Medien als Propagandainstrumente: Was ist erfunden, was ist echt? Was wird aufgebauscht, was wird verschwiegen? Was bleibt in den Köpfen, was nicht? Wer hat welche Interessen?

“Unter Putins Knute regiert die Gewalt” – so der Titel eines Artikels über einen soeben veröffentlichten UNO-Bericht zur Lage in den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten, veröffentlicht im schweizerischen “Tagblatt” vom 21. März 2024. Ermittler der Vereinten Nationen hätten in diesem neuen Bericht ein “düsteres Bild” gezeichnet. Die russischen Truppen hätten von Anfang an “schwere Vorstösse gegen das humanitäre Völkerrecht verübt”, unter anderem “aussergerichtliche Tötungen, Folter, gewaltsames Verschwinden und willkürliche Inhaftierungen”. Verschiedene Arten von Gewalt würden gegen Inhaftierte angewendet: “Schwere Schläge, Tritte, Schnitte, das Anbringen scharfer Gegenstände unter den Fingernägeln, Waterboarding, Scheinhinrichtungen und Elektroschocks”. Einige der befragten Gefangenen seien “konfliktbedingter sexueller Gewalt” ausgesetzt gewesen, darunter “Vergewaltigung oder Androhung davon, Schläge und auch Elektroschocks auf Genitalien, Brüste, Verstümmelung, erzwungene Nacktheit, ungerechtfertigte Leibesvisitationen, sexuelle Berührungen oder Androhung von Kastration.” Der Tod von neun gefangenen Männern durch Folter sei durch Inspektoren bestätigt. Der UNO-Berichterstatterin Danielle Bell zufolge handle es sich dabei nicht um “zufällige oder beiläufige Taten”, sondern diese seien “Bestandteil der Politik der Russischen Föderation, um Angst einzuflössen, einzuschüchtern, zu bestrafen oder Informationen und Geständnisse zu erpressen.”

Bereits am 15. März hatte auch der deutsche “Spiegel” über die Resultate dieses neuen UNO-Berichts informiert. Ukrainische Soldaten in russischer Gefangenschaft seien “monatelang gefoltert worden”, die Misshandlungen seien “entsetzlich, systematisch und weitverbreitet” gewesen. Die UNO-Kommission hätte unter anderem den Fall eines Mannes geschildert, dem in der Gefangenschaft “Steissbein, Schlüsselbein und Zähne gebrochen worden” seien und der so stark geschlagen worden sei, dass er “aus dem Anus blutete”. In seiner Verzweiflung hätte der Mann versucht, Suizid zu verüben. Seit seiner Entlassung sei er 36 Mal operiert worden. “Die Schilderungen der Opfer zeigen”, so der “Spiegel”, “dass gefangenen Ukrainern brutal und unablässig schwere Schmerzen und schweres Leid während nahezu der gesamten Haftzeit zugefügt werden”, Gefangene würden auch an Hunger leiden und deshalb in ihrer Not Würmer, Seife, Papier und Hundefutter essen. Laut der Kommission handle es sich bei der Folter durch russische Armeeangehörige und Gefängnisbeamte um Kriegsverbrechen. Der Bericht schildere auch Folter und sexuelle Verbrechen an ukrainischen Zivilistinnen und Zivilisten. In einem Fall sei eine 42jährige schwangere Frau und die 17jährige Freundin ihres Sohnes von zwei russischen Soldaten vergewaltigt worden.

Tatsächlich enthält der in diesen Artikeln zitierte UNO-Menschenrechtsbericht über die Situation in der Ukraine auch im originalen Wortlaut die erwähnten Aussagen. Allerdings, und das ist doch bemerkenswert, findet man im Bericht auch den Hinweis auf Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen, die von ukrainischer Seite begangen worden seien. Diese fehlen in den beiden von mir untersuchten Zeitungsartikeln zur Gänze. Auch ob beispielsweise die Schilderung jenes Mannes, der 36 Mal operiert worden sei, durch mehrere voneinander unabhängige Quellen verifiziert werden konnte, geht aus dem Bericht nicht hervor. Besonders tendenziös aber erscheint mir die Aussage der UNO-Berichterstatterin Danielle Bell, wonach es sich bei den geschilderten Verbrechen nicht um Einzeltaten gehandelt habe, sondern diese “Bestandteil der Politik der Russischen Föderation” bilden würden. Genau umgekehrt nämlich wurde im Falle des von den USA im Jahre 2003 angezettelten Irakkriegs argumentiert: Die in den berüchtigten US-Militärgefängnissen gegen irakische Gefangene angewendeten Foltermethoden glichen nämlich wie ein Ei dem andern den in diesem UNO-Bericht geschilderten Praktiken, allerdings mit dem grossen Unterschied, dass für jene Verbrechen stets nur Einzeltäter verantwortlich gemacht wurden, nie behauptet wurde, diese bildeten einen “Bestandteil der US-Politik zu Einschüchterung, Bestrafung und dem Erpressen von Geständnissen” und meines Wissens damals auch nie ein Artikel mit dem Titel “Unter US-Präsident Bushs Knute regiert die Gewalt” in der westlichen Presse gelesen werden konnte. Im Gegenteil: Julian Assange, der diese von den USA begangenen Kriegsverbrechen ans Licht der Weltöffentlichkeit brachte, wurde von den USA wegen Spionage angeklagt und es drohen ihm bei einer allfälligen Auslieferung an die USA 175 Jahre Haft.

Keine Frage: Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen sollen jederzeit und überall in aller Schonungslosigkeit aufgedeckt werden. Wenn dabei aber sozusagen zwischen “guten” und “bösen” Mächten unterschieden wird, auf der einen Seite von “Einzeltätern” gesprochen wird, auf der anderen die genau gleichen Missetaten aber als Ausdruck eines verbrecherischen “Gesamtsystems” dargestellt werden und ungeliebte Machthaber wie Putin als Inbegriff des Bösen oder gar als Teufel bezeichnet werden, während Kriegsverbrecher wie der frühere US-Präsident George W. Bush, der eine weit grössere Anzahl von Menschenleben auf dem Gewissen hat, immer noch frei herumläuft und in seiner Heimat immer noch grösstes Ansehen geniesst, dann befindet sich die öffentliche Meinung in diesem angeblich so “wertebasierten” und “demokratischen” Westen ganz gehörig in Schieflage. In einer Schieflage, die nicht dazu verhilft, ganz grundsätzlich den Wahnsinn jeglicher Macht- und Kriegslogik zu überwinden, sondern sich bloss immer wieder auf die traditionellen Feindbilder fixiert und die Verbrechen, welche von der einen Seite begangen werden, in ebenso grossem Ausmass verurteilt, wie sie die gleichen, aber von der anderen Seite begangenen Verbrechen verharmlost oder gar noch glorifiziert.

Der Aufrechterhaltung dieser einseitigen Optik und der festgefahrenen, auf der Blindheit gegenüber den eigenen Verbrechen beruhenden Feindbilder dient eine völlig einseitige und verzerrte Berichterstattung, wie es die beiden oben zitierten Zeitungsberichte exemplarisch aufzeigen. Ohne jeden Zweifel ist die Vergewaltigung einer 42jährigen schwangeren Ukrainerin und der 17jährigen Freundin ihres Sohnes durch russische Soldaten ohne jede Einschränkung, Entschuldigung oder Rechtfertigung zu verurteilen. Aber tagtäglich werden Frauen nicht nur im Krieg, sondern auch mitten im Frieden weltweit auf bestialische Weise vergewaltigt, ohne dass jemals darüber in irgendeiner Zeitung berichtet oder gar irgendein übergeordnetes “Machtsystem” dafür verantwortlich gemacht wird. Keine einzige der westlichen Zeitungen berichtet über die Qualen, unter denen jene rund 10’000 Kinder leiden, die weltweit jeden Tag schon vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben – während in den reichen Ländern des Nordens ein Drittel jener Lebensmittel, die zu einem grossen Teil aus den Hungergebieten des Südens importiert wurden, im Müll landen. Mediale Berichterstattung ist fast ausschliesslich zum Instrument der Reichen und Mächtigen verkommen, mit dem sie ihre ureigenen Profit- und Herrschaftsinteressen auf geradezu skrupellose Weise vorantreiben und rechtfertigen, statt ein Mittel dafür zu sein, möglichst umfassend, unvoreingenommen und objektiv zu informieren. Bestes Beispiel dafür ist die von der israelischen Regierung kurz nach dem 7. Oktober 2023 verbreitete Behauptung, die Hamaskämpfer hätten bei ihrer Terrorattacke gegen jüdische Siedlungen Babys geköpft, was sich später als reine Lüge entpuppte. Gleichwohl gibt es wohl heute noch Menschen, die das immer noch glauben, haben doch solche grausame, alle Vorstellungskraft übersteigende Bilder in unseren Köpfen, sind sie erst einmal etabliert, eine ungleich viel stärkere Wirkung als jede noch so eifrige Entschuldigung oder Relativierung, die ihnen später nachgeschoben wird. Ein anderes Beispiel ist die ebenfalls rund um den Globus gegangene Nachricht, wonach auf einem bei den russischen Präsidentschaftswahlen von Mitte März eingeworfenen Wahlzettel “Putin = Mörder” zu lesen gewesen sei. Wie wenn nicht ohne allen Zweifel bei jeder Präsidentschaftswahl in Frankreich, Deutschland oder den USA zahllose ähnliche Vergleiche oder Beleidigungen zu lesen sein könnten, ohne dass jemals irgendeine Zeitung auf die Idee käme, dies zu publizieren. Diese in höchstem Masse einseitige und manipulative, stets im Augenblick auf Tränendrüsen oder Angstreflexe zielende Meinungsmache führt nicht im Entferntesten dazu, dass die Menschen zu denken anfangen, sondern im Gegenteil dazu, dass sie mit dem Denken aufhören und immer mehr zum Spielball jener Machtinteressen werden, die sich aller dieser Propagandainstrumente bedienen.

Welche Geschichten werden weitererzählt, welche nicht? Was macht Schlagzeilen, was nicht? Wer hat welches Interesse, diese oder jene Meldung weiterzuverbreiten oder zu unterdrücken? Was ist erfunden, was ist echt, was wird verschwiegen, was wird verharmlost und was wird bis zum Gehtnichtmehr aufgebauscht? Welche Wörter üben welche Wirkung aus, was bleibt in den Köpfen hängen und was nicht? Wollen wir die grossen Fragen der Zukunft anpacken und konstruktiven Lösungen entgegenführen, dann wird nicht zuletzt entscheidend sein, was für Antworten wir auf diese Fragen finden werden…