Der entscheidende Graben liegt nicht zwischen der Ukraine und Russland, nicht zwischen West und Ost. Der entscheidende Graben liegt zwischen denen, die Krieg wollen, und denen, die Frieden wollen.

 

Gemäss einer in der “Süddeutschen Zeitung” vom 30. August 2022 veröffentlichten Umfrage halten es 87 Prozent der Deutschen für richtig, dass westliche Regierungschefs weiterhin mit Putin sprechen. 77 Prozent sind der Meinung, dass der Westen Verhandlungen über eine Beendigung des Ukrainekriegs anstossen sollte. Und 62 Prozent finden es falsch, schwere Waffen an die Ukraine zu liefern. Ich bin mir fast ganz sicher, dass eine entsprechende Umfrage, würde man sie in anderen Ländern durchführen, ganz ähnliche Resultate erbringen würde. Doch eigentlich bräuchte es nicht einmal gross angelegte Umfragen: Schon der gesunde Menschenverstand würde genügen, um zu wissen, dass du Menschen an jedem beliebigen Ort in jedem beliebigen Land fragen kannst, mit aller grösster Gewissheit würde die überwiegende Mehrheit zur Antwort geben, dass sie lieber im Frieden als im Krieg leben würden. Doch dessen ungeachtet wüten derzeit weltweit über vierzig Kriege und einer davon droht sich im aller schlimmsten Fall zu einem dritten Weltkrieg auszuweiten. Wie ist das möglich, dass die Sehnsucht der überwiegenden Mehrheit aller Menschen und die Realität so weit auseinanderklaffen?

Wenn wir unser Augenmerk auf den Ukrainekrieg richten, dann könnten wir obige Frage vielleicht damit beantworten, dass in einem so autokratisch regierten Land wie Russland die Meinung der Bevölkerung sowieso keine Rolle spiele und eine kleine Machtelite über die Köpfe der Menschen hinweg eigenmächtig und skrupellos Macht- und Kriegspolitik betreibe. Doch damit würden wir es uns wohl zu einfach machen. Denn auch westliche Länder, allen voran die USA, betreiben seit Jahrzehnten eigenmächtig und skrupellos Macht- und Kriegspolitik, vom Vietnamkrieg über den Irakkrieg bis zur Osterweiterung der NATO, welche massgeblich zum Ausbruch des Ukrainekriegs beigetragen hat. 

Nein, die Ursachen für das Auseinanderklaffen zwischen der Friedenssehnsucht der allermeisten Menschen und der Tatsache, dass es im Verlauf der neueren Geschichte der Menschheit wohl noch nie eine Zeit ohne Kriege gegeben hat, liegt tiefer. Ich vermute, es hat etwas zu tun mit den Mechanismen der Selektion, die darüber entscheidet, welche Menschen in einer Gesellschaft, auch in einer grundsätzlich demokratischen, in die höheren Positionen und damit an die Schalthebel von Wirtschaft und Politik gelangen. Es sind eben nicht die besonders sanftmütigen, sensiblen, feinfühligen, rücksichtsvollen, hilfsbereiten Menschen, die sich im Konkurrenzkampf um den sozialen Aufstieg erfolgreich behaupten, sondern die selbstbewussten, ehrgeizigen, vor allem auf den eigenen Erfolg und das eigene Vorwärtskommen bedachten. Damit soll nicht gesagt sein, dass sämtliche Politikerinnen und Politiker gefühllos, machtgierig und auf den eigenen Erfolg bedacht sind, aber der Anteil “machtgieriger” Menschen ist unter Politikern und Politikerinnen zweifellos weitaus grösser als in der Gesamtbevölkerung.

Wenn erst einmal die Machtgierigsten in die höchsten Positionen gelangen, dann wird es brandgefährlich. Denn von der Macht um jeden Preis bis zum Krieg um jeden Preis ist nur noch ein kleiner Schritt. Putin und alle seine Atombomben schwingenden Hintermänner, Selenski und sein mehrheitlich nationalistisches und russenfeindliches Parlament, Biden mit der US-Rüstungsindustrie und massiven wirtschaftlichen Grossmachtinteressen im Hintergrund – man könnte schon sagen: Wehe, wenn sie losgelassen. Dass am Ende in der Hand einer kleinen Minderheit Wildgewordener das Schicksal der gesamten Menschheit liegt, welche sich nichts sehnlicher wünscht als ein gutes Leben in Frieden für alle, ist eine grenzenlose, unsägliche Verachtung all dessen, was Humanität bedeuten könnte und müsste.

Der entscheidende Graben liegt nicht zwischen der Ukraine und Russland, nicht zwischen West und Ost. Der entscheidende Graben liegt zwischen denen, die Krieg wollen, und denen, die Frieden wollen. Die Kriegsführer hüben und drüben sind sich viel ähnlicher, als ihnen lieb sein mag. Gegenseitige Drohgebärden, Aufrüstung, Mobilisierung, Eskalation, Vergeltung, Rache, Abschreckung durch den möglichen Einsatz von Atomwaffen – beide Seiten bedienen sich des exakt gleichen Vokabulars, der exakt gleichen Logik, hantieren mit dem gleichen Arsenal, als wären sie gegenseitige Spiegelbilder. Da kommt man unwillkürlich auf den Gedanken, ob man nicht am besten Putin, Selenski, Biden und alle anderen Kriegstreiber und Scharfmacher in einen Boxring schicken sollte, wo sie dann ihren finalen Kampf austragen könnten – und der Rest der Menschheit endlich in Frieden weiterleben könnte.

Wenn es tatsächlich so wäre, dass durch eine “falsche” Selektion die “falschen” Leute an die Schalthebel der Macht gelangen bis hin zur Schaltzentrale über Krieg und Frieden bis hin zur Schaltzentrale über die Vernichtung oder das Weiterleben der Menschheit, dann gäbe es darauf eigentlich nur eine einzige Antwort: Es braucht einen Aufstand der Sanftmütigen, der Sensiblen, der Hilfsbereiten, der Feinfühligen, der Fürsorglichen. “Jene, die den Frieden wollen”, sagte der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, “müssen sich ebenso wirkungsvoll organisieren wie jene, die den Krieg wollen.” Und auch der amerikanische Schriftsteller William Faulkner appellierte an die Friedfertigen und Sanftmütigen: “Scheut auch nicht, eure Stimme für Ehrlichkeit und Wahrheit und Mitgefühl gegen Ungerechtigkeit und Lüge und Gier zu erheben. Wenn die Menschen auf der ganzen Welt dies täten, würde das die Erde tiefgreifend verändern.” Eine tiefgreifende Veränderung, die nicht nur dem Krieg ein Ende bereiten würde, sondern auch der Anfang wäre eines neuen Zeitalters sozialer Gerechtigkeit, respektvollen Umgangs mit der Natur und eines guten Lebens für alle…