Die Ablehnung der Verrechnungssteuervorlage: Um wirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen, muss man nicht Finanzminister sein oder Wirtschaftswissenschaften studiert haben…

 

Mit 52 Prozent Neinstimmen wurde am 25. September 2022 die Teilabschaffung der Verrechnungssteuer durch die schweizerischen Stimmbürgerinnen und Stimmbürger abgelehnt. Sehr zum Leidwesen von Finanzminister Ueli Maurer, der im Interview mit dem “Blick” sagte, dass ganz offensichtlich “das Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge in der Bevölkerung schwindet”. Bereits im Abstimmungskampf hatte Maurer grobes Geschütz aufgefahren und den Gegnerinnen und Gegnern der Verrechnungssteuervorlage vorgeworfen, sie würden sich “in Klassenkampfrhetorik verirren”. Es hätten zwar alle mal ein Brett vor dem Kopf, aber in diesem Falle sei “der Abstand zwischen dem Brett und den Augen gleich null”.

Abgesehen davon, dass eine solche Reaktion ausgerechnet von einem Bundesrat, der bei jeder Gelegenheit die schweizerische direkte Demokratie in alle Himmel lobt, höchst unziemlich ist, muss man sich schon fragen, wem genau denn hier das Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge fehlt und wer genau denn in diesem Falle ein Brett vor dem Kopf hat. Seit Jahren erleben wir eine schleichende Umverteilung von unten nach oben, von stagnierenden Löhnen hin zu Milliardengewinnen von Grosskonzernen und den ungebremst in die Höhe schnellenden Dividenden für Aktionärinnen und Aktionäre. Während die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer bereits über 800 Milliarden Franken besitzen – mehr als die gesamte jährliche Wirtschaftsleistung der Schweiz -, leben über 700’000 Menschen hierzulande unter oder hart an der Armutsgrenze und haben am Ende des Monats oft nicht einmal mehr genug Geld für ein anständiges Essen. Mit der Abschaffung der Verrechnungssteuer hätte die Kapitalbeschaffung von rund 200 Konzernen, deren Finanzgesellschaften und von Banken privilegiert werden sollen. Eine Minderheit von gerade mal 0,03 Prozent aller Unternehmen hätte neue Sonderrechte erhalten. Und dies hätte insgesamt zu Steuerausfällen von jährlich bis zu 800 Millionen Franken geführt. Was nichts anderes bedeutet hätte, als dass der Druck auf erhöhte Steuern auf Löhnen, Renten und den Konsum weiter zugenommen hätte.

Nein, die Schweizer Bevölkerung ist nicht so dumm, wie Bundesrat Maurer dies wahrhaben möchte. Um wirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen, muss man nicht Finanzminister sein. Man muss auch kein Ökonom und keine Ökonomin sein und man muss auch nicht Wirtschaftswissenschaften studiert haben. Der gesunde Menschenverstand genügt. Die Erkenntnis, dass hier im Grossen wie im Kleinen etwas ganz grundsätzlich aus dem Ruder gelaufen ist und sich immer bedrohlicher und schneller nur noch in einer einzigen Richtung bewegt.

Letztlich geht es um den Kapitalismus. Dieses Wirtschaftssystem, das sich nicht an den Bedürfnissen der Menschen orientiert, sondern an den Bedürfnissen der Konzerngewinne, der Profitmaximierung, des Kapitals. Eigentlich müssten die Menschen in einer echten Demokratie das Recht haben, darüber abzustimmen, ob sie weiterhin im Kapitalismus leben wollen oder ob sie ein alternatives, nichtkapitalistisches, auf soziale Gerechtigkeit und die Bedürfnisse der Menschen ausgerichtetes System bevorzugen würden. Umfragen in Deutschland zeigen, dass 55 Prozent der Bevölkerung der Meinung sind, der Kapitalismus richte mehr Schaden als Nutzen an, in der Schweiz käme eine entsprechende Umfrage wohl zu einem ähnlichen Ergebnis. Weil es eine solche “Urabstimmung” aller Voraussicht nach auch in einer ferneren Zukunft aber kaum jemals geben wird, bleibt den Menschen nichts anderes übrig, als einzelne Abstimmungen wie eben jene über die Abschaffung der Verrechnungssteuer dazu zu benützen, ihren Unmut und ihren Widerstand kundzutun.

Auch wenn Bundesrat Maurer und all die anderen Verfechter und Nutzniesser der reinen Lehre eines alleinseligmachenden kapitalistischen Wirtschaftssystems genau das Gegenteil behaupten: Tatsache ist, dass die breite Bevölkerung nicht immer weniger, sondern immer mehr von den wirtschaftlichen Zusammenhängen versteht. Und dass nicht so sehr jene ein Brett vor dem Kopf haben, die sich kritisch ihre eigene Meinung bilden, sondern vielmehr jene, die sich nur schon dem Gedanken verweigern, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen um zu erkennen, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem einer radikalen Erneuerung bedarf, um nicht früher oder später an seinen eigenen Widersprüchen zu zerbrechen.