19. April 2024, Klimastreik in Zürich: Und mittendrin Olivia, 11 Jahre, an der ersten Klimademo ihres Lebens…

Wie viele werden wohl kommen? Olivia, 11 Jahre, kann es kaum erwarten. Es ist die erste Klimademo ihres Lebens. Mindestens vier, scherze ich, du, dein Papa, deine Mama und ich. Nein, lacht sie zurück, mindestens fünf, irgendwer muss das Ganze ja organisiert haben…

Doch glücklicherweise sind es dann nicht nur fünf, sondern etwa 4000, die sich an diesem 19. April 2024 trotz strömendem Regen und Kälte auf dem Helvetiaplatz in Zürich versammeln. Musik dröhnt aus einem Lautsprecherwagen mit vorgespanntem Traktor, da und dort werden Flugblätter verteilt und Transparente aufgerollt. Fünf vor sechs Uhr, wieder ist ein Tram voller Neuankömmlinge eingetroffen, von allen Seiten strömen sie jetzt auf den Platz, junge und ältere Menschen, Frauen und Männer, Omas und Opas, Kinder und Jugendliche. Olivia kommt mit Zählen nicht mehr nach.

Und dann, wie ein Theaterstück, das man perfekter nicht inszenieren könnte. Nur schon diese sich im Schritttempo vorwärts bewegende Menge, wie ein Fluss wälzt sie sich durch die Strassen, ein Bild des totalen Friedens, niemanden rempelt irgendwen an, alle sind fröhlich und lachen sich gegenseitig zu, geniessen es einfach, mit so vielen anderen Menschen zusammen zu sein, durch eine gemeinsame Idee, eine gemeinsame Vision, eine gemeinsame Leidenschaft miteinander verbunden. Wie ein den ganzen Körper durchdringender Herzschlag: Hier eine Parole und, kaum ist sie verklungen, dort eine andere, immer wieder neue Bewegung entfachend, tanzende, auf und ab wippende, nicht mehr zu Ruhe kommende Körper. Sprecherinnen mit Megafonen, bis ihnen die Stimme ausgeht. Dann wieder die vom Traktor gezogene Tanzbühne, dumpfe Bässe, die alles zum Vibrieren bringen, ein Stück Streetparade mitten in der Klimademo. Eine Gruppe von Trommlerinnen und Trommlern, die alle Kraft, die in ihren Körpern steckt, auf ihre Instrumente hauen, Rundumstehende, die begeistert mitklatschen, immer schneller, immer lauter. Und immer wieder Windstösse, der von allen Seiten heranstürmende Regen, flatternde Schirme, eine Kartonschachtel auf dem Kopf eines jüngeren Mannes, um sich gegen die Nässe zu schützen. Gleichzeitig wird es immer dunkler, die Gebäude am Strassenrand versinken nach und nach im Unsichtbaren, während auf der Tanzbühne jetzt Lichter in allen Farben zucken. Und mittendrin Olivia, 11 Jahre jung, elektrisiert, überwältigt von all den Eindrücken, dieser Lebensfreude, diesen lachenden Gesichtern, den vielen Fahnen und und ganz besonders jener von ihnen, die ihr Papa gebastelt hat und die nun auch sie, Olivia, eine Zeitlang tragen darf, bis sie ihr zu schwer wird. Dieser Tag wird wohl für immer in der Erinnerung ihres Lebens einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen…

Ja, diese gemeinsame, so logische und einfache und doch auf nahezu unbegreifliche Weise in immer noch in so weiter Ferne liegende Vision eines guten Lebens nicht nur für heute, sondern auch für morgen und übermorgen, und nicht nur für einzelne mit besonderem Glück und besonderen Privilegien beschenkte Orte, sondern für alle Menschen über alle Grenzen hinweg. Auf dem Traktor, welcher den grossen Musikwagen zieht, klebt ein Schild mit der Aufschrift “Free Palestine!” und erinnert daran, dass es schon längst nicht mehr bloss um die Reduktion von Treibhausgasemissionen oder die Umstellung von fossiler auf erneuerbare Energieproduktion geht, sondern um etwas viel Grösseres und Umfassenderes. Es geht um weltweiten Frieden und Gerechtigkeit nicht nur zwischen Mensch und Natur, nicht nur zwischen Gegenwart und Zukunft. Es geht auch um die Überwindung sämtlicher Formen von Ausbeutung von Menschen durch andere Menschen. Es geht um die Überwindung jeglicher Machtverhältnisse, dank denen sich Einzelne auf Kosten anderer bereichern. Es geht um die Überwindung von Krieg und jeglicher Anwendung von Gewalt in Konflikten zwischen Menschen, Völkern oder Ländern. Es geht um die Überwindung eines globalen Wirtschaftssystems, welches nicht auf die Bedürfnisse der Menschen ausgerichtet ist, sondern auf die Bedürfnisse einer sich stetig vermehrenden Menge von Geld und Macht in den Händen einer Minderheit auf Kosten der grossen Mehrheit der Menschen – das, was in der kürzest möglichen Form auch bei dieser Kundgebung mit der Parole SYSTEM CHANGE, NOT CLIMATE CHANGE immer und immer wieder skandiert und auf den Punkt gebracht wird. Frieden, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte lassen sich nicht voneinander trennen oder gar gegeneinander ausspielen. Es gibt nur entweder Frieden in und mit allem oder aber Krieg in unendlich vielen mehr oder weniger gewalttätigen und zerstörerischen Formen. Es gibt nur entweder das blinde Festhalten an der Vergangenheit oder aber den radikalen, mutigen Schritt in eine von Grund auf neue und andere Zukunft. Heute noch werden Klimastreiks, Friedenskundgebungen für Palästina oder die Ukraine, Feiern zum Ersten Mai, Frauenstreiks und Kundgebungen gegen Rassismus völlig unabhängig voneinander organisiert und durchgeführt, als hätte das eine mit dem andern nichts zu tun. Tatsächlich aber hängt alles mit allem zusammen. Würde man alle diese voneinander getrennten Bewegungen in eine einzige, gemeinsame Bewegung für Frieden und Gerechtigkeit zusammenführen, und dies weltweit – kaum auszudenken, welche Auswirkungen dies haben würde…

Schon auf der Fahrt im Zug nach Zürich wollte Olivia unbedingt wissen, ob es überhaupt noch gelingen könne, den Klimawandel aufzuhalten. Als wir Erwachsene hin und her zu diskutieren begannen, ob es dafür nicht vielleicht schon zu spät sein könnte, liess sie dennoch nicht locker und wollte es nicht für möglich halten, dass wir es gemeinsam nicht schaffen würden. Und ja, hat sie nicht recht? Gibt es in dieser so dunklen Zeit voller Ängste und Zweifel nicht auch immer häufigere Anzeichen von Widerstand, Hoffnung und Rebellion, ein immer stärker wachsendes Bewusstsein dafür, dass Geschichte nicht einfach etwas ist, was schicksalshaft über uns Menschen hereinbricht, sondern etwas, was wir Menschen mit unseren eigenen Händen, unserer eigenen Kraft, unserem eigenen Handeln, unseren eigenen Visionen, unseren eigenen Begabungen und Leidenschaften und unserer eigenen Liebesfähigkeit verändern und gestalten können? Könnte es sein, dass wir dem “Kipppunkt”, an dem die alte in die neue Zeit umschlagen wird, schon viel näher sind, als wir uns dessen bewusst sind? Ist nicht allein schon die Tatsache, dass von uns vieren im Zug nach Zürich die elfjährige Olivia die meiste Zeit geredet hat und wir Erwachsene während der meisten Zeit ihr zugehört haben, genau einer dieser unendlich vielen Meilensteine an allen Ecken und Enden auf dem Weg in eine neue Zeit?

Noch nie habe ich so wild und ausgelassen tanzende Menschen gesehen wie an diesem 19. April 2024 in Zürich. Vielleicht auch wegen des Regens und der Kälte. Vielleicht auch, um so den Widerstand in ganz urtümlicher, aus dem tiefsten Inneren schöpfenden, sprach-loser Weise kundzutun, sozusagen jene Energie anzapfend, die weltweit alle Menschen in ihrem Innersten miteinander verbindet. Und unwillkürlich muss ich an jene legendären Sonnentänze der amerikanischen Ureinwohnerinnen und Ureinwohner denken, mit denen sie zum allerletzten Mal die Übermacht der aus Europa eingedrungenen weissen Kolonialherren zu brechen versuchten. Dass die Weissen ihnen militärisch überlegen waren, wussten sie schon lange und hatten jeglichen Widerstand aufgegeben. Kurz vor der letzten vernichtenden Auslöschung ihrer traditionellen Lebensweise beschlossen sie auf einer grossen stammesübergreifenden Versammlung, so lange zu tanzen, bis wieder ein Gleichgewicht zwischen ihrer und der fremden Kultur hergestellt sein würde. Und so tanzten sie wochenlang, Tag und Nacht, bis zur Erschöpfung. Der erhoffte Erfolg blieb aus. Aber vielleicht hat ja das, was heute in Zürich geschieht, damit etwas zu tun. Vielleicht ist es ganz einfach so, dass sich die Sehnsucht des Lebens nach sich selber schlicht und einfach nicht auslöschen lässt und sich immer und immer wieder aufbäumt, so lange es Menschen gibt. Bis dann, allem Widerstand zum Trotz, eines Tages das, was sich die Sonnentänzerinnen und Sonnentänzer im fernen Amerika damals erträumt hatten, dennoch Wirklichkeit wird.

Im Zug auf dem Heimweg ist Olivia dann schon nach wenigen Minuten in einen tiefen Schlaf gefallen. Kein Wunder, nach zwei Stunden im Regen und in der Kälte und so vielen Eindrücken an der allerersten Klimademo ihres noch so jungen Lebens. Wovon sie jetzt wohl träumt? Es liegt an dir und mir. Es liegt an der Oma, die mit letzter Kraft, auf ihren Rollator gestützt, in dem vieltausendköpfigen Zug mithumpelte. Es liegt an dem jungen bärtigen Mann, der zuerst ungläubig den so ausgelassen tanzenden Frauen zuschaute, bis er, auf einmal, selber zu tanzen begann. Es liegt aber auch an dem elegant und mit Krawatte gekleideten älteren Herrn, der verstohlen hinter dem Vorhang in einem der oberen Stockwerke eines angrenzenden Bankgebäudes hervorlugte und es sich nicht zu verkneifen vermochte, mit seinem Handy den Anblick dieser farbenfrohen, überschäumenden Menschenmenge festzuhalten. Es liegt aber auch an all denen, die an diesem Tag zuhause in der warmen Stube geblieben sind und von diesem Feuer, welches da so hoffnungsvoll entfacht worden war, immer noch nichts wissen wollten, das Kind in ihnen in meterdicke Watte eingehüllt, durch die, immer noch, auch nicht die lautesten Schreie verdursteter Kinder aus dem fernen Afrika hindurchzudringen vermögen, und auch nicht das Wehklagen Abermilliarden von Tieren und Pflanzen in sterbenden Wäldern, Seen, Flüssen und Meeren. Es liegt an dir und mir und uns allen, ob Olivias Traum von einer liebevollen, lebenswerten, lustigen, tanzenden und singenden Welt über alle Grenzen hinweg doch noch eines Tages Wirklichkeit wird oder nicht…