Universität Zürich: Standing Ovations für den “Kriegshelden” im Kapuzenpulli

 

Als Selenskis Bild auf dem Bildschirm aufgetaucht sei, so berichtet das schweizerische “Tagblatt” am 30. September 2022 über eine vom Europa Institut an der Universität Zürich durchgeführte Veranstaltung, hätte das Publikum mit tosendem Applaus reagiert. Selenski hätte in einem schwarzen Kapuzenpulli mit der Aufschrift “Ich bin Ukrainer” vor seiner Landesfahne gesessen und in die Kamera gelächelt. Da die geplante Rede aus technischen Gründen nicht möglich gewesen sei, hätte man gleich mit der Fragerunde begonnen. Auf die Frage des Zürcher Regierungsrates Mario Fehr, wie es Selenski gelinge, trotz des Kriegs humorvoll zu bleiben und seinen Optimismus nicht zu verlieren, hätte Selenski geantwortet, er liesse sich von seinen tapferen Soldaten inspirieren, die sich den Russen entgegenstellten und “die Angriffe und die Geschosse Russlands mit ihren nackten Händen” aufhielten. Der Austausch mit Selenski hätte sich zu einer “emotionalen Berg- und Talfahrt” entwickelt, so das “Tagblatt”, Selenski hätte immer wieder gelächelt und gescherzt. In Bezug auf ein Zusammenleben mit Russland nach dem Krieg hätte sich Selenski pessimistisch gezeigt. Von der Schweiz erwarte er, dass diese ihre bisherige Neutralitätspolitik überdenken würde, denn jetzt ginge es um einen Kampf zwischen dem “Guten” und dem “Bösen”. Selenskis Antworten seien mit Applaus quittiert worden und die Zuhörerinnen und Zuhörer hätten sich mehrmals von ihren Sitzen erhoben, um der “Legende” und dem “Kriegshelden”, wie Selenski vom Vertreter des Europa Instituts genannt wurde, ihre Sympathie zu bekunden.

Ob wohl niemand die Frage stellte, wie man mit “nackten Händen” Angriffe und Geschosse aufhalten kann? Oder wie jemand seinen Humor und seinen Optimismus bewahren kann dadurch, dass junge Männer auf dem Schlachtfeld qualvoll verbluten und unzählige Familien ihre geliebten Väter verlieren? Oder ob die Gräueltaten des ukrainischen Asowregiments an der ostukrainischen Zivilbevölkerung nicht ebenso “böse” seien wie jene Massaker, die von russischen Truppen begangen wurden? Oder ob das Verbot sämtlicher russischer Schriftsteller und Komponistinnen in der gesamten Ukraine allen Ernstes ein Beitrag zu Demokratie, Toleranz und Völkerverständigung sein könne? Oder ob es einer zukünftigen Friedenslösung dienlich sei, wenn man gegenüber einem Zusammenleben mit Russland jetzt schon grundsätzlich pessimistisch eingestellt sei? 

Vielleicht wurden ja alle diese Fragen tatsächlich gestellt, bloss in der Zeitung nicht abgedruckt. Wahrscheinlicher aber ist, dass diese Fragen nicht gestellt wurden, weil sie das Bild von der “Legende” und vom “Kriegshelden” Selenski viel zu sehr gestört hätten. Und weil jene, die solche Fragen gestellt hätten, möglicherweise sogar ausgebuht worden wären. Der tosende Applaus schon beim ersten Anblick Selenskis, ohne dass dieser auch nur ein einziges Wort gesagt hatte, sein schon fast kumpelhaftes Auftreten, das ihm so viele Sympathien einbringt, eine “emotionale Berg- und Talfahrt” zwischen Selenski und dem Publikum, die wiederholten Standing Ovations – all dies zeigt eines: Es geht bei solchen Anlässen offensichtlich weit weniger um das, was der Politiker im Einzelnen sagt. Es geht viel mehr um das Emotionale, um Gefühle, um die verlockende Gewissheit, im Kampf zwischen dem “Guten” und dem “Bösen” auf der “richtigen” Seite zu stehen. Zwischentöne, das Hinterfragen von Worthülsen, die kritische Reflexion der eigenen Weltsicht – all dies ist nicht mehr gefragt.

Doch genau das würde ich von einer demokratischen Gesellschaft erwarten. Nicht Massenveranstaltungen, bei denen schon von Anfang an klar ist, welches die “Guten” und “Bösen” sind. Sondern Debatten mit den Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlicher Standpunkte, gründliches Erforschen historischer Zusammenhänge, Analysen, wie und weshalb Feindbilddenken zustande kommt und wie und weshalb so etwas Absurdes und Menschenfeindliches wie Kriege entstehen können. Um solche Wege zu beschreiten, muss man noch lange kein “Putinfreund” sein, sondern nur ein Freund der Wahrheitsliebe. “Ein echtes Gespräch”, sagte der Philosoph Hans-Georg Gadamer, “setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte.” In einer so polarisierten Welt wie der unseren müsste das immer wieder der Leitsatz sein, um Fronten zu überwinden und hinter dem Feind das andere Ich zu suchen, das mit uns selber viel ähnlicher sein mag, als uns lieb ist. Zwar hat die Universität Zürich diesen Anlass nicht selber organisiert, sondern nur ihre Räumlichkeiten dafür zur Verfügung gestellt, dennoch trägt sie dafür eine wesentliche Mitverantwortung. Es gibt in der heutigen Zeit schon genug tiefe Gräben zwischen den Menschen, Völkern und Nationen. Und genau deshalb müsste man gerade von einer Universität, deren letztes und höchstes Ziel doch die Menschenbildung sein sollte, erwarten dürfen, dass sie nicht dazu beiträgt, bestehende Gräben noch weiter zu vertiefen, sondern alles tun müsste, um über alle diese Gräben hinweg neue Brücken zu bauen?