Hätte man die Anliegen und Visionen der Klimabewegung früher ernstgenommen, dann müssten sie sich heute nicht auf die Autobahnen setzen und an Brückengeländern festkleben…

 

14. Oktober 2022. Eine Frau sitzt auf der Strasse. Vor ihr baut sich ein Lastwagen auf. Es ist keine junge Klimaaktivistin, sondern die 48jährige Mutter und Universitätsprofessorin Julia Steinberger, die da den Verkehr blockiert. Es ist die sechste Aktion der Kampagne Renovate Switzerland innert zehn Tagen in der Schweiz. Die Sympathisantinnen und Sympathisanten agieren stets nach dem gleichen Muster. Sie tragen orange Signalwesten, setzen sich hin, halten Plakate noch, verursachen einen Stau. Sie warten, bis Polizisten sie von der Strasse tragen und verhaften…

“Blockaden”, sagt der Freiburger Strafrechtsprofessor Marcel Niggli in der “NZZ am Sonntag” vom 16. Oktober 2022, “stellen Nötigungen und Störungen des öffentlichen Verkehrs dar. Wenn man deliktisches Handeln als Aktivismus oder zivilen Ungehorsam bezeichnet, verlässt man die Ebene des Rechts und begibt sich auf diejenige der Politik.” Und die ETH empfiehlt ihren Angestellten, “mit aufmerksamkeitswirksamen Aktionen zurückhaltend zu sein, denn eine klare politische Positionierung kann Ihrer Glaubwürdigkeit als unabhängige Forscher beeinträchtigen.”

Als begänne Politik erst in dem Augenblick, wo sich jemand in einer orangen Weste auf die Strasse setzt und den Verkehr behindert. Tatsache ist doch, dass alles Politik ist. Nicht nur die Sympathisantinnen und Sympathisanten von Renovated Switzerland und ähnlichen Gruppierungen sind Aktivistinnen und Aktivisten, wir alle sind Aktivistinnen und Aktivisten, ob wir wollen oder nicht, die Frage ist nur, auf welcher Seite wir stehen – auf der Seite des herrschenden Wirtschaftssystems, das immer noch am Dogma eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums festhält und auf dem besten Wege ist, unseren Planeten an die Wand zu fahren, oder auf der Seite jener, die immer verzweifelter dagegen ankämpfen und immer häufiger zu Methoden greifen, die an die Grenze der “Legalität” gehen, nicht weil ihnen das so viel Spass macht, sondern weil alles, was sie vorher versucht haben, bis jetzt nichts genützt hat. Und auch all jene, die sich angesichts dieser Polarisierung in vornehmes Schweigen und Passivität hüllen, auch sie sind Aktivisten und Aktivistinnen, ob sie wollen oder nicht. Denn auch Schweigen ist ein politisches Statement, ein Plädoyer für die Beibehaltung des bestehenden Macht- und Denksystems und dass sich daran nur ja nichts grundlegend ändern soll. Denn, wie die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot sagt: “Wer schweigt, stimmt zu.” Und auch der deutsche Schriftsteller Erich Kästner kam zum gleichen Schluss: “An allem Unfug, der geschieht, sind nicht nur jene Schuld, die ihn begehen, sondern auch diejenigen, die ihn nicht verhindern.”

Das führt uns zur Frage, was denn “legal” und was “illegal” sei. Ist es “legal”, so viele Rohstoffe zu verschleudern und so viel CO2 in die Luft zu blasen, dass schon in wenigen Jahrzehnten halbe Erdteile unbewohnbar sein werden? Ist es “illegal”, sich in einer orangen Weste auf eine Strasse zu setzen und friedlich gegen die unaufhörlich wachsenden Verkehrslawinen zu protestieren? Oder ist es möglicherweise genau umgekehrt? “Falsch”, sagte Leo Tolstoi, “hört nicht auf, falsch zu sein, weil die Mehrheit daran beteiligt ist.” “Normales” – im Sinne dessen, was die überwiegende Mehrheit der Menschen tun und denken – und “Legales” – im Sinne übergeordneter Menschenrechte – brauchen ganz und gar nicht identisch zu sein. So heisst es zum Beispiel im Artikel 2 der schweizerischen Bundesverfassung: “Die schweizerische Eidgenossenschaft setzt sich ein für die dauerhafte Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen.” Und im Artikel 20 des deutschen Grundgesetzes steht sogar: “Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen.” Versagt der Staat in dieser existenziellen Verpflichtung, dann müsste man doch wenigstens sämtlichen Aktivistinnen und Aktivisten der Klima- und Umweltbewegungen das Recht zugestehen, genau das zu praktizieren, was in der Verfassung des Staates steht, aber von eben diesem Staat missachtet und versäumt wird.

“Wo Unrecht zu Recht wird”, sagte der deutsche Schriftsteller Bertolt Brecht, “wird Widerstand zur Pflicht.” Es ist schon interessant. Täglich verfolgen wir gegenwärtig die Geschehnisse im Iran, wo Mädchen und Frauen unter Lebensgefahr auf die Strassen gehen und gegen das frauenfeindliche Regime der Mullahs protestieren. Und unsere Sympathien sind ungeteilt auf der Seite dieser mutigen und so starken Bewegung. Auch all jene russischen Männer, die sich der von Putin angeordneten Mobilmachung verweigern, geniessen unsere Sympathie. Wenn aber junge Frauen und Männer hierzulande auf die Strasse gehen, um gegen die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen anzukämpfen, begegnen wir ihnen mit Ablehnung und mit der moralischen Belehrung, sie hätten sich gefälligst an unsere demokratischen Spielregeln zu halten. Fällt es uns so viel schwerer, Demokratie im eigenen Land zu praktizieren, als demokratischen Bewegungen in anderen Ländern zuzujubeln?

Unkonventionelles, Störendes, “Illegales”, Widerspenstiges sollte doch nicht in allererster Linie dazu da sein, im Namen falsch verstandener “Legalität” bekämpft und an den Pranger gestellt zu werden, sondern müsste im Gegenteil dazu dienen, die Gesellschaft permanent von innen her zu erneuern. So viele Eltern berichten davon, wie viel sie von ihren Kindern gelernt hätten, durch ihre offenen, kritischen, unbequemen und ehrlichen Fragen, ihrem Widerstand, dem Durchbrechen von Normen. Genau das wäre doch die Aufgabe einer Gesellschaft als Ganzes, denn nicht der blinde Gehorsam bringt die Menschen voran, sondern der Ungehorsam, der alles immer wieder von Neuem in Frage stellt. Hätte man den Aktivistinnen und Aktivisten der Klimabewegung schon vor drei oder vier Jahren aufmerksamer zugehört, hätte man sie ernstgenommen, wäre man auf ihre wunderbaren Visionen einer friedlichen und lebenswerten Zukunft eingegangen, dann müssten sie sich heute nicht auf die Strassen setzen und an Brückengeländern festkleben und warten, bis sie von der Polizei weggetragen werden und alle mit den Fingern auf sie zeigen…