20 Mal mehr Stimmen für die Weiterführung als für die Schliessung eines Asylzentrums: Das schweizerische Steckborn schreibt Geschichte…

Für gewöhnlich höre ich in letzter Zeit, wenn ich am Morgen das Radio einschalte, keine guten Nachrichten. Und nicht selten kommen mir die Tränen, wenn ich an das unbeschreibliche Elend denke, von dem nicht nur gerade im Gazastreifen, sondern auch weltweit so viele Menschen betroffen sind, vor allem auch Kinder, diese wunderbaren kleinen Geschöpfe, die doch alle eine so unendliche Sehnsucht nach einer Welt voller Liebe und Frieden in sich tragen. Auch heute kamen mir, als ich am Morgen das Radio einschaltete, Tränen in die Augen. Doch heute, für einmal, waren es nicht Tränen der Trauer, sondern Tränen der Freude…

Steckborn, eine Gemeinde mit rund 4000 Einwohnerinnen und Einwohnern im schweizerischen Kanton Thurgau, 15. Februar 2024: Eine einzig zu diesem Zweck einberufene Gemeindeversammlung soll darüber entscheiden, ob das örtliche Asylzentrum, wo vor allem jugendliche Flüchtlinge aus Afghanistan und der Türkei untergebracht sind, geschlossen werden soll oder nicht. Ausgelöst worden war die Diskussion durch den Vorstoss eines von 131 Bewohnerinnen und Bewohnern unterzeichneten Begehrens, welches die Schliessung des Zentrums fordert, weil es in letzter Zeit immer wieder zu unliebsamen Vorfällen wie Ruhestörungen und Einschleichdiebstählen rund um das Zentrum gekommen sei. Der Aufmarsch zur Gemeindeversammlung ist überwältigend, 692 Menschen sind gekommen, nicht alle haben im Saal Platz gefunden, für die anderen wird das Geschehen auf Bildschirme im Aussenbereich übermittelt. Noch nie haben auch nur annähernd so viele Bürgerinnen und Bürger Steckborns an einer Gemeindeversammlung teilgenommen. Ist das nun der grosse “Volksaufstand”, die aufgewachte “schweigende Mehrheit”, all jene Unzufriedenen, die schon lange einmal so richtig auf den “Putz” hauen wollten und es kaum erwarten konnten, nun endlich hierfür Gelegenheit zu haben? Doch, oh Wunder, genau das Gegenteil tritt ein: Nach zweistündiger Debatte wird abgestimmt. Wellen von Händen gehen in die Höhe auf die Frage, wer sich für die Weiterführung des Zentrums aussprechen möchte. Nur gerade mal drei Dutzend Personen befürworten die Schliessung des Zentrums. Das Ergebnis ist so überwältigend eindeutig, dass auf eine Auszählung der Stimmen verzichtet wird.

Es gibt sie also doch noch, die guten Nachrichten. Vielleicht sind es sogar mehr, als wir denken. Gut möglich, denn die Medien zeigen doch viel öfters und viel lieber die schlechten als die guten Nachrichten, weil sich damit offensichtlich schneller und mehr Geld verdienen lässt. Wenn über Menschen berichtet wird, welche “Geschichte schreiben”, dann sind es meistens nur Tennisspielerinnen oder Skifahrer, die mehr Pokale gewonnen haben als alle anderen je zuvor, oder Popsängerinnen mit mehr verkauften Alben als je zuvor oder Spielfilme mit mehr Zuschauerinnen und Zuschauern als bei allen anderen Spielfilmen je zuvor. Doch eigentlich schreiben Menschen wie die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger von Steckborn an diesem 15. Februar 2024 doch viel wichtigere Geschichten, Geschichten, die weitaus bedeutendere Auswirkungen haben könnten und vielleicht tatsächlich das Potenzial haben, dass man sich auch noch nach zwanzig oder dreissig Jahren an sie erinnern wird. Eigentlich müsste diese Meldung auf sämtlichen Frontseiten der Weltpresse und in sämtlichen TV-Nachrichtensendungen weltweit an vorderster Stelle erscheinen. Und eigentlich müssten auch an internationalen Konferenzen, bei denen es um wichtige Zukunftsfragen geht, immer wieder Leute aus Steckborn auftreten und von diesem denkwürdigen 15. Februar 2024 berichten. Damit sich nicht nur die schlechten, erschlagenden und ohnmächtig machenden Nachrichten wie ein Lauffeuer von Land zu Land verbreiten, sondern auch die guten, hoffnungsvollen und Mut machenden. Damit nicht nur der Hass eine Chance bekommt, sondern auch die Liebe.

Und als ich diesen Traum am heutigen Morgen ein wenig weiterzuspinnen beginne, erinnere ich mich auf einmal an ein Erlebnis, das ich bis heute nicht vergessen habe. Ich war etwa zehn Jahre alt, ein schüchterner Bub, der Schlechteste im Turnunterricht, oft von anderen ausgelacht, mit sehr wenig Selbstwertgefühl. Als ich mit meinen Eltern eines Tages zu Besuch bei einer Tante war, die ich sehr mochte, sagte sie beim Abschied zu mir: “Etwas muss ich dir noch sagen, bleib so, wie du bist!” Mein Gefühl in diesem Moment war unbeschreiblich, zum ersten Mal empfand ich so etwas wie ein starkes Selbstwertgefühl, das Gefühl, ein “wichtiger” und “wertvoller” Mensch zu sein: Ich würde mich nicht mehr endlos verbiegen müssen, ich durfte so sein und so bleiben, wie ich war, und das würde schon genügen, um gut zu sein…

14 Jahre später begann ich mit der Arbeit als Oberstufenlehrer, voller Idealismus und mit dem Ziel, möglichst jedem und jeder der mir anvertrauten Jugendlichen möglichst gerecht zu werden. Doch das war nicht so einfach, war ich doch gezwungen, meine Schülerinnen und Schüler bei ihren Lernfortschritten stets miteinander zu vergleichen, zu benoten und Zeugnisse zu schreiben. Es schmerzte mich zutiefst, wenn ich erleben musste, wie die “schwächeren” Schülerinnen und Schüler unter den schlechten Noten und Zeugnissen litten, umso mehr, als sie sich oft noch viel mehr angestrengt hatten als jene mit den guten Noten und Zeugnissen. Und mir wurde immer mehr bewusst, wie ungerecht das war und wie viele wunderbare Fähigkeiten und Begabungen alle diese “schlechteren” und “erfolgloseren” Schülerinnen und Schüler hatten, die niemals in einem Prüfungsresultat oder in einem Zeugnis zum Ausdruck kamen. Und so begann ich, möglichst viele Beobachtungen über Stärken und Begabungen der Jugendlichen im Verlaufe des Schuljahrs festzuhalten und aus diesen Notizen dann am Ende des Schuljahrs einen Brief zu schreiben, den ich dem Zeugnis beilegte. Es waren, da ich mich ausschliesslich auf die Stärken beschränkte, so etwas wie “Liebesbriefe” und alle endeten mit dem Satz, den mir meine Tante 14 Jahre zuvor gesagt hatte: Bleib so, wie du bist. Und wieder geschah das Gleiche: Junge Menschen, die im Verlaufe eines ganzen Schuljahrs kaum je ein wirkliches Erfolgserlebnis gehabt hatten, fühlten sich nun auf einmal ganz gross, ganz wichtig und ganz wertvoll. So sehr, dass viele von ihnen – und das ist nun schon einige Zeit her – diese Briefe bis heute aufbewahrt haben und sie oft wieder lesen, während das Zeugnis mit all den nichtssagenden Zahlen schon längst in Vergessenheit geraten ist. Da ich im Verlaufe meiner 38jährigen Zeit als Lehrer schätzungsweise rund tausend Jugendliche unterrichtete, hat sich also die Liebe, die mir meine Tante damals geschenkt hatte, im Verlaufe vieler späterer Jahre buchstäblich vertausendfacht. So einfach ist das. So einfach kann sich Liebe weiterpflanzen, wie sich auch, leider, Hass und Gleichgültigkeit weiterpflanzen können.

Wie die Welt in zehn oder zwanzig Jahren aussehen wird, ist nicht eine Frage irgendeiner “höheren” Macht, irgendeines Schicksals oder Naturereignisses, dem wir hilflos ausgeliefert wären. Es ist einzig und allein die Frage, in welcher Weise jeder und jede Einzelne von uns darauf Einfluss nimmt. Ob wir an den Krieg glauben oder an den Frieden. Ob wir dem Hass Raum gewähren oder der Liebe. Das Gute daran ist: Die Liebe und den Frieden müssen wir nicht erfinden, denn sie stecken schon als innerste Sehnsucht im tiefsten Inneren von uns allen, seit dem Augenblick, da wir diese Erde betreten haben. “Der Mensch ist gut und will das Gute”, sagte der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi vor über 250 Jahren, “und wenn er böse ist, so hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.” Es geht nicht darum, künstlich etwas aufzubauen, sondern nur darum, das, was sowieso schon da ist, wieder zu befreien und blosszulegen, indem wir all das, womit es im Laufe der Zeit verschüttet und verbaut wurde, geduldig und beharrlich Tag für Tag ein wenig beiseite räumen, bis es wieder in voller Schönheit ans Tageslicht treten kann.

So wie an diesem 15. Februar 2024 in einer kleinen, ganz gewöhnlichen und ganz durchschnittlichen Schweizer Gemeinde. Auf dass sich Steckborn, genau so wie die “Liebesbriefe” an meine Schülerinnen und Schüler, tausendfach fortpflanzen möge bis an die äussersten Enden der Welt….