ausgestreckte Hand Gorbatschows ergreifen müssen und Veränderungen globalen Ausmasses in Richtung sozialer Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden und Völkerverständigung wären möglich geworden. Doch was geschah nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion? Die ausgestreckte Hand wurde nicht ergriffen, sondern zurückgeschlagen. Nicht der Beginn einer neuen friedlichen Weltordnung wurde gefeiert, sondern, wie es der amerikanische Ökonom Francis Fukuayama sagte, der “endgültige Sieg des westlichen Wirtschaftsmodells über alle mit im konkurrenzierenden Systeme”. Und der damalige US-Präsident George Bush sagte im Februar 1990: “Wir haben gewonnen, nicht sie.” Mit anderen Worten: Wir, der Westen, haben die Schlacht gewonnen und nun bestimmen wir alleine, wie es weitergehen soll. “Dies”, schreibt der SPD-Politiker Klaus von Dohnany in seinem kürzlich erschienenen Buch “Nationale Interessen”, “erweist sich heute als grösste vertane Chance für einen dauerhaften Frieden in Europa und für die Möglichkeit, Russland heute in den globalen Auseinandersetzungen als Partner zu behandeln.”

Den Triumph des Siegers sollte Russland nun auf Schritt und Tritt zu spüren bekommen. Obwohl der amerikanische Aussenminister Jim Baker und Präsident Bush Gorbatschow 1991 zugesichert hatten, die NATO “keinen Inch” nach Osten auszudehnen, erfolgte genau dies, Land um Land, bis an die Grenzen Russlands – ein Vorgehen, das man, auf der Gegenseite, damit vergleichen könnte, dass sich Mexiko und Kanada einem Militärbündnis mit Russland anschliessen würden, was die USA wohl kaum so mir nichts dir nichts akzeptieren würden. Es wird zwar oft gesagt, der Westen hätte bezüglich NATO-Osterweiterung nie eine schriftliche Zusicherung abgegeben. Gorbatschow musste sich also den Vorwurf gefallen lassen, gegenüber dem Westen zu leichtgläubig gewesen zu sein und sich auf mündliche Aussagen verlassen zu haben. In völliger Missachtung von Gorbatschows Zukunftsvision einer friedlichen Weltordnung steht auch die Tatsache, dass die USA rund um Russland herum Hunderte von Militärstützpunkten eingerichtet haben und die NATO über ein Militärbudget verfügt, dass 20 Mal höher ist als jenes von Russland. Eine weitere Machtdemonstration des Westens erfolgte 2019, als US-Präsident Donald Trump den INF-Vertrag aufkündigte, welcher 1985 zwischen Reagan und Gorbatschow ausgehandelt worden war und die Stationierung von nuklearen Mittelstreckenraketen in Europa verboten hatte. “Gorbatschow kritisierte diesen Schritt scharf als  leichtsinnig und als Gefahr für den Weltfrieden”, schreibt der “Tagesanzeiger” am 1. September 2022, “doch da hörte ihm längst niemand mehr zu.”

Da hörte ihm schon längst niemand mehr zu. Dabei wäre Gorbatschows Vision einer friedlichen Weltordnung heute angesichts der zunehmenden Spannungen zwischen den Grossmächten aktueller denn je. Es nützt niemandem etwas, wenn nun plötzlich alle vom “Friedensengel” Gorbatschow schwärmen. Es nützt auch niemandem etwas, dass man ihm den Friedensnobelpreis verliehen hat. Es sei denn, man nähme ihn und seine Botschaft der Menschenliebe wenigstens jetzt, nach seinem Tode, ernst. Würde sich das westlich-kapitalistische Machtsystem ebenso friedlich und gewaltlos auflösen, wie sich die Sowjetunion aufgelöst hat, dann, ja dann könnte man tatsächlich von einem wahren Zeitensprung in der Menschheitsgeschichte sprechen, denn, wie Gorbatschow sagte: “Gefahr wartet nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.”