58 Prozent der Schweizer Bevölkerung für eine 13. AHV-Rente: Doch eigentlich hätten wir schon vor über 50 Jahren um einiges weiter gewesen sein können…

“Was für ein wichtiger Schritt hin zu einer sozialen Schweiz!”, schreiben die SP-Copräsidentin Mattea Meyer und der SP-Copräsident Cédric Wermuth, nachdem die Zustimmung zu einer 13. AHV-Rente durch 58 Prozent der Schweizer Bevölkerung feststeht. “Heute ist ein wirklich historischer Tag!”, frohlockt auch Gabriela Medici vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund. “13. AHV-Rente sorgt für Sensation”, schwärmt das Onelinemagazin “Republik”. Und in der abendlichen Tagesschau des Fernsehens SRF1 ist von einer “Zäsur” und gar von einer “Zeitenwende” die Rede in Anbetracht der Tatsache, dass zum allerersten Mal eine Initiative, welche “einen Ausbau des schweizerischen Sozialstaats” fordere, angenommen worden sei.

Doch Hand aufs Herz: Was ist denn tatsächlich geschehen? Mit einer 13. AHV-Rente wird doch bloss, und nicht einmal das vollständig, das wieder gutgemacht, was in den vergangenen Jahren an Kaufkraft verloren gegangen ist. Eine pure Selbstverständlichkeit, das absolute Minimum. Wenn eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung dieses Anliegen abgelehnt hätte, wäre das nicht nur die schlechtere von zwei möglichen Varianten gewesen, sondern nichts weniger als eine absolute Bankrotterklärung all dessen, was man als Grundverständnis einer sozialen und demokratischen Gesellschaft bezeichnen müsste. Mitnichten ist der schweizerische Sozialstaat am 3. März 2024 ausgebaut wurden, im besten Falle hat man auf dem sich laufend beschleunigenden Weg zunehmender sozialer Polarisierung und unaufhörlich wachsender Bereicherung der Reichen auf Kosten zunehmender Verarmung der Armen gerade noch das Allerschlimmste für einen kurzen Moment verhindern können. Nicht einmal ein Tropfen auf einen heissen Stein, sondern, wenn schon, eher noch weniger.

Die Euphorie an diesem Abstimmungssonntag, das Gerede von einem “Sieg” der sozialen Gerechtigkeit, von einem “historischen Tag” oder gar von einer “Zeitenwende” zeigt nur, wie unglaublich bescheiden jene politischen Kräfte geworden sind, die immer noch die Vision einer wirklich sozial gerechten, zutiefst demokratischen Schweiz in ihrem Herzen tragen. So dick und fett ist das Brot am oberen Ende der kapitalistischen Klassengesellschaft schon geworden, dass an ihrem unteren Ende schon ein Freudenfest ausbricht, wenn man sich wenigstens noch den einen oder anderen der am Boden liegen gebliebenen Krümel ergattern kann. Seit 1997 wird man in der Schweiz nicht vor allem durch harte, sorgfältige und aufopfernde Arbeit reich, sondern vor allem dadurch, dass man bereits, auf welchen Wegen auch immer, um vieles reicher ist als andere – seit jenem ominösen Jahr 1997 nämlich übersteigt die Summe sämtlicher Einnahmen aus Kapitalgewinnen gesamtschweizerisch die Summe aus Arbeitseinkommen, und dieses Missverhältnis nimmt von Jahr zu Jahr weiter zu. Unaufhörlich fliesst das Geld von den Armen zu den Reichen, von der Arbeit zum Kapital. Während Lebensmittelpreise, Strompreise und Mietzinsen immer weiter in die Höhe klettern, fahren Lebensmittelkonzerne, Elektrizitätsunternehmen und Immobilienkonzerne von Jahr zu Jahr höhere Milliardengewinne ein. Während über eine Million Menschen von Armut betroffen sind und 160’000 trotz voller Erwerbsarbeit nicht einmal genug verdienen, um davon leben zu können, haben sich in den Händen der 300 Reichsten bereits über 800 Milliarden Franken angesammelt, fast so viel, wie die USA jährlich für ihre mit Abstand grösste Militärmacht der Welt ausgeben. In einigen multinationalen Konzernen verdienen die am besten Bezahlten über 300 Mal mehr als die in der gleichen Firma am schlechtesten Bezahlten. Stundenlöhnen von 10’000 Franken der Topverdiener steht der bisher vergebliche Kampf um schweizweit gesicherte Mindestlöhne gegenüber und die Behauptung von Arbeitgeberseite, gesetzlich geregelte Mindestlöhne könne sich die Schweiz aus ökonomischen Gründen nicht leisten. 90 Milliarden Franken, fast das Doppelte der jährlich ausbezahlten AHV-Renten, fliessen Jahr für Jahr in Form von Erbschaften unversteuert von einer zur nächsten Generation, ungebrauchtes, überflüssiges Geld, nur dazu da, die schon Reichen noch reicher zu machen. Nur in zwei Ländern der Welt, nämlich Singapur und Namibia, sind die Vermögensunterschiede zwischen Arm und Reich noch grösser als in der Schweiz.

Auch die Altersvorsorge ist ein totales Abbild der herrschenden kapitalistischen Klassengesellschaft, angefangen von denen, die nur über eine AHV-Rente verfügen und nicht einmal von dieser anständig leben können, über jene, die von einer guten betrieblichen Berufsvorsorge durch lebenslange volle Erwerbstätigkeit profitieren, bis zu jenen, die sich zu alledem zusätzlich sogar noch eine dritte Säule leisten können und erst noch das Privileg geniessen, sich problemlos frühzeitig pensionieren zu lassen, während andere gezwungen sind, sich buchstäblich bis zum bitteren Ende zu Tode schinden zu müssen.

Dabei wären wir sogar vor über 50 Jahren, nämlich 1972, schon um einiges weiter gewesen. Die damals von der Partei der Arbeit geforderte Einführung einer Volkspension mit existenzsichernden Altersrenten anstelle des 3-Säulen-Prinzips wurde zwar – nicht zuletzt infolge des massiven Widerstands seitens der Pensionskassen, die ihre Profite schon davonschwimmen sahen – mit 85 Prozent Neinstimmen verworfen. Selbst die SP konnte sich nicht zu einer klaren Unterstützung der Vorlage durchringen, gerade mal vier Kantonalparteien sprachen sich für die Initiative aus. Aber wenigstens wurde damals noch über die Idee einer einheitlichen staatlichen Altersvorsorge diskutiert, etwas, was wir uns heute wohl nicht einmal mehr im Traum vorzustellen wagen – obwohl es doch nichts anderes wäre als die logische Umsetzung des Artikels 41 der Schweizerischen Bundesverfassung, wonach “Jede Person gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter gesichert” sein soll. Ein Vergleich zwischen 1972 und 2024 zeigt, wie stark sich der gesellschaftspolitische Diskurs innerhalb dieser 52 Jahre verschoben hat: Gab es zu jener Zeit am linken Rand des politischen Spektrums noch eine Partei der Arbeit als Stachel im Fleisch der kapitalistischen Klassengesellschaft, so ist heute an dieser Stelle nur noch ein Vakuum, während sich dafür am anderen Ende des Spektrums immer stärker die SVP als bestimmende politische Kraft herausgebildet hat. Auch die Zeiten, da sich die SP die Überwindung des Kapitalismus ins Parteiprogramm geschrieben hat, sind längst vorbei, heute wäre dies vermutlich nicht mehr möglich. Das ist es, was man tatsächlich als “Zeitenwende” bezeichnen könnte. Nicht irgendeine Abstimmung oder die Wahl irgendeines kantonalen Parlaments oder einer Regierungsbehörde am Tag X, sondern die allmählich schleichende Transformation über längere Zeiträume hinweg in immer so kleinen Schritten, dass jeder einzelne davon gerade noch verdaubar ist, man sich immer mehr daran gewöhnt und noch so Absurdes und Widersprüchliches dabei nach und nach zur Normalität wird. Genau so wie in einer Geschichte des irischen Wirtschafts- und Sozialphilosophen Charles B. Handy, in der ein alter Mann folgendes Experiment durchführte: Er nahm einen Frosch und warf ihn in einen Topf mit kochendem Wasser, der Frosch machte einen entsetzten Sprung, sprang aus der Hütte und verschwand im Gestrüpp. Dann nahm er einen anderen Frosch und legte ihn, weil dieses Mal kein kochendes Wasser bereit stand, in einen Topf mit kaltem Wasser und stellte ihn auf den Ofen, dann machte er Feuer. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass sich der Frosch im Topf ruhig verhielt. Das Wasser wurde immer wärmer, schliesslich heiss und dann begann es zu kochen. Doch der Frosch blieb selbst im heissesten Wasser ruhig und machte keinerlei Anstalten, der bedrohlichen Situation entkommen zu wollen. Bis er starb. Der alte Mann freute sich über das unerwartete Abendmahl und dachte über den Sinn des Lebens nach, während er mit Genuss seine Froschsuppe schlürfte.

Erfreulich ist immerhin, dass die traditionelle bürgerliche Einschüchterungspolitik und Angstmacherei für einmal im Leeren verpuffte, jenes Instrument nämlich, das bisher stets so einwandfrei funktionierte und selbst vernünftigste und bestens begründete Volksbegehren wie etwa längere Ferien, die Einführung von Erbschafts- und Kapitalgewinnsteuern, die Einführung einer Einheitskrankenkasse oder das Recht auf bezahlbare Wohnungen immer und immer wieder zu Fall zu bringen vermochte – selbst wenn diese Begehren in den Meinungsumfragen zunächst mehrheitlich Unterstützung gefunden hatten – “Abstimmungserfolge” nicht zuletzt auch mithilfe einer jeweils übermächtig in den Abstimmungskampf geworfenen Geldmenge. Interessant ist zudem, dass offenbar mittlerweile auch die Bürgerlichen festgestellt haben, dass die soziale Gerechtigkeit ein Thema ist, welches den Menschen zunehmend auf den Nägeln brennt. So sind sie im Abstimmungskampf um die 13. AHV-Initiative immer wieder mit dem Argument angetreten, eine solche zusätzliche Rente käme auch Menschen zugute, die es gar nicht nötig hätten, und man würde doch lieber denen helfen, die wirklich darauf angewiesen wären. Als hätten sie versucht, die Linke links zu überholen und mit ihren eigenen Argumenten zu schlagen. Doch auch dieses Spiel hat nicht funktioniert, zu fadenscheinig war es und, in Anbetracht der üblichen bürgerlichen Politik zugunsten der Reichen und Mächtigen, geradezu allzu scheinheilig, um nicht von der Mehrheit der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger durchschaut worden zu sein.

Doch kaum ist die Abstimmung vorüber, wird von der Gegnerschaft der Vorlage schon die Frage in den Raum gestellt, wer das Ganze nun finanzieren solle. Als ob dies ein ernsthaftes Problem wäre. Selbst SP-Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider verweist auf die Frage nach der Finanzierung der 13. AHV-Rente nur auf eine Erhöhung der Lohnabzüge oder der Mehrwertsteuer, nicht aber zum Beispiel auf die Möglichkeit der Erhöhung bzw. Einführung einer Erbschafts- oder Kapitalgewinnsteuer oder einer intensiveren Bekämpfung der Steuerhinterziehung, welche einen jährlichen Verlust an Steuereinnahmen von immerhin 14 bis 20 Milliarden Franken zur Folge hat, womit man sogar locker noch eine 14., 15. und 16. AHV-Rente bezahlen könnte. Bürgerliche Politiker rufen zudem bereits nach Sparmassnahmen der öffentlichen Hand, um die zusätzlichen Ausgaben für die AHV zu finanzieren. Die Gefahr ist gross, dass die heisse Kartoffel, bevor sie überhaupt gegessen wurde, erneut wieder an die noch Schwächeren und bereits genug Ausgepressten weitergereicht wird statt an jene, die in immer grösseren Geldmengen schwimmen, ohne hierfür auch nur die geringste Eigenleistung erbringen zu müssen.

Natürlich habe auch ich mich über das Abstimmungsergebnis des 3. März 2024 gefreut, aber das grosse Jubelfest scheint mir doch allzu früh angestimmt worden zu sein. Noch ist es ein weiter Weg bis zu einer tatsächlichen “Zeitenwende”. Wenn es tausend Schritte bis zur Verwirklichung tatsächlicher sozialer Gerechtigkeit braucht, dann war dies vielleicht der erste, dem aber die weiteren 999 erst noch folgen müssen. Sich gegenseitig zuzuprosten und sich dann behaglich zurückzulehnen, wäre wohl die falsche Schlussfolgerung. Der Kampf ist nicht zu Ende. Er hat gerade erst begonnen.