Für den in den letzten Jahren sprunghaft angestiegenen Schulabsentismus – unentschuldigtes Fernbleiben von der Schule – sieht René Donzé in der “NZZ am Sonntag” vom 5. Mai 2024 vor allem zwei Ursachen: Ängste und Mobbing. Weiter werden erwähnt: Sozialphobie, Kriegsangst, Spätfolgen von Corona, Schnelllebigkeit der Gesellschaft, soziale Medien, häufiger Wohnortswechsel, Arbeitslosigkeit der Eltern, Armut, Verweichlichung. Nur am Rande ist die Rede davon, dass auch die Schule selber eine Ursache sein könnte.
Befragt man aber Kinder und Jugendliche, wird schnell deutlich, dass sie selber in erster Linie unter dem wachsenden schulischen Prüfungs- und Leistungsdruck leiden. Dazu kommt die Fremdbestimmung schulischen Lernens: Die Kinder und Jugendlichen dürfen nicht selber entscheiden, was und wie sie lernen möchten, die Lerninhalte werden ihnen weitgehend vorgeschrieben. Zudem werden sie durch das Prüfungs- und Notensystem permanent in einen gegenseitigen Konkurrenzkampf gezwungen, aus dem die einen immer wieder als vermeintliche „Gewinner“ und die anderen als „Verlierer“ hervorgehen, was bei diesen zu einer endlosen Kette von Misserfolgserlebnissen bis hin zum Verlust jeglichen Selbstvertrauens führen kann, der eigentlichen Grundvoraussetzung für erfolgreiches Lernen.
Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mögen schwierig sein, oft auch die Familienverhältnisse, die soziale Situation, der Einfluss der sozialen Medien, möglicherweise auch die Folgen der Coronakrise. Wäre die Schule aber ein Ort des Wohlbefindens und der Lebensfreude, wo alle Kinder ausnahmslos erfahren dürften, wie wertvoll sie sind und über was für wunderbare Begabungen ein jedes von ihnen verfügt, dann würden wohl kaum so viele Kinder so ungern zur Schule gehen. Vermutlich wäre wohl eher das Gegenteil der Fall.
“Keine Schonhaltung für Schulschwänzer”, fordert René Donzé. Er spricht von einer “erodierenden psychischen Gesundheit der Jugend”, ohne die Wechselwirkung zwischen dieser “psychischen Gesundheit” und einer Schule zu erwähnen, die viel zu wenig sorgsam auf die eigentlichen Lern- und Lebensbedürfnisse der Kinder und Jugendlichen eingeht. Nicht zuletzt wirft er den Eltern vor, zu “lasch” zu reagieren – so müsse man sich nicht wundern, wenn die Absenzen weiter zunähmen. Eine “Schonhaltung” schade den Jungen bloss. Doch ist wohl zu bezweifeln, dass weniger “Schonhaltung” und mehr Härte den Schulabsentismus verhindern könnten. Viel eher wäre wohl das Gegenteil der Fall: Der Widerwillen der Kinder und Jugendlichen gegenüber der Schule würde dadurch wahrscheinlich eher noch zunehmen.
Vielleicht müsste man bei dieser Gelegenheit nur wieder einmal den guten alten Johann Heinrich Pestalozzi lesen, den eigentlichen “Vater unserer Volksschule”. Dieser sagte nämlich: Wenn etwas im Unterricht nicht funktioniere, dann müsse der Lehrer stets zuallererst die Ursache bei sich selber suchen. Und erst, wenn er sie, was höchst selten sei, nicht bei sich selber finde, könne er sich ja überlegen, wo sie vielleicht sonst noch irgendwo sein könnte…