Weshalb die Rolle des Westens und der USA im Ukrainekonflikt nicht einfach verschwiegen werden darf…

 

“Wie weit geht Putin noch?” – dies das Thema der Diskussionssendung “Club” am Schweizer Fernsehen vom 4. Oktober 2022. Es geht um die aktuelle militärische Lage in der Ukraine, um Putins machtpolitische Strategien und um die Frage, wie weit er gehen würde im Falle einer militärischen Niederlage im Donbass. Doch dies alles ist nur die halbe Wahrheit. Die andere halbe Wahrheit, das ist die Rolle der westlichen Staaten, allen voran der USA. 

Kurze historische Rückblende: Als 1991 die Sowjetunion zerfiel, versicherten namhafte westliche Politiker, unter ihnen der französische Präsident François Mitterrand, der deutsche Aussenminister Hans-Dietrich Genscher, der amerikanische Aussenminister Jim Baker und der amerikanische Präsident George Bush, gegenüber Michail Gorbatschow, dem letzten Generalsekretär der Sowjetunion, es sei nicht geplant, die NATO nach Osten auszudehnen. Doch im Folgenden geschah genau das Gegenteil, ein europäisches Land ums andere wurde in das westliche Militärbündnis aufgenommen, und dies nicht nur aus freien Stücken, sondern aufgrund von massivem politischem und finanziellem Druck seitens der USA. Dabei hätte es genug warnende Stimmen gegenüber der NATO-Osterweiterung gegeben. So jene des US-Historikers George F. Kennan, der im Jahre 1997 Folgendes sagte: “Die Entscheidung, die NATO bis an die Grenzen Russlands zu erweitern, ist der verhängnisvollste Fehler und wird die russische Aussenpolitik in eine Richtung zwingen, die uns entschieden missfallen wird.” Ähnlich äusserte sich Robert Hunter, NATO-Botschafter der USA von 1993 bis 1998: “Die Hauptschuld an der negativen Entwicklung zwischen dem Westen und Russland nach dem Ende des Kalten Kriegs trifft die USA, insbesondere wegen der Expansion der NATO.” Und, man höre und staune, selbst Joe Biden, damals Senator, sagte 1997: “Das Einzige, was Russland zu einer heftigen militärischen Reaktion zwingen könnte, wäre eine Expansion der NATO bis zur russischen Grenze.” 

Als nun ab 2014 auch ein Beitritt der Ukraine zur NATO spruchfrei geworden war, bedeutete dies genau das Überschreiten jener roten Linie, vor der Kennan, Hunter und Biden so eindringlich gewarnt hatten. “Sie machten nicht einmal ein Geheimnis daraus”, sagte Noam Chomsky, “sie versorgten die Ukraine mit modernen Waffen, militärischer Ausbildung, gemeinsamen Militärübungen und Massnahmen zur Integration der Ukraine in die NATO.” Selbst NATO-Generalsekretär Stoltenberg war bewusst, dass hier etwas in Gang gesetzt worden war, was kaum ein russischer Führer als tragbar ansehen konnte. Auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte schon 2008 gewarnt: “Wenn die Ukraine Teil der NATO wird, dann bedeutet dies aus der Perspektive Russlands eine Kriegserklärung.” Und der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt meinte: “Das Vertrauen zu Putin wurde durch die NATO-Osterweiterung unter starkem Einfluss der USA in Richtung Russland zerstört und nicht durch den russischen Überfall auf die Krim.”  

Man stelle sich einmal vor, Mexiko und Kanada würden sich einem Militärbündnis mit Russland anschliessen. Wie würden die USA darauf wohl reagieren? So oder ähnlich musste sich Russland fühlen, als die NATO Land um Land immer näher heranrückte. Und so ist es kein Wunder, dass Putin im Dezember 2021 das Gespräch mit der US-Regierung suchte, um bezüglich Ukraine eine einvernehmliche Lösung zu finden. Hätte Joe Biden in ein solches Gespräch eingewilligt, statt es in Bausch und Bogen zu verwerfen, wer weiss, ob damit nicht vielleicht sogar der russische Überfall auf die Ukraine hätte abgewendet werden können…

Wenn man Putin als “Aggressor” und “Massenmörder” an den Pranger stellt, dann sollte man nicht vergessen, dass auch die USA alles andere als eine weisse Weste tragen. 44 Militäroperationen, zum überwiegenden Teil völkerrechtswidrig, haben die USA seit 1945 vom Zaun gerissen, allein schon die im Vietnamkrieg angerichteten Massaker gehören zu den schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Insgesamt 50 Millionen Menschen sind den US-Militärschlägen bis heute zum Opfer gefallen, 500 Millionen Verwundete erlitten unvorstellbare Qualen und viele von ihnen tragen lebenslange psychische und körperliche Wunden. Und auch wenn man sich die aktuellen globalen Machtverhältnisse vor Augen führt, dann ist Russland längst nicht jener gefährliche und übermächtige Feind, als der es im Westen immer wieder dargestellt wird, ganz im Gegenteil: Verfügen die USA weltweit über rund 1000 Militärstützpunkte, von denen sich ein grosser Teil in unmittelbarer Nähe Russlands befinden, hat Russland gerade mal 20 militärische Basen im Ausland. Ebenso krass ist der Unterschied bei den militärischen Ressourcen: Rund 20 Mal grösser als jenes von Russland ist das jährliche Militärbudget der NATO.

Wer ernsthaft über den Krieg in der Ukraine diskutieren will, müsste auch all jene Fakten zur Kenntnis nehmen, die dem gängigen Feindbild nicht entsprechen oder dieses sogar in Frage stellen. Und er müsste sich auch mit der Frage beschäftigen, wie es denn möglich ist, dass über so viele Fakten, Aussagen und Zusammenhänge jüngster Vergangenheit ein so dicker Deckel des Vergessens gelegt werden konnte, dass die Erinnerung daran schon fast gänzlich ausgelöscht worden ist. Sollte schon jetzt die Wahrheit dem Krieg zum Opfer gefallen sein, dann ist, um dem Frieden eine Chance zu geben, nichts so wichtig, als vergessene und verdrängte Tatsachen so schnell wie möglich wieder aus der Vergessenheit hervorzuholen. Um nicht nur über die halbe Wahrheit zu diskutieren, sondern über die ganze. Ob das vielleicht ein Thema für den nächsten “Club” am Schweizer Fernsehen wäre?