Zu viele Felsen auf deinem Weg? Dann mach es wie der kleine, muntere Bergbach…

Kennst du diese Ohnmacht auch? Irgendein Unrecht hat dich gequält, du konntest nicht mehr schlafen, hast einen zweiseitigen Brief geschrieben mit Dutzenden akribisch zusammengetragenen Argumenten, alles hieb- und stichfest begründet. Dann hast du den Brief abgeschickt, an diesen Politiker, der diese unsägliche Aussage gemacht hat, an den Chefredaktor der Zeitung, wo das abgedruckt war, an die zuständige Stelle für jene TV-Sendung, die dich wegen ihrer so einseitigen Zusammensetzung so genervt hat. Und dann hast du einfach keine Antwort bekommen, tagelang, wochenlang, bis heute, einfach keine Antwort. Oder du hast einen Leserbrief abgeschickt, nicht nur einen, sondern viele mehr, für Frieden und gegen Krieg, für Liebe und gegen Hass, es war dir so unendlich wichtig, aber dann hast du in der Zeitung, an welche du deinen Leserbrief schicktest, tagelang nur Leserbriefe über Hundefutter, Billigferien oder Zugverspätungen angetroffen, doch dein Leserbrief ist nicht erschienen, tagelang nicht, wochenlang nicht, bis heute nicht.

So ist es mir im vergangenen halben Jahr in dieser so verrückten Zeit voller zugespitzter, hassfördernder Feindbilder und voller Kriegsrhetorik immer und immer wieder ergangen. Der Stapel unbeantworteter Briefe ist immer höher geworden, ein Gefühl von Resignation und Ohnmacht hat immer stärker von mir Besitz zu ergreifen versucht. Und nicht selten dachte ich: Soll ich jetzt tatsächlich noch einmal zur Feder greifen, mir die Mühe nehmen, obwohl ich doch weiss, dass es höchstwahrscheinlich wieder genau gleich herauskommen wird: tagelang keine Antwort, wochenlang, und wenn, dann nur irgendwelche fadenscheinige Ausreden, Worthülsen, im allerbesten Falle der Versuch einer hilflos formulierten Rechtfertigung.

Aber vielleicht wollen sie ja gerade das: Dass man irgendwann die Kraft verliert, irgendwann aufgibt, sich irgendwann, wie das immer mehr Menschen tun, in seine eigenen vier Wände zurückzieht und einfach noch das geniesst, was es zu geniessen gibt. Doch genau diesen Gefallen dürfen wir ihnen nicht tun. Auch und gerade wenn sie am längeren Hebelarm sitzen und diese Macht der Stärkeren oft so schamlos ausnützen. Wenn Schweigen zur Gewohnheit wird, müssen wir umso mehr reden. Wenn sich Hass breit macht, müssen wir ihm umso mehr Liebe entgegenhalten. Wenn himmelschreiende soziale Ungleichheit immer mehr zum “Normalfall” wird, müssen wir umso mehr Fakten sammeln, um die dahinterliegenden Mechanismen des herrschenden Gesellschaftssystems aufzudecken. Wenn immer mehr Menschen vom Krieg reden, dann müssen wir umso mehr vom Frieden reden. Ja, eine neue Zeit kommt, aber sie kommt nicht von selber.

Ich glaube auch nicht, dass die, welche aufgeben und sich aus allem, was mit Politik zu tun hat, zurückziehen, deswegen dann glücklicher sind. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass man wirklich glücklich sein kann, wenn man sich nach einem ausgiebigen Essen und ein paar Gläsern Wein in sein kuscheliges Bett verkriecht, wenn man doch weiss, dass gleichzeitig jeden Tag weltweit 10’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben, und wenn man doch weiss, dass zur gleichen Zeit, während man in seinem warmen Bett liegt, Tausende Kinder im Gazastreifen ohne ihre Eltern, ohne Essen, ohne Wasser, mit Körpern voller Wunden und Schmerzen und ohne genügend warme Kleider zwischen den Trümmern ihrer zugrunde bombardierten Wohnhäuser um ihr nacktes Leben rennen, ohne zu wissen wohin. Meine vor fünfeinhalb Jahren infolge einer Krebserkrankung verstorbene Frau hatte immer gesagt: Gell, wir dürfen nie aufgeben. Seither ist dies erst recht zum wichtigsten Motto meines Lebens geworden.

Nein, wir dürfen nicht aufgeben. Und doch dürfen wir uns deswegen auch nicht kaputt machen lassen. Eine Zeitlang können wir zwar versuchen, verschlossene Türen zu öffnen. Dann aber muss es unbedingt auch wieder Zeiten geben, in denen wir offenere Türen suchen oder solche, die sich leichter öffnen lassen. Als ich wieder einmal auf einen meiner Briefe tage- und wochenlang keine Antwort bekommen hatte, sah ich auf einmal dieses Bild vor mir: Ein kleiner, munterer Bergbach. Wenn er auf Widerstand stösst, weicht er aus. Er sucht sich nicht die harten, sondern die weichen Stellen. Und wenn er dann eines Tages am Meer angelangt ist und das grosse Fest beginnt, stehen die harten, grimmigen Felsen, die ihm das Leben so schwer zu machen versuchten und denen er deshalb ausgewichen ist, immer noch unverbesserlich wie vor tausend Jahren tief und verloren in der Vergangenheit.