Ein umgebauter Container, der die Bevölkerung “wachrütteln” soll: Wir sollten uns nicht auf den Krieg vorbereiten, sondern auf den Frieden

Ob wir – so berichtet das Schweizer “Tagblatt” am 12. Februar 2024 – bereit seien, fragt die junge schwedische Soldatin Tilde, schliesst die Tür und legt den Schalter um. Plötzlich flackert das Deckenlicht, Helikopterdonnern ist zu hören, dann Salven aus einem Maschinengewehr. Der Luftalarm dröhnt ohrenbetäubend. Dazwischen Schreie, Explosionen lassen den Boden erzittern. Der Geruch von Verbranntem füllt den Raum – Schweden wird attackiert. Dies alles findet in Lund, einer Universitätsstadt ganz im Südwesten Schwedens, statt, in einem umgebauten Container, der die Bevölkerung “wachrütteln” soll, wie Tilde sagt. “Wir wollen”, so Tilde, ein Bewusstsein dafür schaffen, dass es auch in Schweden Krieg geben kann.” Um die Situation möglichst glaubhaft zu machen, hat die Armee den Container wie ein typisches Studentenzimmer eingerichtet und anschliessend mit einer echten Granate in die Luft gejagt. Das Ergebnis: Von der zerfetzten Matratze sind nur noch die Metallfedern und ein Stück Schaumstoff übrig. Zerfledderte Bücher liegen unter dem Bett, angekohlte Seiten überall im Raum verteilt. Die Wände sind schwarz, der Teppichboden verbrannt. Mit dem schauderhaften Anblick sollen nun die friedliebenden Menschen “wachgerüttelt” werden. Und ja, es funktioniert: “Es war beängstigend”, sagt eine 72Jährige, “ich mache mir Sorgen um die Zukunft. Wir müssen für alles bereit sein.”

Am gleichen 12. Februar sagt Roderich Kiesewetter, Obmann der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Auswärtigen Amt der deutschen Regierung: “Der Krieg muss nach Russland getragen werden. Russische Militäreinrichtungen und Hauptquartiere müssen zerstört werden. Wir müssen alles tun, dass die Ukraine in die Lage versetzt wird, in Russland nicht nur Ölraffinerien zu zerstören, sondern auch Ministerien, Kommandoposten und Gefechtsstände. Es wird an der Zeit, dass die russische Bevölkerung begreift, dass sie einen Diktator hat, der die Zukunft Russlands opfert, der die Zukunft der russischen Jugend opfert, und dass dies ein Land ist, das im Grunde genommen den Krieg in die Welt trägt, statt eine Friedensmacht zu werden.” Dies, nachdem der deutsche Verteidigungsminister Pistorius bereits am 22. Januar gesagt hatte, eine kriegerische Auseinandersetzung Russlands mit der NATO sei “nicht mehr auszuschliessen”. Europa hätte es wieder mit einer militärischen Bedrohungslage zu tun, wie sie es seit 30 Jahren nicht mehr gegeben hätte. Eine akute Kriegsgefahr herrsche im Moment zwar nicht, Szenarien für einen Kriegsfall müssten aber trotzdem “durchgespielt” werden.

Szenarien für einen Kriegsfall, wie sie mit dem soeben begonnenen NATO-Manöver “Steadfast Defender” begonnen haben, mit dem, so NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, die “Kampfstärke” des westlichen Militärbündnisses bewiesen werden soll. 90’000 Soldatinnen und Soldaten nehmen daran teil, die grösste Machtdemonstration seit Jahrzehnten. Auch längerfristig sollen zusätzliche Kampfgruppen in Osteuropa stationiert werden. Viele NATO-Staaten, unter ihnen nun auch die soeben dem Bündnis beigetreten skandinavischen Länder Schweden und Finnland, haben ihre Militärbudgets bereits drastisch erhöht oder planen, dies noch zu tun.

Auch der soeben neu zum finnischen Regierungspräsidenten gewählte Alexander Stubb bestätigte in seiner Antrittsrede die uneingeschränkte Weiterführung des kompromisslosen Kurses seines Amtsvorgängers gegenüber Russland, mit dem Finnland eine 1340 Kilometer lange Grenze teilt und auf der bereits sämtliche Grenzübergänge durch die finnische Regierung geschlossen wurden, womit das seit über 75 Jahren währende friedliche Nebeneinander der beiden Staaten ein jähes Ende gefunden hat.

Kein Land tanzt aus der Reihe. Auch Lettland ist drauf und dran, alle bisherigen Bindungen zu Russland abzubrechen. So hat die Regierung in Riga unter anderem beschlossen, mit einer Reihe von Massnahmen alles Russische im Lande zu tilgen. Lettisch gilt ab sofort als einzige offizielle Landessprache, obwohl die Muttersprache von 37 Prozent der Bevölkerung das Russische ist, in einzelnen Regionen sind es sogar 80 bis 100 Prozent. In den Schulen hat man mit der Umstellung bereits begonnen. Schülerinnen und Schüler der 1., 4. und 7. Klasse lernen seit dem 1. September 2023 in lettischer Sprache. Ab 2024 folgen die 2., 5. und 8. Klasse und 2025 schliesslich die 3., 6. und 9. Klasse. “Für die Kinder”, sagt Grundschullehrer Mackevics, “ist Lettisch eine Fremdsprache, und die Familien können ihren Kindern nicht helfen, weil sie selber kein Lettisch können.” Doch die lettische Regierung setzt den Hebel nicht nur in den Schulen an. Sie will auch Erwachsene dazu zwingen, Lettisch zu lernen. Sie sollen damit ihre Loyalität mit mit dem lettischen Staat unter Beweis stellen. 25’000 Russinnen und Russen haben dieses Jahr einen Brief vom Migrationsamt erhalten. Darin werden sie zum Sprachtest aufgeboten. Wer das Niveau A2 nicht erreicht, verliert die dauerhafte Aufenthaltserlaubnis. Diesen Personen droht die Ausschaffung nach Russland. Über 60 Prozent jener, die den Test gemacht haben, bestanden ihn im ersten Anlauf nicht. Tausende haben es gar nicht erst versucht. Bereits haben Tausende russische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger ihre Aufenthaltsbewilligung für Lettland verloren.

Selbst die Schweiz fügt sich mehr und mehr nahtlos in den Reigen jener ein, die keine Alternative sehen zu einem immer tiefer werdenden Zerwürfnis zwischen dem Westen und Russland und damit zu einer Rückkehr in die Zeit des Kalten Kriegs, die man vor nicht allzu langer Zeit noch für unmöglich gehalten hätte. “Wir müssen uns darauf vorbereiten, dass sich der Krieg in Europa ausweiten könnte”, sagt Armeechef Thomas Süssli. Und quer durch fast alle politischen Lager wird die traditionelle Schweizer Neutralität mehr und mehr als etwas belächelt, was endgültig “nicht mehr zeitgemäss” sei.

Als wären die westliche “Wertewelt” und ihr militärischer Arm in Gestalt der NATO geradezu besessen darauf, aus der Geschichte nichts, aber auch nicht das Geringste zu lernen. “Die Entscheidung, die NATO bis zu den Grenzen Russlands zu erweitern”, so der US-Historiker George F. Kennan im Jahre 1997, “ist der verhängnisvollste Fehler und wird die russische Aussenpolitik in eine Richtung zwingen, die uns entschieden missfallen wir.” – “Das Einzige, was Russland zu einer heftigen Reaktion provozieren kann”, so Joe Biden 1997, als er noch US-Senator war, “ist die Erweiterung der NATO auf die baltischen Staaten.” – “Wenn die Ukraine Teil der NATO wird”, so Angela Merkel 2008, “dann bedeutet dies aus der Perspektive Russlands eine Kriegserklärung.” Und sogar der höchst umstrittene frühere US-Aussenminister Henry Kissinger warnte: “Wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, darf sie nicht der Vorpfosten der einen Seite gegenüber der anderen sein, sondern eine Brücke zwischen beiden Seiten.”

Und nun also werden alle, alle diese roten Signale überfahren. Ausgerechnet das, was Russland zum Angriff auf die Ukraine provozierte – das kontinuierliche Vordringen der NATO bis an die Grenzen Russlands entgegen aller feierlichen Versprechen der westlichen Regierungen im Jahre 1991, die Umzingelung Russlands in Form von rund 2000 US-Militärbasen, die Erniedrigung und Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung der Ukraine und die über Jahrzehnte von rechtskonservativen US-Politikern erhobenen Forderungen nach einer Zerstörung und Zerstückelung zunächst der Sowjetunion, dann Russlands – genau all dies wird nun, systematischer und offensiver denn je zuvor, weiter vorangetrieben. Das soll Russland nicht provozieren? Das soll die Gefahr einer weiteren Eskalation bis hin zu einem möglichen dritten Weltkrieg nicht auf höchst gefährliche Weise begünstigen? Das soll auch nur im Entferntesten einen Beitrag leisten zu einer friedlichen Zukunft in gemeinsamer Koexistenz?

Es scheint fast, als gäbe es Menschen, die, aus was für unerfindlichen Gründen auch immer, den Krieg mehr lieben als den Frieden. Sonst hätte man wohl kaum ausgerechnet in diesen Tagen, in denen Wladimir Putin in seinem Interview mit Tucker Carlson so unmissverständlich erklärte, keinen NATO-Staat angreifen zu wollen, die westliche Kriegstrommel heftiger gerührt denn je, mit sämtlichen noch so absurden und von weit hergeholten Diffamierungen die Ausführungen Putins ins Lächerliche gezogen und die Menschen in den westlichen Ländern sogar ganz offen dazu aufgerufen, sich das Interview mit Putin nicht anzuhören. Sie hätten ja dann vielleicht dummerweise auf den Gedanken kommen können, dass ein Frieden möglicherweise doch noch etwas Erstrebenswerteres sein könnte als ein nicht endender Krieg mit immer grösseren und unabsehbaren Risiken. Und dass es sich höchstwahrscheinlich lohnen könnte, sich nicht auf einen zukünftigen Krieg vorzubereiten. Sondern auf einen zukünftigen Frieden.