Auf dass die polternden, demütigenden und faustschlagenden Männer endlich in der Besenkammer verschwinden und der Raum frei wird für eine zärtliche, liebevolle, sanfte und friedliche Zukunft der Menschheit

7. März 2024, ausgerechnet am Vorabend des Internationalen Frauentags: Ein diplomatischer Kurier aus Budapest liefert in Washington ein Dokument ab. Es ist die Urkunde, die Ungarns Zustimmung zur Aufnahme Schwedens in die NATO beglaubigt. So wie seit einigen Monaten bereits Finnland, gehört nun also auch Schweden zur nordatlantischen Allianz. Damit wird die Nordostflanke der Allianz massiv verstärkt und die NATO gewinnt deutlich an Kampfkraft, verfügt Schweden doch über eine ausserordentliche militärisch-industrielle Kapazität, so etwa mit dem Schützenpanzer CV90, der als besonders effizient gilt und auch von der Schweizer Armee verwendet wird, mit dem Stridsvagn 122, dem wohl besten Kampfpanzer der Welt, mit den von der eigenen Rüstungsindustrie entwickelten 100 Gripen-Kampfflugzeugen, mit einer ebenfalls in Eigenregie gebauten Flotte hochmoderner U-Boote, die auch in weniger tiefen Wassern agieren können, sowie einem Riesenarsenal an Kleinwaffen und schultergestützten Panzerabwehrwaffen, wo Schweden ebenfalls zur technologischen Weltspitze gehört. Und dieses jetzt schon die meisten anderen NATO-Staaten weit übertreffende militärische Potenzial soll sogar noch weiter ausgebaut werden: Vorausschauend auf den NATO-Beitritt hat die schwedische Regierung ihr Verteidigungsbudget für das Jahr 2024 um 2,2 Milliarden Euro auf über 10 Milliarden Dollar erhöht. Und wie wenn das nicht alles schon mehr als genug wäre, läuft gerade jetzt auch noch mit “Steadfast Defender” (“standhafter Verteidiger”) unter Beteiligung von 90’000 Soldaten im Norden Norwegens, Finnlands und Schwedens das grösste NATO-Manöver seit dem Ende des Kalten Kriegs.

Ein “strategisches Debakel für Putin” und ein “für einmal wirklich historischer Entscheid” frohlockt das schweizerische “Tagblatt” vom 8. März. Mit dem Beitritt Finnlands und Schwedens werde die Ostsee praktisch zum NATO-Meer. Die NATO sei nun “ein gutes Stück näher vor die Haustüre Russlands gerückt”. Und auch Hubert Wetzel schreibt im “Tagesanzeiger” vom 8. März voller Begeisterung: “Ein demütigender Tag für Wladimir Putin”, ein “strategisches Desaster”. Putin, der stets von Russlands Stärke schwafle, habe Russland damit erheblich geschwächt und in der kurzen Zeit von zwei Jahren der “ach so bedrohlichen westlichen Allianz” zwei neue Mitglieder “in die Arme getrieben”. “Erlauben Sie bitte, Wladimir Wladimirowitsch”, schreibt Wetzel, “Ihnen alleruntertänigst zu diesem grossartigen Erfolg gratulieren zu dürfen!” Und weiter: “Wladimir der Geniale” sei wohl in Wirklichkeit nur ein “banaler, brutaler Strassenschläger, der gerade so weit denken kann, wie seine Faust reicht.” Am folgenden Tag lautet die Schlagzeile im “Tagblatt”: “Die Nato lehrt Russland das Fürchten”, es folgt ein eineinhalb Seiten langer Überblick über den “Kräftevergleich” zwischen NATO und Russland. Aktive Soldaten: NATO 3,4 Millionen, Russland: 1,3 Millionen; Atomwaffen: beide ca. 5800; Kampfjets und Bomber: NATO 4500, Russland 1500; Kampfhubschrauber: NATO 1440, Russland 560; Kampfpanzer: beide ca. 12’500; U-Boote: NATO 143, Russland 65; Zerstörer: NATO 112, Russland 14; Flugzeugträger: NATO 16, Russland 1. Männliche Muskelspiele wie eh und je.

Was eine ganz gewöhnliche Russin, ein ganz gewöhnlicher Russe wohl denken und empfinden wird, wenn sie heute, an diesem 9. März 2024, diese beiden Artikel im schweizerischen “Tagblatt” oder im “Tagesanzeiger” lesen würden? Die NATO ist wieder ein gewaltiges Stück näher an uns herangerückt, steht jetzt schon an der längsten Grenze zwischen ihr und uns, fühlt sich bereits als “Sieger”, freut sich, uns “gedemütigt” zu haben, uns ein “Desaster” zugefügt zu haben, brüstet sich mit ihrer militärischen Überlegenheit, treibt ihre militärische Aufrüstung – obwohl sie bereits heute über ein 14 Mal höheres Militärbudget verfügt als Russland – dennoch immer weiter in die Höhe, hat rund um unser Land 2000 Militärstützpunkte aufgebaut und überall Raketen aufgestellt, die alle gegen unser Land gerichtet sind, während wir selber gerade mal über weltweit läppische 25 Militärbasen ausserhalb unseres Landes verfügen. Und wenn sich dann der ganz gewöhnliche Russe und die ganz gewöhnliche Russin vielleicht sogar noch daran erinnern, was für Aussagen führende US-Politiker seit Jahrzehnten immer wieder in Bezug auf Russland gemacht haben, wenn sie zum Beispiel davon sprachen, Russlands Wirtschaft “ruinieren” und das Land “zerstückeln” zu wollen, dann braucht es wohl nicht allzu viel Phantasie, um sich vorzustellen, was für Gefühle, was für Gedanken und was für Zukunftsängste dies alles in ihnen auslösen muss. Da braucht ihnen Putin nicht allzu viel zu erklären – darauf kommen sie ganz von selber.

Doch wie ist es möglich, dass die westliche Propagandamaschinerie immer noch so gut funktioniert? Dass fast alle NATO-Länder bei der weiteren Aufrüstungswelle mitmachen und die jeweilige Bevölkerung sogar bereit ist, hierfür massivste Kürzungen bei den Sozialausgaben, bei der Bildung, der Kultur oder bei Massnahmen gegen Klimawandel und Umweltzerstörungen hinzunehmen? Und wie ist zu erklären, dass – im Gegensatz etwa zu 2003 vor dem drohenden Angriff der USA gegen den Irak – kaum irgendwo eine grössere Friedensdemonstration stattfindet und fast an keinem Haus eine Peace-Fahne hängt? Zu erklären ist das wohl nur damit, dass es den westlichen Regierungen und den mit ihr weitgehend gleich geschalteten Medien offensichtlich gelungen ist, ein so hassenswertes Feindbild des russischen Präsidenten Wladimir Putin aufzubauen, dass jegliches Denken in Kategorien von Vernunft und Differenzierung nach und nach verloren gegangen ist und schon fast niemandem mehr in den Sinn zu kommen scheint, dass man, wenn man Putin als “Mörder” und “Kriegsverbrecher” bezeichnet oder ihn gar mit Hitler vergleicht, noch viel bessere Argumente dafür hätte, den früheren US-Präsidenten George W. Bush, der mit dem völkerrechtswidrigen Kriege gegen den Irak eine halbe Million Menschenleben auf dem Gewissen hat, oder den für den gegenwärtigen Völkermord an den Palästinenserinnen und Palästinensern hauptverantwortlichen israelischen Regierungschef Netanyahu als Mörder und Kriegsverbrecher zu bezeichnen oder sie mit Hitler zu vergleichen.

Das zweite Instrument zur Verhinderung eines kritischen Widerstands ist die Unterdrückung der Wahrheit. Die westlichen Kriegstreiber und Scharfmacher wissen genau, weshalb sie nie an vorderster Stelle erwähnen, wie hoch und heilig führende westliche Politiker nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Russland versprochen hatten, die NATO um “keinen Inch” weiter nach Osten auszudehnen – um in den folgenden Jahrzehnten genau dieses Versprechen dutzendfach zu brechen. Sie wissen auch ganz genau, weshalb die Tatsache, dass Putin nach seinem Amtsantritt als russischer Präsident dem Westen erfolglos eine gemeinsame europäische Sicherheitsstruktur vorschlug, auf keinen Fall ans Licht der Öffentlichkeit gelangen darf. Sie wissen auch ganz genau, weshalb sie nie daran erinnern, wie vehement sich die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel 2008 gegen eine Aufnahme der Ukraine in die NATO wehrte, weil dies Russland zu sehr “provozieren” würde. Sie wissen auch ganz genau, weshalb sie sich nach wie vor mit Händen und Füssen gegen eine Aufklärung und höchstwahrscheinliche Mitbeteiligung des Westens mithilfe der CIA am Umsturz der ukrainischen Regierung anfangs 2014 wehren. Sie wissen auch ganz genau, weshalb sie nie davon sprechen, dass Putin noch im Dezember 2021 den USA eine friedliche Lösung des Ukrainekonflikts vorgeschlagen hatte, was diese ohne jegliche Begründung zurückgewiesen hatten. Sie wissen auch ganz genau, weshalb die kürzlich bekannt gewordene, seit 2014 betriebene Installation von zwölf geheimen CIA-Spionagebasen an der ukrainisch-russischen Grenze auf keinen Fall zu viel Raum in der öffentlichen Wahrnehmung einnehmen darf. Sie wissen auch ganz genau, weshalb möglichst wenige Menschen erfahren sollen, dass eine im März 2022 zwischen der Ukraine und Russland vereinbarte Friedenslösung vom damaligen britischen Premier Boris Johnson vereitelt wurde. Sie wissen auch ganz genau, weshalb alles daran zu setzen ist, dass die wahren Hintergründe des Anschlags vom September 2022 auf die Nordstream-Pipelines in der Nordsee möglichst nie aufgedeckt werden. Auch wissen sie ganz genau, dass die Meldung, wonach Selenski Friedensverhandlungen mit Russland per Dekret verboten hat, auf keinen Fall in der öffentlichen Meinung zu viel Platz einnehmen darf. Sie wissen auch genau genau, weshalb sie nie erwähnen, dass – gemäss einer Umfrage des Soziologischen Instituts der Universität Kiew – 72 Prozent der ukrainischen Bevölkerung Friedensverhandlungen mit Putin befürworten. Und sie wissen ebenfalls ganz genau, weshalb die vor etwa drei Monaten von US-Aussenminister Blinken gemachte Aussage, wonach es in Ordnung sei, den Krieg in der Ukraine in Anbetracht der dadurch gesicherten Arbeitsplätze in der US-Rüstungsindustrie möglichst lange weiterzuführen, in der öffentlichen Meinungsbildung auf keinen Fall zu viel Gewicht bekommen sollte. Kämen nämlich alle diese Tatsachen ans Licht der Öffentlichkeit, könnte die öffentliche Meinung rasch umkippen und die bisher aufgebauten Strategien und Feindbilder augenblicklich in sich zusammenbrechen. Das zutiefst Widersprüchliche bei alledem besteht darin, dass westliche Regierungen und Medien ihre Parteinahme für die Ukraine ja nicht zuletzt immer wieder als Parteinahme im Kampf der Demokratien gegen die Diktaturen begründen, gleichzeitig aber das Recht auf freie Meinungsäusserung und vorurteilsfreie Akzeptanz kontroverser Standpunkte in ihren eigenen Ländern massiv unterbinden oder zumindest erschweren.

Aber selbst wenn wir davon ausgehen würden, dass tatsächlich Putin alles daran setzen würde, nun ein europäisches Land nach dem andern zu erobern, selbst dann würden die derzeitigen Strategien westlicher Regierungen und Medien keinerlei Sinn machen. Denn heutzutage weiss schon jedes Kind, dass man einen anderen Menschen nur genug lange demütigen, herabwürdigen, kleinmachen und ihn als Bösewicht oder Versager hinstellen muss, um damit nichts anderes zu bewirken, als dass der so Gedemütigte früher oder später zurückschlagen wird, um sich wieder “Recht” zu verschaffen. Wie zwei Buben auf dem Schulhausplatz: Der eine stichelt und provoziert den anderen so lange, bis dieser “ausrastet” und seine Faust sausen lässt – worauf das blutende “Opfer” zum Lehrer rennt und den “Schläger” der alleinigen Schuld bezichtigt. Die heutige und sich offensichtlich immer mehr verschärfende Logik der westlichen Seite unter dem Vorwand, sich gegen einen zukünftigen Krieg zu wappnen, folgt genau dieser simplen Logik, ein höchst gefährlicher Weg mit grössten Risiken. Denn die tatsächliche Gefahr einer drohenden grossflächigen militärischen Auseinandersetzung wird durch eine Aufrüstung nie da gewesenen Ausmasses, durch die grössten Militärmanöver aller Zeiten und die Verhöhnung und Demütigung des vermeintlich Schwächeren nicht kleiner, sondern, im Gegenteil, viel grösser. “Russland”, schreibt das “Tagblatt”, “schaut dem Treiben aufmerksam zu. Für den Fall, dass NATO-Truppen und -Waffen permanent nach Schweden verlegt würden, kündigte Moskau Gegenmassnahmen politischer und technischer Art an. Was genau das bedeutet, bleibt offen.” Ja, haben denn die NATO-Verantwortlichen nicht schon vorher überlegt, was passieren könnte? Die kommen mir vor wie ein potenzieller Brandstifter, der zunächst eines, dann immer mehr brennende Streichhölzer hinhält und dann gespannt zuschaut, ob das Haus nun zu brennen beginnt oder nicht.

Gestern wurde der internationale Frauentag begangen. Echt verstandener Feminismus, der sich nicht damit zufrieden gibt, dass Frauen bloss vermehrt in die Fussstapfen eines von Männern bestimmten patriarchalen Machtsystems treten, sondern sich zum Ziel setzen, diese patriarchalen Machtverhältnisse radikal zu überwinden, ist zweifellos die wichtigste politische Bewegung unserer Zeit. Auf dass die polternden, demütigenden und faustschlagenden Männer endlich in der Besenkammer verschwinden und der Raum frei wird für eine zärtliche, liebevolle, sanfte und friedliche Zukunft der Menschheit.