Das Märchen von der sich wiederholenden Geschichte: Eine neue Zeit kommt, aber sie kommt nicht von selber

Immer wieder, und in der heutigen Zeit ganz besonders, geistert dieses Märchen durch die Lande, die Geschichte würde sich endlos stetig wiederholen. Dann kommen die Vergleiche mit 1933 oder mit dem Vorabend des Ersten Weltkriegs. So als handle es sich um Gesetzmässigkeiten, denen wir machtlos ausgeliefert wären und die wie Naturkatastrophen regelmässig über uns hereinbrächen. Oder, wie mein Vater mich stets, wenn ich an ein mögliches Ende aller Kriege glaubte, belehrte: “Weisst du”, sagte er, “Kriege gab es schon immer und wird es deshalb auch immer wieder geben.”

Als sei alles sozusagen vorprogrammiert. Als sei die Geschichte mächtiger als wir Menschen. Als wären wir bloss das Opfer irgendwelcher höherer Mächte, die das alles schon lange so geplant hätten. Die Folge: Ein verheerender Fatalismus. Das Gefühl so vieler Menschen, etwas ganz Grossem, Schwerem und Schrecklichem hilflos ausgeliefert zu sein, nichts dagegen tun zu können. Als wäre jeglicher Widerstand ohnehin zwecklos. Nur so ist zu erklären, weshalb in diesen Tagen, da ganz unverhohlen und offen mehr denn je wieder die Rede ist von einem drohenden dritten Weltkrieg, nicht Millionen und Abermillionen von Menschen auf der Strasse sind und für Frieden demonstrieren, nicht an allen Häusern quer durch alle Länder Peace-Fahnen hängen und nicht jeden Tag Abertausende Friedensbriefe geschrieben werden an jene, die über Krieg oder Frieden entscheiden. Lieber flüchtet man sich in alle noch so absurden Freizeitvergnügungen, um sich von all dem Bedrohlichen abzulenken. “Ich würde das nicht aushalten”, sagte mir eine jüngere Frau, “ich muss abschalten und mir möglichst viele Momente schaffen, in denen ich das Leben geniessen kann.” Aber wie soll man denn das Leben geniessen können, wenn man doch weiss, dass genau zur gleichen Zeit unzählige Kinder im Gazastreifen unter den Trümmern ihrer zerbombten Häuser um ihr Leben schreien, während ihre Eltern mit blossen Händen nach ihnen graben, und die Kinder immer weiterschreien, bis das Schreien irgendwann ganz leise wird und irgendwann auf einmal verstummt? Und wie soll man das Leben geniessen können, wenn doch ganz tief im Inneren diese Angst trotz aller Ablenkungen nicht auszulöschen ist, diese Angst, dass das, was für die Kinder im Gazastreifen heute “normal” ist, auch für unsere eigenen Kinder und uns selber schon bald ebenso “normal” sein könnte?

Wer kann ein Interesse an diesem Fatalismus, an dieser Schicksalsgläubigkeit, an diesen Ohnmachtsgefühlen, an all diesen Ablenkungen und Selbsttäuschungen haben? Doch nur jene, die aus dem Tod anderer einen Nutzen ziehen, nur jene, die eben kein Interesse daran haben, dass Kriege für immer ein Ende finden, so wie der US-Aussenminister Antony Blinken, der kürzlich in aller Öffentlichkeit sagen konnte, er hoffe, dass der Krieg in der Ukraine noch möglichst lange weitergehe, könnten dadurch doch zahlreiche Arbeitsplätze in der US-Rüstungsindustrie erhalten werden – eigentlich hätte er auch sagen können, dass hiermit dieser Rüstungsindustrie weiterhin lukrative und immer noch lukrativere Aufträge gesichert werden können, aber so weit wollte er dann offensichtlich auch wieder nicht gehen.

Interesse an diesem Fatalismus und an all diesen Ablenkungen können nur jene weltweit Reichsten und Mächtigsten haben, die nicht wollen, dass eine weltweite Revolution des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit ausbricht, weil dann nämlich all die Privilegien, die sie als Minderheit auf Kosten der überwältigenden Mehrheit friedliebender Menschen über alle Grenzen hinweg geniessen, fundamental bedroht wären. Und so setzen sie alles daran, dass die Wahrheit nicht ans Licht kommt, halten unerbittlich an ihrer Machtbesessenheit fest und sind dabei schon so blind geworden, dass sie nicht einmal mehr merken, dass, wenn die ganze Welt untergeht, auch sie selber untergehen.

Doch es ist nicht zu spät. Die Geschichte muss sich nicht zwangsläufig wiederholen. Sie darf sich nicht wiederholen. Jedes neu geborene Kind ist der lebendige Beweis dafür, dass eine der wertvollsten oder vielleicht sogar die wertvollste aller Gaben, über welche die Menschen verfügen, darin besteht, aus Fehlern lernen zu können. Ohne diese Gabe wäre es nicht möglich, dass sich ein Baby, das wie ein auf dem Rücken liegender Käfer hilflos am Boden zappelt, im Verlaufe von nicht einmal vier Jahren in ein Kind verwandelt, das sich mit traumtänzerischer Sicherheit durch die Welt bewegt, alle seine Sinne voll ausgebildet hat, schon eine unglaubliche Vielzahl an Geheimnissen seiner Umwelt durch eigenes Forschen entschlüsselt hat und auf vielfältigste und subtilste Weise mit seiner Umgebung kommunizieren kann, alles erlernt auf dem Weg von Versuch und Irrtum, Scheitern und Gelingen, Fehler machen und daraus lernen. Die Erwachsenen müssten es bloss gleich machen wie die Kinder, dieses frühe Wunderwerk auch im späteren Leben weiterführen: Aus gemachten Fehlern lernen, alles, was sich nicht bewährt hat, neu erfinden, Gewalt aufgrund viel zu vieler schlechter Erfahrungen in Gewaltlosigkeit verwandeln, Hass in Liebe, Krieg in Frieden. Und dies alles im festen Vertrauen, dass der Mensch im Grunde gut ist, so wie das der bekannte Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi schon vor über 200 Jahren wusste: “Der Mensch ist gut und will das Gute. Und wenn er böse ist, dann hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.”

Der Mensch kann und muss stärker sein als die Geschichte. Nicht die Geschichte muss ihn bestimmen, er muss die Geschichte bestimmen. Alle Märchen und Mythen, die im Laufe der Jahrhunderte über die kindliche Seele geschüttet wurden und immer noch geschüttet werden, müssen überwunden und beiseitegeschafft werden. Man muss dem Menschen nichts aufzwingen, ihn nicht belehren, man muss ihn nur befreien zu sich selber. Wir sind nicht klein und machtlos und scheinbar unveränderbaren äusseren Verhältnissen ausgeliefert. Wir sind gross und stark und fähig, diese Verhältnisse zu verändern und dafür zu sorgen, dass die Geschichte nicht einfach immer nur eine Wiederholung bereits begangener Fehler, Untaten, Versäumnisse und Verbrechen ist, sondern jeden Tag die Chance bietet zu einem radikal neuen Anfang.

Ich würde mich, im traditionellen Sinne, nicht als religiös bezeichnen. Aber ich bin dennoch davon überzeugt, dass dieses wunderbare Geschöpf Mensch einen tieferen Sinn haben muss. All die wunderbare Musik, die im Laufe von Jahrtausenden erschaffen wurde, Millionen trauriger und fröhlicher Lieder, Instrumente himmlischer Klänge quer über alle Kontinente, Tanzen, Singen und Spielen, die Freude und der Stolz auf schöne Kleidung, kunstvollste Frisuren, künstlerische Wunderwerke von Höhlenzeichnungen bis zu filigransten Bauten technischer Höchstleistungen, Gedichte, Romane, Theaterstücke, Filme voller immer wieder neuer, ungeahnter Kreativität, das Lachen, Witze, Humor, die erste Liebe, all die Empfindungen beim gegenseitigen Blick in die Tiefe unserer Augen, Sehnsüchte, Erinnerungen, Inspirationen, Träume, Phantasien, Visionen, die Gaben der Empathie, der Liebe von Eltern für ihre Kinder, die Fähigkeit sich gegenseitig aufmerksam zuzuhören, sich zu trösten, voneinander zu lernen, füreinander einzustehen, der Idealismus, die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, das Mitleiden, das Mitfühlen, immer weiter sich entwickelnde Künste und Kenntnisse zum Anbau von Nahrungsmitteln und zum Zubereiten von Speisen, die abertausenden technischen, wissenschaftlichen, medizinischen Fortschritte im Laufe von Jahrtausenden, um dem Menschen schwere Lasten abzunehmen und Freiräume für Musse und Genuss zu schaffen, die nahezu unfassbare Tatsache, dass es unter Abermilliarden von Menschen, die jemals diese Erde bewohnt haben, noch nie zwei mit den genau gleichen Empfindungen, dem genau gleichen Aussehen, der genau gleichen Augenfarbe und dem genau gleichen Klang der Stimme gegeben hat, ein unermessliches Füllhorn endloser, sich im Sekundentakt übersprudelnder Phantasie. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieses wunderbare Geschöpf letztlich zu nichts anderem geschaffen worden wäre, als sich selber auszulöschen. Wer immer dieses Geschöpf erschaffen hat, wo, wann, wie und weshalb auch immer, dies kann nicht die Idee gewesen sein.

Eine neue Zeit kommt, das spüren immer mehr Menschen. Aber sie kommt nicht von selber. Sie braucht unsere Arbeit. Unsere Leidenschaft. Unsere Hände. Unseren Mut. Unsere Unerbittlichkeit. Unseren Glauben an das Gute im Menschen. Unsere Liebe.

Wir haben es in der Hand.