Die Präsidentschaftswahlen in Russland seien bloss “Scheinwahlen”, es fehle an jeglicher “echter Demokratie”: Täten wir nicht gut daran, zuerst den eigenen Stall auszumisten?

“Warum Putin eine Wahl abhält”, fragt der “Tagesanzeiger” vom 16. März 2024 im Titel eines Artikels über die an diesem Wochenende stattfindenden russischen Präsidentschaftswahlen, das Resultat sei doch “jetzt schon klar” und die Wahlen seien sowieso “weder frei noch fair”, “echte Oppositionspolitiker” gäbe es ja gar keine. Die Wahlen seien “so fern von sämtlichen demokratischen Standards”, dass man eigentlich nur von “Scheinwahlen” sprechen könne. Auch die “Sonntagszeitung” schreibt, diese Wahlen seien “so intransparent wie nie zuvor” und eine “echte Opposition” gäbe es in Russland “längst nicht mehr”. Ähnlich äussert sich die “NZZ am Sonntag”: “Der Führer lässt wählen, das Volk gehorcht”, Putins Gegenkandidaten seien nur “Statisten” und: “Was mehr kann sich ein Diktator wünschen, als die Volksherrschaft auf den Kopf zu stellen?” Der “Blick” spricht von einer “Scheinwahl” und einem “verrückten Spektakel” und das Gratisblatt “20minuten” meint, “Beobachter” würden nicht mit “freien und fairen” Wahlen rechnen. “Wie in Russland Wahlen gefälscht werden”, titelt die deutsche “FAZ”, die ARD-Tagesschau spricht von einer “orchestrierten Wiederwahl”, die “weder frei noch fair” sei, und auf “Zeit online” lesen wir: “Noch nie ist eine russische Wahl so repressiv und manipuliert gewesen.”

Nun gut, man sollte nichts beschönigen. Wahrscheinlich entsprechen die russischen Präsidentschaftswahlen tatsächlich nicht den allgemeinen Vorstellungen von einer lupenreinen Demokratie. Doch Hand aufs Herz: Wie eigentlich ist es um unsere eigene, um die westliche Demokratie bestellt?

Nehmen wir die Präsidentschaftswahlen in den USA. Gewiss, man hat die Auswahl zwischen zwei Kandidaten. Doch was für eine echte Auswahl ist das? Beide sind doch, von marginalen Differenzen abgesehen, durch und durch lupenreine Abbilder und Repräsentanten des US-kapitalistischen Machtsystems, in dem vermutlich weit mehr als 99 Prozent der Bevölkerung infolge fehlender finanzieller Mittel von einer Kandidatur für das höchste Amt des Landes schon zum vornherein ganz und gar ausgeschlossen sind. Das Wahlsystem ist so ausgeklügelt und gnadenlos darauf ausgerichtet, dass jegliche echte Opposition, selbst wenn es sie gäbe, kaum je eine Chance hat, in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Die grundlegendsten, für das Wohl der Bevölkerung am wesentlichsten entscheidenden Fragen, Alternativen zur unaufhörlichen kapitalistischen Umverteilung von den Armen zu den Reichen, in erschreckendem Ausmass wieder gesetzlich eingeführte Kinderarbeit, Zwölfjährige, die bis um Mitternacht in Imbissbuden arbeiten müssen, weil sonst ihre Familien nicht überleben könnten – all dies sind keine Themen im Wahlkampf, wo dafür umso ausgiebiger über die Frisur von Trump diskutiert wird oder darüber, wie oft Biden schon vom Fahrrad gefallen ist oder welche Präsidenten anderer Länder er schon wieder miteinander verwechselt hat. Schöne, lupenreine westliche Demokratie…

Am 16. März 2024 berichtete der “Tagesanzeiger” über den Widerstand der betroffenen Bevölkerung in der Gegend des Kiefernwaldes von Grünheide südöstlich von Berlin gegen den dort geplanten Bau einer “Gigafactory” des Autobauers Tesla, mit der längerfristig die Produktion von derzeit 500’000 Fahrzeugen auf eine Million hochgefahren werden soll. “Wasser ist ein Menschenrecht” steht auf einem Plakat der vor Ort gegen das Projekt opponierenden Menschen, darauf hinweisend, dass die Bürgerinnen und Bürger in der Umgebung bereits heute mit Wasserrationierungen leben müssten. Auch weisen sie darauf hin, dass die Produktion von E-Autos nur möglich sei dank Kinderarbeit beim Abbau des erforderlichen Kobalts im Kongo, einer massiven Form “neokolonialer Ausbeutung”. Gemäss einer Einwohnerbefragung haben sich 60 Prozent der rund 9000 Einwohnerinnen und Einwohner von Grünheide gegen Teslas Ausbaupläne ausgesprochen. Dessen ungeachtet hat der Gemeinderat von Grünewald entschieden, den Wald an Tesla zu verkaufen. Schöne, lupenreine westliche Demokratie…

72 Prozent der ukrainischen Bevölkerung haben sich gemäss einer Umfrage des Soziologischen Instituts der Universität Kiew für Friedensverhandlungen mit Russland ausgesprochen. Gleichzeitig hat Präsident Selenski per Dekret jegliche Verhandlungen mit Russland verboten und auf etwaige Versuche in dieser Richtung mit Höchststrafen gedroht. Nicht nur das: Das Ergebnis dieser Umfrage fand auch nie Zugang zur Berichterstattung in den Mainstreammedien, nicht nur in der Ukraine, sondern auch in allen anderen westlichen Ländern, ebenso wenig wie sämtliche Fakten über die Hintergründe des Maidanputsches, des Anschlags auf die Nordstream-Pipelines, der vom britischen Präsidenten Boris Johnson abgeblockten Friedensverhandlungen, kurz: all dem, was nicht in das Bild der offiziell verbreiteten Täter-Opfer-Logik hineinpasst und dieses all seiner Verzerrungen, Verfälschungen und Lügen entlarven könnte. Schöne, lupenreine westliche Demokratie…

Doch wir Schweizerinnen und Schweizer müssen gar nicht so weit über unsere Landesgrenzen hinausschauen. Am 28. November 2021, also vor über zwei Jahren, wurde die sogenannte “Pflegeinitiative” mit 61 Prozent Zustimmung von der Schweizer Bevölkerung angenommen. Sie hat zum Ziel, die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung des Pflegepersonals zu verbessern, um der zunehmenden Arbeitsbelastung und einem drohenden Fachkräftemangel in diesem für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung so wichtigen und unentbehrlichen Berufssegment entgegenzuwirken. Im Januar 2017 (!) war die Initiative lanciert worden. Während Monaten, ja Jahren investierten Pflegefachleute, unterstützt von einzelnen Parteien und Gewerkschaften, einen grossen Teil ihrer Freizeit in das Sammeln von Unterschriften, mussten starke Überzeugungsarbeit leisten, traten in Podiumsdiskussionen auf, schrieben unzählige Zeitungsartikel und Leserinnenbriefe. Und heute, sieben Jahre später? An der Situation des Pflegepersonals hat sich nichts geändert, im Gegenteil, alles ist noch schlimmer geworden. Der Jubel über den Abstimmungserfolg vom November 2021 ist längst verrauscht, von der Pflegeinitiative und ihren Forderungen ist kaum mehr etwas zu hören. Wenn man nachfragt, heisst es, die Umsetzung sei schwierig. Die Kantone und der Bund schieben sich gegenseitig die Verantwortung für die Umsetzung zu. Die hauptsächliche “Schwierigkeit” liegt indessen schlicht und einfach in der Tatsache, dass Löhne im kapitalistischen Kosten-Nutzen-Kalkül und dem Dogma des betriebswirtschaftlichen Renditezwangs nie Ausdruck tatsächlich erbrachter Arbeitsleistungen sind, sondern bloss in dem bestehen, was übrigbleibt, wenn der Betrieb alle seine Einnahmen und Aufgaben abgerechnet hat. Immer mehr Pflegefachpersonen hängen heute nach immer kürzerer Zeit ihren meist mit viel Idealismus und Begeisterung begonnenen Job wieder an den Nagel. Es ist, nach allem, nur allzu verständlich, dass sich jene Energie und jene Hoffnung auf bessere Zeiten, die im Jahre 2017 bei der Lancierung der Initiative noch vorhanden waren, im Laufe dieser sieben Jahre in pure Resignation und Hoffnungslosigkeit verwandelt haben. Schöne, lupenreine westliche Demokratie…

Die bekannte SP-Politikerin Jacqueline Badran erinnert in der “Sonntagszeitung” vom 17. März 2024 an weitere demokratisch abgestützte politische Vorstösse, die im Nachhinein entweder gar nicht umgesetzt oder teilweise verwässert worden sind. So etwa wurde das vom Schweizer Volk im März 2015 angenommene Zweitwohnungsgesetz zur Eindämmung der horrend steigenden Wohnungsmieten in Tourismuszentren zugunsten der Immobilienbesitzer und zu Lasten der Mehrheit der ortsansässigen Bevölkerung gegenüber dem ursprünglichen Gesetzestext weitgehend umgekrempelt. Die im Jahre 2021 im Abstimmungskampf zur Trinkwasser- und Pestizidinitiative versprochenen Massnahmen – dank denen man die Initiative erfolgreich bodigen konnte -, wurden anschliessend an die Abstimmung kurzerhand gestrichen, obwohl in diesem Bereich nach wie vor akuter Handlungsbedarf besteht. Auch die in einzelnen Kantonen im Verlaufe der letzten Jahre durch Volksabstimmungen beschlossenen Mindestlöhne sind auf Druck seitens der Arbeitgeberorganisationen inzwischen durch entsprechende Beschlüsse auf Bundesebene im Nachhinein teilweise wieder ausgehebelt worden. Und im ebenfalls demokratisch beschlossenen CO2-Gesetz wurde durch Intervention der Wirtschaftsverbände die Reduktion der Treibhausgasse in Missachtung des Gesetzestextes deutlich verlangsamt. “Ich fasse zusammen”, schreibt Jacqueline Badran, “unsere Verfassung und unsere Demokratie werden mit Füssen getreten. Volksabstimmungen, die den jeweiligen Interessenverbänden nicht passen, werden einfach übersteuert. Fundamentale Prinzipien des Rechtsstaats werden verhöhnt.” Unlängst hätte sie einen der bürgerlichen Politiker gefragt, warum dies so geschehen könne. Seine Antwort sei ganz einfach gewesen: Weil sie, die bürgerlichen Parteien zusammen mit den Wirtschaftsverbänden, hierzu eben in der Lage seien, es nicht bemerkt und skandalisiert werde und die, welche es tun, nie zur Rechenschaft gezogen würden. Schöne, lupenreine westliche Demokratie…

Nicht einmal vor der vor über 175 Jahren vom Schweizer Volk in Kraft gesetzten Bundesverfassung macht das Umbiegen und Missachten demokratischer Beschlüsse und gesamtgesellschaftlich verankerter Prinzipien Halt. So etwa wird in der schweizerischen Bundesverfassung festgehalten, dass ein Vollzeitlohn für den Lebensunterhalt einer Familie ausreichen müsse, dass jede Familie das Recht auf bezahlbaren Wohnraum haben müsse und dass die Altersrenten zur Sicherung eines menschenwürdigen Lebens im Altern ausreichen müssten. Wie wir alle wissen, ist – mit derzeit rund 160’000 Erwerbstätigen, die trotz Vollzeitarbeit nicht genug für die Deckung der Lebenskosten verdienen, mit einer wachsenden Zahl von Menschen, die kaum noch eine für sie erschwingliche Wohnung finden, und mit Abertausenden betagter Menschen, die aufgrund zu niedriger Altersrenten auf Ergänzungsleistungen angewiesen sind – bis heute keiner dieser vor 175 Jahren beschlossenen Grund- bzw. Menschenrechte erfüllt, im Gegenteil: Die Anzahl derer, die von diesen Grundrechten ausgeschlossen sind, wird immer grösser. Schöne, lupenreine westliche Demokratie…

Auch Regierungen und Parlamente sind alles andere als demokratische Abbilder der Gesamtbevölkerung. Während es vor Akademikern, Juristinnen und Unternehmensberatern nur so wimmelt, wird man einen Hilfsarbeiter, eine Putzfrau oder gar eine Prostituierte wohl kaum je in einer Regierung oder einem Parlament antreffen. Entsprechend orientieren sich Mehrheitsbeschlüsse viel häufiger an den Interessen jener, die ohnehin schon privilegiert sind, als an den Interessen und Bedürfnissen der weniger Privilegierten. Geht es um die Erhöhung von Sitzungsgeldern oder Spesenentschädigungen für Politikerinnen und Politiker, zeigt man sich in der Regel ungleich viel grosszügiger, als wenn es um die Verbesserung von Sozialleistungen für Minderbemittelte geht. Das kostenlose Erstklassabonnement für den öffentlichen Verkehr, opulente Festlichkeiten und Empfänge, kostenlose Skiabonnemente und grosszügige lebenslange Renten für Regierungsmitglieder sind geradezu Selbstverständlichkeiten, während ein wachsender Teil der Bevölkerung von sämtlichen solchen Annehmlichkeiten ebenso selbstverständlich ausgeschlossen sind. Schöne, lupenreine westliche Demokratie…

Wenn ich auf der Strasse für eine Initiative zwecks grösserer sozialer Gerechtigkeit Unterschriften sammle, so ist das häufigste Argument jener, die ihre Unterschrift nicht geben möchten: “Es nützt eh nichts, die machen sowieso, was sie wollen.” Dem zu widersprechen, fällt in der Tat nicht leicht. Leute, die so argumentieren, sind weder zu gleichgültig noch zu faul oder zu passiv, sie haben nur durchschaut, wie das politische Geschäft tatsächlich in aller Regel funktioniert.

Den vielgeschmähten Diktator brauchen wir nicht. Der Kapitalismus erledigt das auch ohne ihn. Dass letztlich ökonomisch bedingtes Profitdenken, Gewinnmaximierung und die egoistischen Interessen der Reichen und Mächtigen, wenn es drauf und dran kommt, stets das letzte Wort haben gegenüber den existenziellen Grundbedürfnissen der Gesamtbevölkerung, daran haben wir uns offensichtlich schon so sehr gewöhnt, dass es uns gar nicht mehr besonders auffällt. Dass unser “Diktator” in Gestalt des kapitalistischen Ausbeutungssystems zugunsten der Reichen und Mächtigen eben kein einzelner Mensch ist, auf den man mit dem Finger zeigen könnte, macht diesen unsichtbaren Diktator nicht weniger gefährlich. Im Gegenteil: Unter dem Deckmantel der Demokratie kann er sich sozusagen jede Unverschämtheit leisten. Denn während wir immer noch unsere “Demokratie” stolz zur Schau tragen, zappeln wir in Tat und Wahrheit doch schon längst an Tausenden unsichtbaren Fäden, die uns von jener ursprünglichen Idealvorstellung einer zutiefst gerechten, demokratischen, menschenwürdigen und friedlichen Welt immer weiter entfernen.

Sich für eine globale Durchsetzung von Menschenrechten stark zu machen, mag ja löblich sein. Aber wenn der Westen, so wie die “NZZ am Sonntag”, Putin zum Vorwurff macht, was sich denn ein Diktator Besseres wünschen könnte, als “die Volksherrschaft auf den Kopf zu stellen”, dann müsste sich dieser gleiche Westen schon ehrlicherweise die Frage gefallen lassen, ob man nicht auch ihm den genau gleichen Vorwurf machen müsste. Bevor wir die russischen “Scheinwahlen” und das “Fehlen jeglicher echter Demokratie” unter Putin an den Pranger stellen, täten wir wohl gut daran, zuallererst den eigenen Stall auszumisten…