Die Trauerfeierlichkeiten für Queen Elizabeth II: Wer sich eingebildet hat, die Menschheit hätte das Zeitalter des Absolutismus überwunden, muss sich augenreibend eines Besseren belehren lassen…

 

Wer sich eingebildet hat, die Menschheit hätte das Zeitalter des Absolutismus endgültig überwunden, muss sich augenreibend dieser Tage eines Besseren belehren lassen: Vom Ausmass der Würdigung, welche ein ganzes Volk gegenwärtig der verstorbenen britischen Königin Elizabeth II entgegenbringt, hätte wohl nicht einmal König Louis XIV, Inbegriff des französischen Absolutismus, kurz vor seinem Tode im Jahre 1715 zu träumen gewagt…

Dabei gäbe es weit mehr als genug Gründe, hinter die Regierungszeit von Elizabeth II einige kritische Zeichen zu setzen. Doch Kritik ist in diesen Tagen höchst unerwünscht. Wer sie dennoch zu äussern wagt, wird schon fast als Staatsverräter abgestempelt. Gefragt ist die Einhelligkeit, das Zusammenstehen, die Verklärung, das schon fast heilige Festhalten an einem Mythos, der aus einer ganz gewöhnlichen sterblichen Frau geradezu eine Ikone werden lässt. Ein beklemmendes Beispiel dafür, was ein Massenwahn bewirken kann, in dem jegliche Sicht auf dunkle oder gegenteilige Seiten der Geschichte ganz und gar zum Schweigen gebracht wird.

Doch die Tränen der Trauernden sind scheinheilige Tränen. Sie gelten nicht vergessenen Opfern der Geschichte, sondern im Gegenteil dem verstorbenen Oberhaupt eines Landes, das im Laufe seiner über viele Jahrhunderte aufrechterhaltenen Kolonialgeschichte für entsetzliche Gräueltaten rund um die Welt verantwortlich ist, Gräueltaten, zu denen eben diese verstorbene Staatsoberhaupt stets nur geschwiegen und es niemals nötig befunden hat, sich dafür offiziell zu entschuldigen.

Die Liste ist lang. Sie beginnt mit dem transatlantischen Sklavenhandel, in den Grossbritannien in grossem Stil involviert war. Grossbritannien besass die weltweit grösste Flotte von Sklavenschiffen und Liverpool galt als “Hauptstadt” des Sklavenhandels mit dem grössten Sklavenmarkt der Welt. Rund 40 Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen wurden über drei Jahrhunderte hinweg ihrer Heimat entrissen und zu unmenschlicher Arbeit auf den Plantagen und in den Bergwerken Amerikas verdammt, zahllose Männer und Frauen, welche diesem Schicksal zu entrinnen versuchten und sich nicht schon auf den Schiffen der Sklavenhändler das Leben genommen hatten, wurden zu Tode gefoltert. Wenn dereinst die wahre Geschichte der Menschheit geschrieben wird, dann wird der transatlantische Sklavenhandel wohl als eines der grössten Verbrechen der Menschheitsgeschichte beschrieben werden.

Es würde zu weit führen, sämtliche Verbrechen, die von Engländern zur Zeit des “British Empire” begangen wurden, an dieser Stelle aufzuzählen. Stellvertretend soll hier von vier Beispielen die Rede sein. Erstens das im April 1919 von britischen Soldaten im indischen Amritsa begangene Massaker an unbewaffneten, für die Freilassung politischer Gefangener Demonstrierender, bei dem Hunderte von Männern, Frauen und Kindern ums Leben kamen. Rechnet man die Opfer weiterer Auseinandersetzungen zwischen den britischen Kolonialherren und der indischen Zivilbevölkerung dazu, so kommt man auf die schier unglaubliche Zahl von 75’000. Zweitens die Mau-Mau-Rebellion kenianischer Widerstandskämpfer zwischen 1952 und 1961, die von der britischen Besatzungsmacht mit ganz besonderer Brutalität niedergewalzt wurde: Rund 150’000 Kenianerinnen und Kenianer wurden interniert, gefoltert, verstümmelt, bewusstlos geprügelt, bei lebendigem Leib verbrannt, hingerichtet oder sexuell missbraucht, 90’000 kamen ums Leben. Drittens die Suezkrise 1956, bei der unter anderem britische Truppen Tausende ägyptische Unabhängigkeitskämpfer töteten. Schliesslich, viertens, die Unterstützung des südafrikanischen Apartheidregimes durch Grossbritannien, die als Folge europäischer Kolonialherrschaft bis heute den Alltag Südafrikas prägt.

Für alle diese und viele weitere, hier nicht erwähnte Verbrechen hat sich, wie gesagt, Queen Elizabeth II nie entschuldigt und nie öffentlich dazu Stellung genommen. Nicht einmal zur “Black-Lives-Matter”-Bewegung, mit der eine Geschichte jahrhundertelanger Unterdrückung wenigstens ein klein wenig aufgearbeitet hätte werden können, hat sich Elizabeth II jemals geäussert. Dies alles ist umso stossender, als es ja zwischen der kolonialen Ausbeutungsgeschichte und jenem Reichtum Europas, zu dem sich zweifellos auch das britische Königshaus zählen darf, einen ganz direkten Zusammenhang gibt: Über 500 Jahre hinweg hat die Ausplünderung des Südens durch den Norden all die Schätze und die Früchte aus Zwangs- und Sklavenarbeit im Süden nach und nach in jenes Gold verwandelt, das den Grundstein bildet sollte für jenen europäischen Wohlstand, von dem wir bis heute profitieren. Wenn der neue König Charles III nun von seiner verstorbenen Mutter rund 500 Millionen Franken erben wird, dann steckt auch in diesem Geld ein Teil jener Qualen, jenes Elends und jener Zerstörungen, welche Grossbritannien über so lange Zeit in seinen Kolonien angerichtet hat.

Wann endlich werden nicht nur absolutistische Herrscher zu Grabe getragen, sondern auch der Absolutismus als solcher? Wann endlich werden die wahren Ursachen jahrhundertelanger Ausbeutung und all die weltweit verheerenden Zusammenhänge zwischen Armut und Reichtum aufgedeckt? Wann wird die Geschichte nicht mehr die Geschichte der Herren, der Reichen und Mächtigen sein, sondern die Geschichte ihrer Opfer? Wann wird kritischer Journalismus wieder die Regel sein und nicht die seltene Ausnahme? Wann endlich werden die Tränen nicht mehr für jene vergossen, die auf der Sonnenseite der Geschichte stehen, sondern für jene, die im Schatten sind? Wenn wir das verfolgen, was dieser Tage in Grossbritannien geschieht, dann ist das alles wohl noch ein sehr, sehr weiter Weg…