Versailles, 7. Mai 1664: Vom Sonnenkönig bis zur “Icon of the Seas”…

Dies ist das 5. Kapitel aus meinem Buch PRO MEMORIA – EINE ANDERE GESCHICHTE DES KAPITALISMUS, das voraussichtlich anfangs 2025 erscheinen wird. Eine Geschichte der Schattenseiten des Kapitalismus und der Opfer eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das trotz allem immer noch von vielen als die einzige mögliche und alternativlose Art und Weise angesehen wird, wie das Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten organisiert werden kann.

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Um sechs Uhr abends ging es mit einer Reiterparade los. Ein Herold und drei Pagen, zwölf Trompeter und vier kostbar gekleidete Paukenschläger kamen die grosse Allee vom Schloss zum Apollobassin herunter, gefolgt von Ludwig dem Vierzehnten höchstpersönlich. Er trug ein antikes griechisches Kostüm, das Zaumzeug seines Pferdes starrte nur so vor Gold und Edelsteinen. Es folgte ein riesiger vergoldeter Triumphwagen, auf dem der Sonnengott Apoll thronte. 600 Gäste waren zu diesem Fest eingeladen worden. Nach einem Reiterspiel, bei dem der Bruder von Louise aus den Händen der Königin einen goldenen Degen mit diamantenbesetztem Griff entgegennehmen durfte, folgte ein Ballett. Schliesslich kündigten die vier Jahreszeiten in Gestalt prächtig gekleideter Jünglinge  im Licht von 4000 Fackeln das üppige Souper an, der Frühling auf einem Vollblüter, der Sommer auf einem Elefanten, der Herbst auf einem Kamel und der Winter auf einem Bären. Am Abend des zweiten Tages, den die Gäste mit allerlei Gesellschafts- und Ritterspielen, Spazierfahrten durch die Gartenanlagen und einem Imbiss im Grünen verbracht hatten, führten Ludwigs Hofkomponist Lully und sein Hofdichter Molière zum Ergötzen der Anwesenden vier von musikalischen Einlagen begleitete, eigens für dieses Fest geschaffene Komödien auf…

Dieses grösste jemals am Hof von Versailles gefeierte Spektakel hatte am 7. Mai 1664 begonnen und endete erst sechs Tage später. Es war das erste Fest, das der 26jährige Ludwig der Vierzehnte selber organisiert hatte. Es legte sozusagen den Grundstein für Ludwigs späteren Ruhm als «Sonnenkönig», der als das herausragendste Symbol für das Zeitalter des Absolutismus in die Geschichte Europas und damit auch in die Geschichte des europäischen Kapitalismus eingehen sollte.

Denn während der Sonnenkönig und seine Höflinge in Versailles in Saus und Braus feierten und prassten und das im Übermass Gegessene und Erbrochene von den Dienstmägden laufend wieder weggeputzt werden musste, herrschte im übrigen Frankreich bitterste Armut. Die Menschen auf dem Lande lebten in schäbigen Hütten, litten oft unter Hunger und verfügten kaum über genügend warme Kleider, um sich gegen Unwetter und Kälte zu schützen. Viele hatten nicht einmal eine eigene Behausung und mussten die Nächte in einem Heustall verbringen.

Die meisten Bauersfamilien bewirtschafteten kleine Grundstücke, die aber nicht ihnen selber gehörten, sondern einem Fürsten, einem Grafen oder einem Herzog, der in der betreffenden Region, zumeist in einem prunkvollen Schloss, residierte. Die Bauersfamilien arbeiteten nicht nur auf dem kleinen Grundstück für ihre Eigenversorgung, sondern mussten, in der Regel ohne jegliche Bezahlung, zusätzlich die Felder ihres Grundherrn bestellen. Um die immense Arbeit zu bewältigen, mussten oft schon elfjährige oder noch jüngere Kinder mithelfen, bis zu 14 Stunden pro Tag. Auch konnten die Bauersfamilien von ihrem Landesherrn jederzeit zu zusätzlichen Arbeiten verpflichtet werden, so etwa mussten sie während der Nacht mit Stöcken auf den Fischteich ihres Grundherrn schlagen, um die Frösche, die sonst mit ihrem Gequake den Schlaf der adligen Leute auf dem Schloss gestört hätten, zu vertreiben – um nur eines von zahlreichen Beispielen zu nennen. Jagen und Fischen waren ihnen verboten, wer einen Apfel vom Baum seines Grundherrn nahm, musste mit bis zu 30 Stockhieben rechnen.

Von der zur Eigenversorgung dienenden Ernte musste ein Zehntel an den Grundherrn abgegeben werden, zudem ein willkürlich festgelegter Teil an die Geistlichen, nebst einer zusätzlichen Steuer, die an den König zu entrichten war. Viele waren hilflos überschuldet und damit erst recht der Willkür ihrer Herren ausgeliefert. Konnten Schulden nicht bezahlt werden oder machten Gerüchte über einen «schlechten Lebenswandel» von Bauersleuten die Runde, erfolgte zur Strafe nicht selten eine Verbannung, Strafarbeit auf einer Insel oder Versklavung auf einer Galeere, wo die Verurteilten an die Ruder angekettet wurden, mit welchen sie das Schiff bis zur Erschöpfung auf Fahrt halten mussten – Strafen, die alle in reiner Willkür und ohne jegliche Gerichtsverhandlung vom König ausgesprochen worden waren.

Zahlreiche Landesherren verdienten zusätzliches Geld, indem sie Soldaten in die amerikanischen Kolonien verkauften. Weil sich kaum irgendwer hierfür freiwillig zur Verfügung stellte, wurden zu diesem Zwecke eigentliche Menschenfänger eingesetzt, welche geflohene Männer im Wald oder in anderen Verstecken aufzuspüren hatten. Aber nicht nur für den Einsatz in Übersee, sondern auch für die in Europa in grosser Zahl kämpfenden französischen Truppen brauchte es immer wieder Nachwuchs. Wer sich gegen den Kriegsdienst weigerte, wurde oft mit Alkohol willenlos gemacht und zwangsweise in eine Kaserne verschleppt. Wer desertierte, wurde zum Tode verurteilt. Einmal der Truppe zugeteilt, wurden schon kleinste Vergehen wie «Unordnung», «Unpünktlichkeit» oder «Ungehorsam» grausam bestraft. Die Betroffenen mussten mit nacktem Rücken durch die Reihen ihrer Kameraden laufen, welche mit Stöcken auf sie einschlugen, so fest sie konnten, immer wieder kam es dabei zu Todesfällen. (Renate Gerner, Absolutismus & Französische Revolution, 2017, AOL-Verlag)

Das war die «göttliche Ordnung» der absolutistischen Herrschaftsideologie des 17. und 18. Jahrhunderts in Frankreich: Für den absolutistischen Herrscher, der seine absolute, uneingeschränkte Machtfülle aus einem gottgegebenen Auftrag ableitete, waren alle Menschen ausser ihm Untertanen. Diese wiederum waren in mit je unterschiedlichen Privilegien ausgestattete «Stände» unterteilt. Der erste Stand war der Klerus, die Geistlichen, etwa ein halbes Prozent der Bevölkerung. Den zweiten Stand bildete der Adel, etwa eineinhalb Prozent der Bevölkerung. Zum dritten Stand zählten Bürgerfamilien, reiche Kaufleute, Beamte, Rechtsanwälte, Ärzte, Handwerker und Soldaten. Keinem dieser drei Stände gehörte der Rest der Bevölkerung an, also zum Beispiel Tagelöhner, Mägde, Prostituierte und Behinderte. Das Privileg des ersten und des zweiten Standes bestand darin, keine Steuern zahlen zu müssen. Hohe Posten in der Kirche und in der Armee waren ihnen vorbehalten und sie wurden von den Gerichten bevorzugt behandelt. Aufstiegsmöglichkeiten gab es nicht, dem Stand, in den man hineingeboren wurde, gehörte man lebenslang an.

Diese «göttliche Ordnung» begann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allerdings zunehmend ins Wanken zu geraten. Insbesondere in akademischen Kreisen wurde immer häufiger die Gerechtigkeitsfrage diskutiert, an manchen Orten entstanden eigentliche philosophische Debattierclubs und die schon bis ins Jahr 1700 zurückgehende geistige Bewegung  der «Aufklärung» orientierte sich zunehmend an der Vernunft und am Hinterfragen bisher allgemein gültiger Glaubenssätze. Dazu kamen immer grössere Finanzprobleme des französischen Staates, vor allem infolge der Ausgaben für den Kolonialkrieg in Nordamerika, und das wachsende Unverständnis darüber, dass dennoch weiterhin rund sechs Prozent der Staatsausgaben für das königliche Hofleben in Versailles aufgewendet wurden und, vor allem, dass der erste und zweite Stand gänzlich von Steuerabgaben befreit waren. Das Fass endgültig zum Überlaufen brachte aber ein Anstieg des Brotpreises bis um das Dreifache im Jahre 1788 infolge einer verheerenden Missernte. Es kam zu ersten Massenprotesten in Paris, Vertreter des dritten Standes forderten gleiche Rechte und gleiche Pflichten für alle und eine Aufhebung der bisherigen Praxis, wonach jeder der drei Stände in der Nationalversammlung über je einen Drittel der gesamten Stimmkraft verfügte und somit der erste und der zweite Stand jederzeit den dritten überstimmen konnten, obwohl dieser 95 Prozent der gesamten Bevölkerung repräsentierte. Die Forderungen der revolutionären Bewegung gipfelten in den Parolen «Liberté», Freiheit, «Égalité», Gleichheit, und «Fraternité», was sich wohl am treffendsten mit «Solidarität» oder «Geschwisterlichkeit» übersetzen lässt.

Der Unmut wurde so gross, dass Vertreter des dritten Standes Bürgermilizen zu organisieren begannen. Es kam zu Plünderungen von Waffenlagern in Paris und am 4. Juli 1789 zum Sturm auf die Bastille, dem ganz besonders verhassten, als Hauptsymbol der absolutistischen Herrschaft geltenden französischen Staatsgefängnis in Paris. Die Ereignisse überschlugen sich in der Folge und die Unruhen griffen nach und nach auf das ganze Land über.

Am 26. August verabschiedete die Nationalversammlung schliesslich die «Erklärung der allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte»: Alle Menschen sind frei und gleich geboren, jede Herrschaft muss vom Volk ausgehen, alle Bürger dürfen frei ihre Meinung sagen, Fronarbeit, Abgaben und die Abhängigkeit der Bauern werden abgeschafft. Am 14. September 1791 wurden die Menschen- und Bürgerrechte mit folgenden Punkten ergänzt und zur französischen Verfassung zusammengefasst: Alle Bürger dürfen alle Ämter und Stellen bekleiden, alle Steuern werden gleichmässig nach dem Vermögen aufgeteilt, für gleiches Vergehen gelten ohne Rücksicht auf den Stand die gleichen Strafen, alle über 25Jährige dürfen wählen, wenn sie eine bestimmte Summe an Steuern bezahlen. Dass hier alles nur in der männlichen Fehler geschrieben steht, ist kein Fehler. Tatsächlich galten alle diese Rechte nur für Männer. Nur die Rechtsphilosophin und Schriftstellerin Olympe de Gouges war so mutig, eine «Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin» zu veröffentlichen, in der sie die völlig Gleichstellung der Frau mit dem Mann forderte, allerdings ohne sichtbaren Erfolg.

Es war in der Tat, wenn auch mit gewissen Einschränkungen, ein Aufbruch in ein neues Zeitalter. Nicht einmal die Bezeichnungen für die Wochentage und Monate und auch nicht die Aufteilung des Tages in 24 Stunden blieben unangetastet. Man begann sogar mit einer neuen Zeitrechnung: 1792 war nun das «Jahr eins der Gleichheit». Nichts durfte mehr an das Zeitalter des Absolutismus erinnern, vor allem natürlich auch nicht der König: Louis XVI, der zweite Nachfolger des Sonnenkönigs, wurde zum Tode verurteilt und am 21. Januar 1793 öffentlich hingerichtet, es folgte seine Gemahlin Marie-Antoinette am 16. Oktober des gleichen Jahres.

Doch offensichtlich war die Zeit für einen so tiefgreifenden gesellschaftspolitischen Wandel noch nicht reif genug. Bald brachen unter den unterschiedlichen revolutionären Strömungen heftige Machtkämpfe aus, neue Despoten traten auf: Maximilien de Robespierre, Georges Danton, bald auch schon Napoleon Bonaparte. Innerhalb von nur zwei Jahren kam es zu insgesamt rund 20‘000 Hinrichtungen. «Die Revolution ist wie der römische Gott Saturn», schrieb Pierre Victurnien Vergniaud, einer der führenden Politiker jener Tage, «sie frisst ihre eigenen Kinder.»

Blicken wir im Jahre 2024 auf den Absolutismus des 17. und 18. Jahrhunderts und die Französische Revolution von 1798 zurück, dann können wir wohl kaum zu einem anderen Schluss kommen, als dass von den Idealen dieser Revolution nicht sehr viel übrig geblieben ist, vom Absolutismus dafür umso mehr. Die «Fraternité», die gegenseitige Solidarität und Geschwisterlichkeit zwischen den Menschen, ist dem Kapitalismus, welcher den Menschen schon von klein auf einbläut, selbst auf Kosten und ohne Rücksicht auf andere für sein persönliches Fortkommen zu kämpfen, geradezu ein Dorn im Auge. Die «Liberté», die Freiheit, ist in einer Welt so grosser sozialer Gegensätze nur noch eine Farce und entpuppt sich bei näherem Hinsehen als nichts anderes denn als Privilegien, welche von den einen nur deshalb genossen werden können, weil sie den anderen vorenthalten sind. Und von echter «Égalité», Gleichheit, sind wir in einer Welt, in der zwischen 2000 und 2023 sämtliche Milliardäre der Welt ihr Vermögen um 3,3, Billionen US-Dollar steigern konnten, während die fünf Milliarden Ärmsten im gleichen Zeitraum 20 Milliarden US-Dollar Vermögen verloren haben (Studie der Entwicklungsorganisation Oxfam im Januar 2024), sowieso schon unvergleichlich viel weiter entfernt denn je.

Der Wahnsinn ist, dass man sich offenbar, wenn man nur genug lange nichts anderes kennt, selbst auch noch an das Absurdeste ganz und gar zu gewöhnen vermag. So würde heute wahrscheinlich eher jemand, der sich, im Sinne von «Égalité», für die Einführung eines weltweiten Einheitslohns aussprechen würde, für verrückt erklärt, als jemand, der selbst mit den absurdesten Argumenten so hohe Löhne rechtfertigen würde wie den eines Plantagenbesitzers um 1925 in El Salvador, der etwa 3000 Mal mehr verdiente als einer seiner Landarbeiter, oder den des bestbezahlten CEOs im Schweizer Pharmaunternehmen Roche, der im Jahre 2023 mehr als 300 Mal mehr verdiente als der am schlechtesten Bezahlte in der gleichen Firma.

Doch während die Ideale der Französischen Revolution längst zu Staub zerfallen sind oder im besten Falle noch als wohlklingende Worthülsen in Sonntagspredigten und  Wahlkampfreden von Politikerinnen und Politikern vorkommen, feiern die «Ideale» des Absolutismus aus der Zeit der Sonnenkönige mehr Hochkonjunktur denn je. Im Dezember 2018 organisierte Mukesh Ambani, mit einem geschätzten Vermögen von 49 Milliarden Dollar der reichste Inder, für seine Tochter Isha das grossartigste Hochzeitsfest in der Geschichte seines Landes. Die private Grossveranstaltung schlug alle Rekorde, angefangen beim Verkehr auf dem Flughafen Mumbai: Innerhalb von 24 Stunden gab es 1007 Flugbewegungen, so viele wie nie zuvor in der Geschichte des Flughafens. Darunter befanden sich zahllose Privatflüge des indischen und internationalen Geldadels von und nach Udaipur, wo die Vorhochzeitsparty stattfand. Dort trat nebst anderen Berühmtheiten auch Superstar Beyoncé auf, für eine Gage von geschätzten zwei Millionen Dollar und im Beisein von Hillary Clinton, einer alten Bekannten der Ambani-Familie. Ausserdem befanden sich unter den Gästen zahlreiche Bollywood-Stars und Mitglieder des Bollygarchen-Establishments, die im Zuge der «wirtschaftlichen» Öffnung des Landes märchenhaft reich geworden waren. Kostenpunkt der Hochzeitsfeier: 100 Millionen Dollar. (Tagesanzeiger, 11.12.2018) Und das in einem Land, wo fast ein Fünftel der Bevölkerung unterernährt sind, ein Drittel mit weniger als 1,9 Dollar Einkommen pro Tag auskommen muss und es mehr arme Menschen gibt als in jedem anderen Land der Welt.

Mit Berichten über die weltweiten Ausschweifungen der Reichen und Superreichen liessen sich ganze Bibliotheken füllen: Milliardäre wie Richard Brenson machen mit der eigenen Privatrakete Wochenendausflüge ins Weltall, reiche Europäer und Nordamerikaner kaufen sich ganze Wildpärke in Südafrika mit Zebras, Löwen und Elefanten sowie Dutzenden von Bediensteten rund um die Uhr und an Jubiläumsanlässen von Grosskonzernen werden den Aktionärinnen und Aktionären auf nackten Frauenkörpern ausgelegte, erlesenste Häppchen aus aller Welt dargeboten. Besonders viele Nachkommen der Sonnenkönige sind jeweils am alljährlich in Davos stattfindenden, sogenannten «World Economic Forum» anzutreffen, einige von ihnen lassen sich noch um zwei Uhr nachts von ihren Angestellten zwanzig Hemden bügeln, andere rufen den privaten Butler, um sich von ihm die Schuhe binden zu lassen, fast so wie Ludwig der Vierzehnte, der sich jeden Morgen von etwa sieben Bediensteten einkleiden liess, jeder und jede für ein bestimmtes Kleidungsstück zuständig. Dennoch erscheinen, wenn wir im Internet den Suchbegriff «Absolutismus in der Gegenwart» eingeben, nur folgende Namen: Sultan Hassanat Bulkiah von Brunei, König Mswati der Dritte von Eswatini, Scheich Tamim bin Hamad Al Thani von Katar, Sultan Haitham ibn Tariq von Oman, König Salman ibn Abd al-Aziz von Saudi-Arabien und Papst Franziskus. Ganz so, als gäbe es nicht weltweit Abermillionen von Geschäftsleuten, Besitzern von Rohstoffkonzernen, Drogenbossen, Börsenspekulanten und Regierungschefs von ganz gewöhnlichen, «demokratischen» Staaten, die ein weit «absolutistischeres» Leben führen, als sich das der Sonnenkönig von Versailles jemals hätte erträumen lassen. Selbst gerade zurzeit in der Ukraine, die sich nach aussen als ein «demokratisches» Land gibt, in dem angeblich alle Bürgerinnen und Bürger füreinander einstehen und sich gemeinsam und solidarisch gegen den russischen «Eindringling» zur Wehr setzen, werden nur die Männer und Frauen aus den mittleren und unteren Bevölkerungsschichten für den Kriegsdienst rekrutiert, wo viele von ihnen schon ihr Leben verloren haben, andere selbst nach schwersten Verletzungen, kaum sind sie genesen, wieder an die Front geschickt werden und wieder schon seit zwei Jahren pausenlos, bis zur totalen Erschöpfung, im Einsatz sind – während die jungen Männer und Frauen aus der ukrainischen Oberschicht in Mallorca ihre protzigen Autos zur Schau stellen und in den Nachtclubs an den Meeressträngen die ausgelassensten Partys feiern.

Im Sommer 2023 stach die «Icon of the Seas» in See, mit einer Länge von 365 Metern und einer Breite von 50 Metern das grösste je gebaute Kreuzfahrtschiff der Welt, fünfmal so gross wie die am 14. April 1912 infolge des Zusammenpralls mit einem Eisberg südlich von Neufundland untergegangene «Titanic», die ebenfalls das grösste Kreuzfahrtschiff ihrer Zeit gewesen war. Auf dem Oberdeck der «Icon of the Seas» befindet sich mit sechs Wasserrutschen, einer offenen Freifallrutsche sowie einer Flossrutsche, auf der vier Personen gleichzeitig fahren können, der grösste schwimmende Wasserpark der Welt. Mit einem Fassungsvermögen von 150‘000 Litern gibt es hier, nebst 15 etwas kleineren, auch den grössten Pool an Bord eines Kreuzfahrtschiffs. In einer riesigen Glaskuppel, «Aquadome» genannt, finden Akrobatik- und Tauchshows statt. Zudem gibt es einen künstlichen Wasserfall, ein Dutzend Restaurants und Cafés sowie einen Minigolfplatz und einen Kletterpark. Für Naturbegeisterte bietet die «Icon of the Seas» sogar etwas, was es noch nie auf irgendeinem Kreuzfahrtschiff gegeben hat: Eine Grünanlage, genannt «Central Park», in der 20‘000 Pflanzen und sogar etliche richtige Bäume wachsen. 2000 Franken kostet ein Platz in einer der Kabinen auf der siebentägigen Rundfahrt von Miami über die karibischen Inseln und Mexiko bis Honduras, eine Suite kann schon mal bis 10‘000 Franken pro Person kosten, Essen und Getränke nicht inbegriffen. (NZZ, 20.7.2023). Ob wohl die Menschen, die sich an Bord der «Icon of the Seas» vergnügen, auch gelegentlich einen Gedanken verschwenden an die Köche im heissen Bauch des Schiffes, die für ihr tägliches leibliches Wohl sorgen, an die Angestellten, die ihre Kabinen rund um die Uhr sauber machen, und an all jene Menschen, welche dieses Schiff gebaut haben?

Gut möglich, dass einige der Reisenden an Bord der «Icon of the Seas» bald auch schon mal ihre Ferien in Frankreich verbringen werden, um dort, wie dereinst der Sonnenkönig, durch die prächtigen Gärten von Versailles zu lustwandeln und anschliessend Dutzende von Gemälden zu bewundern, auf denen der Sonnenkönig in jeglichen Varianten abgebildet ist, aber keine einzige der Mägde, die ihm jeden Morgen die Zähne putzten, und kein einziger der Gärtner, die all die wunderbaren Blumen pflanzten, deren Duft die königlichen Gäste stets so betörte und der auch die heutigen Reisefreudigen immer wieder in Bann zu ziehen vermag. Gut möglich, dass einige der Reisenden auch irgendwann in Peru anzutreffen sein und dort in der Hauptstadt Lima die weltberühmte «Kathedralbasilika St. Johannes» bestaunen werden – ob ihnen die Reiseführerin wohl erzählen wird, dass diese Kathedrale niemals hätte gebaut werden können ohne das Geld, welches aus unzähligen namenlosen Indios, die sich zu Tode quälen mussten, herausgeschunden worden war? Und höchstwahrscheinlich sogar werden einige der Reisenden irgendwann auch in New York von sich und der Freiheitsstatue glückstrahlend Selfies schiessen, vermutlich ohne je an die ursprüngliche Bevölkerung dieses Landes zu denken, deren allerletzten Gesänge freilich schon seit über hundert Jahren in den Weiten der leergefegten Prärien verklungen sind…