Der Krieg in der Ukraine: Alle haben recht, aber leider besitzt jeder nur einen Teil der Wahrheit…

 

“Der kleine Ort Kupjansk südlich von Charkiw”, so lese ich im “Tagesanzeiger” vom 19. Oktober 2022, “war ein halbes Jahr von der russischen Armee besetzt, und wenn man der 63jährigen Natalja Alexejewa glauben will, war das keine schlechte Zeit, besser zumindest als heute, nach der Befreiung durch die ukrainische Armee.” Sie hätte immer alles gehabt, so die 63Jährige, Gas, Telefon, Fernsehen, und die russischen Soldaten hätten sich “vorbildlich benommen.” Die zuvor praktisch unbeschädigte Stadt hätte erst durch den Einmarsch der Ukrainer gelitten: Der Markt läge jetzt in Trümmern und sei geplündert worden, die Strassen aufgerissen und viele Häuser beschädigt.

Meldungen solcher Art kommen in den westlichen Mainstreammedien, wo die Russen stets als die “Bösen” und die Ukrainer als die “Guten” dargestellt werden, nur selten vor. Doch dieses einseitige Bild von den “Bösen” und den “Guten” bekommt schnell einmal Risse, wenn man sich die Mühe nimmt, hinter die Fassade der vermeintlichen “Wahrheit” zu schauen und das gängige Feindbild kritisch zu hinterfragen.

Ein zentraler Punkt ist die Frage nach der Kriegsschuld. Die offizielle, durch die westlichen Mainstreammedien verbreitete Sicht lautet, dass dieser Krieg am 24. Februar 2022 begann und die alleinige Schuld dafür bei Russland liegt. Die für den Westen höchst unangenehme Geschichte, dass dieser Krieg schon viel früher begann und wesentlich vom Westen mitverschuldet wurde, wird tunlichst ausgeblendet: “Im Jahr 2014”, so US-Senator Richard H. Blake, “benötigte die Ukraine finanzielle Hilfe. Russland und die EU unterbreiteten konkurrierende Finanzvorschläge. Die Ukraine entschied sich für das russische Hilfspaket, was eine sofortige Reaktion auslöste. Die CIA und der britische MI6 organisierten einen gewaltsamen Staatsstreich, durch den der rechtmässig gewählte Präsident der Ukraine, Viktor Janukowitsch, gestürzt wurde.” 

Im Folgenden setzten die USA alles daran, die Ukraine ins westliche Militärbündnis der NATO einzubinden. Dazu der amerikanische Publizist Noam Chomsky: “Ab 2014 begannen die USA und die NATO, die Ukraine mit Waffen zu versorgen – mit modernen Waffen, militärischer Ausbildung, gemeinsamen Militärübungen und Massnahmen zur Integration der Ukraine in die NATO. Das ist kein Geheimnis. Es war ganz offen. Kürzlich prahlte der Generalsekretär der NATO, Jens Stoltenberg, damit. Er sagte, dies sei genau das, was seit 2014 geschehen sei, eine sehr bewusste, starke Provokation, die zu einer Situation führen würde, die jeder russische Führer als untragbar ansehen müsste.” Chomsky ist nicht der Einzige, der in der NATO-Osterweiterung eine unnötige und gefährliche Provokation Russlands sah. Schon 1997 hatte der US-Historiker George F. Kennan gewarnt: “Die Entscheidung, die NATO bis zu den Grenzen Russlands zu erweitern, ist der verhängnisvollste Fehler und wird die russische Aussenpolitik in eine Richtung zwingen, die uns entschieden missfallen wird.” Robert Hunter, ehemaliger NATO-Botschafter der USA, teilte diese Auffassung: “Die Hauptschuld an der negativen Entwicklung zwischen dem Westen und Russland nach dem Ende des Kalten Kriegs trifft die USA, insbesondere wegen der Expansion der NATO.” Und sogar die frühere deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel gab bereits im Jahre 2008 zu bedenken: “Wenn die Ukraine Teil der NATO wird, dann bedeutet dies aus der Perspektive Russlands eine Kriegserklärung.”

Die geplante NATO-Osterweiterung bis an die Grenze Russlands ist nicht, wie es immer wieder beschönigend heisst, ein Bündnis zu reinen Verteidigungszwecken. Dass Russland allen Grund hatte, sich dadurch bedroht zu fühlen, können wir uns leicht vergegenwärtigen, wenn wir uns für einen Moment vorstellen, Kanada und Mexiko würden sich militärisch mit Russland verbünden – kaum auszudenken, dass die USA dies sang- und klanglos akzeptieren würden. Dass die NATO mehr ist als ein reines Verteidigungsbündnis, geht auch aus folgenden Worten des ehemaligen US-Sicherheitsberaters MacGregor hervor: “Denken Sie daran, wir haben acht Jahre damit verbracht, diese Armee in der Ukraine zu dem einzigen Zweck aufzubauen, Russland anzugreifen.” Noch deutlicher äusserte sich Zbigniew Brzezinski, ebenfalls ehemaliger US-Sicherheitsberater: “Die neue Weltordnung wird gegen Russland errichtet, auf den Ruinen Russlands und auf Kosten Russlands.” Und sagte nicht unlängst auch die deutsche Aussenministerin Analena Baerbock, Ziel müsse es sein, Russland zu “ruinieren”?. Bei alledem soll sich Russland allen Ernstes vom Westen nicht bedroht fühlen? 

Trotz alledem wäre, wie der US-Ökonomie Jeffrey Sachs meint, ein Friedensschluss sogar noch im März 2022 durchaus in Reichweite gelegen: “Es gibt allerdings einen Ausweg, der offen zutage liegt: Dass die NATO sagt, wir nehmen die Ukraine nicht in die NATO auf. Diese Lösung hätte den Krieg verhindert und sie hätte den Krieg bereits im März zu einem Ende gebracht, als Russland und die Ukraine unter der Vermittlung der Türkei bei einer Lösung nahe waren und das auch öffentlich sagten. Ich bin der Auffassung, dass die USA diese Verhandlungslösung verhindert haben.” Ähnlich äussert sich der SPD-Politiker Klaus Dohnany, der darauf hinweist, dass Putin noch im Dezember 2021 die US-amerikanische Regierung ersucht habe, bezüglich den Status der Ukraine Gespräche aufzunehmen, was Präsident Biden mit der Begründung, zu diesem Thema gäbe es keinen Verhandlungsspielraum, zurückgewiesen hätte. Wäre es zu Verhandlungen gekommen, so Dohnany, hätte der Ukrainekrieg wahrscheinlich verhindert werden können. 

“Schneiden Sie mit einem Rüstmesser, ausgehend oben von der Mitte des Kreises, schräg nach rechts unten an den Rand der runden Standfläche”, so Leserbriefschreiber F.M. im “Tagesanzeiger” vom 19. Oktober 2022. Und weiter: “Dasselbe wiederholen Sie symmetrisch nach links unten. Was sehen Menschen vom Rest des Korkzapfens? Von vorne und hinten: ein Dreieck. Von rechts und links ein Rechteck und von oben und unten einen Kreis. Alle haben recht und behaupten, im Besitze der Wahrheit zu sein. Alle haben recht, aber leider besitzt jeder nur einen Teil der Wahrheit.” Dem ist nichts beizufügen.