Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der sexuellen Orientierung oder der Hautfarbe – aber von der Diskriminierung der Werktätigen spricht niemand…

 

90 Organisationen und Vereine beteiligten sich am 18. Juni 2022 an der Zurich Pride, rund 40’000 Menschen waren gekommen um mitzumachen und weit über Zürich hinaus ein Zeichen zu setzen. Ein Zeichen, das dieses Jahr den Fokus auf die rechtliche Situation und die Herausforderungen von Trans-Menschen legte. Es sei an der Zeit, so die Organisatorinnen und Organisatoren, dass lesbische, schwule, bisexuelle und intergeschlechtliche Menschen auch Trans-Menschen unterstützten, denn gerade sie erlebten häufig dann, wenn sie ihre Identität offenbarten, Ablehnung aus der Familie, dem Arbeitsumfeld und der Gesellschaft.

LGTBQ-Aktivistinnen und -Aktivisten kämpfen für die gesellschaftliche Gleichstellung unterschiedlicher Geschlechtsidentitäten. Frauen setzen sich für Lohngleichheit und gegen Benachteiligungen bei der Altersvorsorge ein. Menschenrechtsorganisationen engagieren sich für die Rechte von Migrantinnen, Migranten und Flüchtlingen. Andere prangern die Ungleichbehandlung von Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihres Alters oder ihres Gesundheitszustandes an. Sie alle kämpfen gegen Diskriminierungen aller Art, für Gleichberechtigung und Selbstbestimmung. Und das weltweit, denken wir nur an die Black-Lives-Matter-Bewegung in den USA oder, ganz aktuell, an die Protestbewegung iranischer Mädchen und Frauen gegen jegliche Bevormundung und Unterdrückung durch das Mullah-Regime. Eigentlich müssten alle diese Kämpfe längst überflüssig sein, denn schon 1948 wurde in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgehalten: “Alle Menschen haben die gleichen Rechte ohne Unterschied, unabhängig von der ethischen Zugehörigkeit, der Hautfarbe, des Geschlechts, der sexuellen Orientierung, der Religion, des Alters und des Gesundheitszustands.” Fast 75 Jahre also haben nicht genügt, um dieses so selbstverständliche Ziel zu verwirklichen – umso dringender nötig alle heutigen Bestrebungen, um diesem grundlegenden Recht aller Menschen auf Gleichberechtigung ohne jegliche Diskriminierung doch noch zum Durchbruch zu verhelfen.

Und doch wären wir auch dann noch immer nicht ganz am Ziel. Denn interessanterweise wird neben der Diskriminierung der Frauen, der Menschen anderer Hautfarbe, anderer Herkunft oder anderer sexueller Orientierung eine mindestens so weit verbreitete Form von Diskriminierung ganz besonderer Art kaum je thematisiert. Ich meine die Diskriminierung der Werktätigen. Offensichtlich haben wir uns an diese Form der Diskriminierung so sehr gewöhnt, dass sie uns gar nicht mehr besonders stört. Gewiss, es gibt die Gewerkschaften, die sich für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen stark machen. Aber die sprechen kaum je von Diskriminierung, so wie man etwa im Zusammenhang mit Frauen von Diskriminierung spricht.

Und doch ist es Diskriminierung. Und was für eine. Wenn Menschen, die bei Wind und Wetter schwerste körperliche Arbeit verrichten, nur einen Bruchteil jenes Lohnes bekommen, dessen sich andere erfreuen, die behaglich in einem gut geheizten oder klimatisierten Büro sitzen, und wenn im gleichen Land, so wie das beispielsweise in der Schweiz der Fall ist, die höchsten Einkommen 300 Mal höher sind als die niedrigsten, dann soll das nicht Diskriminierung sein? Was denn sonst? Dass in diesem Zusammenhang kaum je von Diskriminierung gesprochen wird, hat mit mindestens drei Glaubenssätzen zu tun, die sich tief in unser Denken und die öffentliche Wahrnehmung eingefressen haben. Der erste Glaubenssatz lautet: Lohnunterschiede, auch wenn sie noch so hoch sind, lassen sich stets logisch erklären und rechtfertigen. Dieser Glaubenssatz lässt sich durch nahezu jedes Lohnbeispiel auf einen Schlag widerlegen, sind es doch gerade die am schwersten Arbeitenden, die sich mit den niedrigsten Löhnen zufrieden geben müssen. Der zweite Glaubenssatz lautet, dass die schulische Selektion, welche dazu führt, dass das eine Kind später einmal als Bauarbeiter tätig sein wird, das zweite als Floristin und das dritte als Bankdirektor, etwas “Gerechtes” sei, weil ja bloss die Kinder aufgrund ihrer Begabungen, Stärken und Fähigkeiten ihren zukünftigen Berufswegen zugeteilt würden. Tatsache ist, dass gewisse Begabungen wie Rechnen, Lesen und Schreiben die Türen für eine goldene Zukunft weit öffnen, während diese Türen für jene Kinder, die beispielsweise über viel Phantasie, viel Mitgefühl für Mitmenschen oder überdurchschnittlich grosse Kraft verfügen, auf Nimmerwiedersehen zugeschlagen werden. Ist das nicht eine der schlimmsten Formen von Diskriminierung? Dass angeborene Fähigkeiten und Begabungen dafür missbraucht werden, den zukünftigen Platz auf der Gesellschaftspyramide zu begründen? Der dritte Glaubenssatz lautet: Wer sich genug anstrenge, werde auch Erfolg haben, wer daher keinen Erfolg habe, hätte sich halt zu wenig anstrengt. Tatsache ist, dass das schulische Selektionssystem so angelegt ist, dass stets nur ein Teil der Kinder auf die “obersten” Plätze gelangen können, ganz unabhängig davon, wie sehr sich die Kinder anstrengen. Eine besonders schlimme Form von Diskriminierung, drückt sie dem Kind, das schon mit dem schulischen Misserfolg fertig werden muss, zusätzlich noch den Stempel auf, es sei selber daran Schuld.

Eine gravierende Form von Diskriminierung erleben auch all jene Menschen, die als “Ausländerinnen” und “Ausländer” in unser Land kommen und infolge mangelnder Sprachkenntnisse und beruflicher Qualifikationen mit Jobs auf den untersten Rängen der Arbeitswelt Vorlieb nehmen müssen. Die Diskriminierung liegt nicht nur darin, dass ihnen Jobs auf den höheren Rängen der Gesellschaftspyramide verwehrt sind, sondern darin, dass sie weit geringer entlohnt sind und weit weniger gesellschaftliche Wertschätzung erfahren als andere, obwohl sie eine so wichtige Arbeitsleistung erbringen, dass ohne sie die gesamte Wirtschafts- und Arbeitswelt nicht einen Tag lang funktionieren würde.

Höchste Zeit, eine Brücke zu schlagen von der bisherigen Diskriminierungsdiskussion hin zur Diskussion über alle jene gravierenden Ungleichheiten und Ausbeutungsmechanismen der kapitalistischen Arbeitswelt, die weit von jeglichen Menschenrechten und von jeglicher Gleichberechtigung entfernt ist, die uns in Zusammenhang mit Frauenrechten, Rechten von Menschen unterschiedlicher Sexualidentitäten oder anderer Hautfarbe als selbstverständlich erscheinen. Anders gesagt: Erst eine Auflösung der kapitalistischen Klassengesellschaft auf allen Ebenen und damit ein Ende des Kapitalismus vermag der Diskriminierung auf sämtlichen Ebenen der Gesellschaft und der Arbeitswelt ein Ende bereiten.