Potosí, 1550: Der Eingang zur Hölle

Dies ist das 2. Kapitel aus meinem Buch PRO MEMORIA – EINE ANDERE GESCHICHTE DES KAPITALISMUS, das voraussichtlich anfangs 2025 erscheinen wird. Eine Geschichte der Schattenseiten des Kapitalismus und der Opfer eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das trotz allem immer noch von vielen als die einzige mögliche und alternativlose Art und Weise angesehen wird, wie das Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten organisiert werden kann.

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«Aus allen umliegenden Dörfern in der Gegend von Potosí in Bolivien wurden die Indios aus ihren Lebensgemeinschaften herausgerissen und mit ihren Kindern und Frauen zum Cerro Rico getrieben, dem Berg mit den grössten zu jener Zeit bekannten Silbervorkommen der Welt», schreibt Eduardo Galeano in seinem 1986 erschienen Buch «Die offenen Adern Lateinamerikas», und weiter: «Von je zehn, die beim Cerro ankamen, kehrten sieben niemals zurück. Viele starben schon, bevor sie beim Berg angelangt waren. Unter den Indios, die von den raubsüchtigen Minenbesitzern schlechter als herrenloses Vieh behandelt wurden, galt Potosí mit den Worten des Dominikanermönchs Domingo de Santo Toás als Eingang zur Hölle, die jährlich Abertausende von ihnen verschlang. Die eisigen Temperaturen, denen sie auf der Hochfläche ungeschützt ausgeliefert waren, wechselten mit der höllischen Hitze im Inneren des Berges ab. Mit Stangen musste das Erz aus dem Felsen gebrochen und nachher auf dem Rücken über mit Kerzenlicht beleuchtete Leitern an die Oberfläche geschafft werden. Oft barg man Indios tot oder mit Schädel- und Beinbrüchen aus dem Bergesinneren. In den umliegenden Fabriken wurde das Silber sodann unter Anwendung von Quecksilber gewonnen, welches eine noch stärker vergiftende Wirkung hatte als die unterirdischen Giftgase. Es verursachte Haar- und Zahnausfall und rief schmerzvollstes Zittern hervor. Wer nicht mehr arbeiten konnte, musste sich, um Almosen bettelnd, durch die Strassen von Potosí schleppen. In drei Jahrhunderten verschluckte der Cerro mehr als acht Millionen Menschenleben.»

Alles Unheil hatte mit dem ersten Auftauchen spanischer und portugiesischer Seefahrer und Konquistadoren auf den Inseln und an den Küsten Mittel- und Südamerikas begonnen und in kürzester Zeit sollte sich eines der Paradiese dieser Erde in eine der schlimmsten Höllen verwandeln. Um Streitigkeiten zwischen dem spanischen und dem portugiesischen Königshaus zu vermeiden, hatte Papst Alexander VI am 7. Juni 1494 im Vertrag von Tordesillas zwischen Nord- und Südpol einen Strich quer über den Atlantik gezogen, alle Gebiete östlich davon – insbesondere das spätere Brasilien – sollten zum portugiesischen, alle Gebiete westlich davon zum spanischen Herrschaftsbereich gehören.

Zwischen 1519 und 1521 eroberten spanische Truppen unter der Führung von Hernán Cortes das Aztekenreich im Gebiet des heutigen Mexiko, Francisco Pizarro unterwarf zwischen 1531 und 1535 das Inkareich auf dem Gebiet des heutigen Peru und bis 1547 gerieten auch noch alle übrigen Gebiete des heutigen Südamerika nach und nach unter die Herrschaft der Spanier und Portugiesen. Dank ihrer überwältigenden waffentechnischen Überlegenheit und der Tatsache, dass die weissen Eindringlinge über Pferde verfügten, die unter den Indios panische Angst und Schrecken verbreiteten, vermochten Verbände von wenigen hundert Soldaten Heerscharen von mit Pfeil und Bogen Kämpfender innerhalb kürzester Zeit auszulöschen oder in die Flucht zu schlagen. Zurück blieben Spuren blutigster Massaker, bis auf den Grund niedergebrannte Dörfer und Städte, verwüstete Felder – entlang der gesamten Pazifikküste zerstörten die Spanier systematisch sämtliche Anbauflächen von Mais, Jukka, Bohnen, Erdnüssen und Süsskartoffeln, die ganze traditionelle Ernährungsgrundlage der Bevölkerung. Hochkulturen, die sich im Verlaufe von Tausenden von Jahren entwickelt hatten und auf vielfältigsten Gebieten vom Ackerbau, der Baukunst und dem Kunsthandwerk über Astronomie und Mathematik bis zur Heilkunde und zu ausgeklügeltsten Kommunikationssystemen höchstes Wissen hervorgebracht hatten, wurden innerhalb eines halben Jahrhunderts buchstäblich bis auf den letzten Stein für immer ausgelöscht.

Die Gier nach unermesslichen Goldschätzen und die Suche nach dem sagenhaften Land Eldorado, von dem gefangengenommene Indios den Spaniern immer wieder erzählt hatten, waren nur der Anfang. Dann lockten unermessliche Silberschätze sowie erste Funde von Diamanten im Nordosten des heutigen Brasilien. Und bald schon brachte Kolumbus auf seiner zweiten Amerikareise europäische Zuckerrohrwurzeln mit, die er auf dem Boden der heutigen Dominikanischen Republik anpflanzte und die dort prächtig gediehen. Bald wurde, neben Gold, Silber und Diamanten, auch der Zucker, das «weisse Gold», in immer grösseren Mengen zunächst nach Europa, später auch nach Nordamerika geschafft. Sagenhafte Gewinnaussichten trieben die spanischen und portugiesischen Kolonialherren dazu an, immer grössere Landflächen für den Anbau möglichst lukrativer Exportprodukte wie Kakao, Kaffee, Tabak, Kautschuk und Baumwolle in Beschlag zu nehmen. Bald einmal waren die einst so fruchtbaren Böden infolge Übernutzung durch Monokulturen dermassen ausgelaugt, dass immer grössere Waldflächen abgeholzt werden mussten, um neues Land zu gewinnen. Auf den Plantagen und in den Bergwerken wurde mit brutalsten Methoden aus den Indios das Alleräusserste an menschlicher Arbeitskraft herausgepresst, während es infolge der ausschliesslich auf Export getrimmten Landwirtschaft immer mehr an Grundnahrungsmitteln zu fehlen begann, Unterernährung sich immer breiter machte und, um nur einziges, aber besonders drastisches Beispiel zu nennen, die Kinder im Nordosten des heutigen Brasilien infolge von Eisenmangel so geschwächt waren, dass sie sogar Erde zu essen begannen und für dieses «Laster» in der Weise bestraft wurden, dass man ihnen Maulkörbe aufsetzte oder sie in Körbe steckte, die möglichst weit vom Boden entfernt waren – eine Praxis, die in einzelnen Gebieten bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts verbreitet war.

Jeglicher Widerstand war in Anbetracht der erdrückenden Übermacht ihrer Ausbeuter und Peiniger aussichtslos. Als der Mestizenhäuptling Túpac Amaru, ein direkter Nachkomme der Inkakaiser, im Jahre 1781 in Cuzco zu einer grossen Rebellion gegen den spanischen Landvogt Antonio Juan de Arriaga aufrief und das Ende jeglicher Zwangsarbeit forderte, bekam er zwar Zulauf von Abertausenden Leidensgenossen. Dennoch gelang es den Spaniern, ihn gefangen zu nehmen. Als der Vertreter der Kolonialbehörde von ihm die Namen der an der Rebellion Beteiligten verlangte, gab ihm Túpac Amaru zur Antwort, hier gäbe es keine Schuldigen ausser der spanischen Fremdherrschaft. Hierauf wurden er, seine Ehefrau, seine Söhne und seine hauptsächlichen Parteigänger auf einem Platz inmitten von Cuzco öffentlich gefoltert. Man schnitt ihm die Zunge ab. Seine Arme und Beine wurden an vier Pferde gebunden, die ihn in vier Stücke reissen sollten, doch sein Körper teilte sich nicht. Er wurde am Fusse eines Galgens geköpft. Sein Kopf wurde nach Tinta gebracht, einer seiner Arme nach Tungasuca und der andere nach Livitaca, sein Rumpf wurde verbrannt. Schliesslich verfügten die spanischen Machthaber die Ausrottung seiner gesamten Nachkommenschaft bis zum vierten Grad. (Eduardo Galeano, «Die offenen Adern Lateinamerikas»)

Im Laufe von drei Jahrhunderten verwandelten sich das Elend, die Zwangsarbeit, die Armut, der Hunger, der frühe Tod, die Zerstörung der ursprünglichen Lebensgrundlagen und die Vernichtung jahrtausendealter, hochentwickelter Kulturen Lateinamerikas in den wachsenden Reichtum und Luxus der immer wohlhabenderen Städte und Regionen Europas und Nordamerikas. Ausbeutung, bittere Armut und Ohnmacht auf der einen Seite, nie dagewesener Reichtum und wachsende Machtausdehnung auf der anderen – es sind die beiden unauflöslich miteinander verbundenen Kehrseiten der gleichen kapitalistischen Münze. Damit Europa und Nordamerika reich werden konnten, musste Lateinamerika arm werden. Damit mehr Menschen im Norden ein gutes Leben haben konnten, verkleinerten sich im gleichen Ausmass die Lebenschancen der Menschen im Süden: Hatten in ganz Lateinamerika zum Zeitpunkt, als die ersten Konquistadoren aus Europa an den Küsten auftauchten, noch mindestens 70 Millionen Indios gelebt, war ihre Zahl eineinhalb Jahrhunderte später auf dreieinhalb Millionen zusammengeschmolzen. (Eduardo Galeano, «Die offenen Adern Lateinamerikas»)

Doch die Spaltung zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten verlief nicht nur zwischen Nordamerika und Europa auf der einen, Lateinamerika auf der anderen Seite. Sie verlief von Anfang an auch quer durch die kolonialisierten und ausgebeuteten Ländereien selber. Überall, selbst in den allerärmsten Zonen des Südens, bildeten sich reiche Oberschichten von Grossgrundbesitzern, welche ihrerseits von der Ausbeutung und der Verarmung ihrer Völker profitierten. Das Wenige, was aus der kolonialen Ausbeutung an Profiten im Süden verblieb, wurde zu einem grossen Teil für den Bau grosser Paläste und prächtiger Kirchen, ausgedehnten Landerwerb, den Kauf luxuriöser Schmuckstücke, Kleider und Möbel, Dienstpersonal und verschwenderische Feste für die Oberschicht ausgegeben. So bildete sich nach und nach eine länderübergreifende Komplizenschaft zwischen den reichen Oberschichten im Süden und den reicher werdenden Kolonialmächten auf Kosten der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung in den Ländern des Südens, eine Spaltung, die bis heute nicht überwunden, sondern im Gegenteil noch grösser geworden ist denn je.

In gleicher Weise, mit welcher den nordamerikanischen Indigenen von den europäischen Kolonisten ein wahres «Menschsein» abgesprochen  und damit jegliches an ihnen begangene Unrecht gerechtfertigt werden konnte, betrachteten auch die spanischen und portugiesischen Eroberer des südlichen Amerikas sowie europäische Philosophen und Schriftsteller die eingeborene Bevölkerung als eine «minderwertige» Rasse. Der Vizekönig von Mexiko war der Ansicht, dass es für die «natürliche Schlechtigkeit» der Eingeborenen kein besseres Heilmittel gäbe als die Arbeit in den Minen. Der Graf von Buffon erklärte, dass bei den Indios «keinerlei Anzeichen von Seele» festzustellen seien. Montesquieu sprach im Zusammenhang mit den Indios von «degradierten» Menschen. Der angesehene deutsche Philosoph Friedrich Hegel unterstellte den Indios «körperliche und geistige Impotenz». Und Pater Gregorio García vertrat die Ansicht, dass die Indios den Spaniern für all das «Wohl», das diese ihnen erwiesen hätten, «viel zu wenig dankbar» seien.

Die Diskriminierung der indigenen Bevölkerung Mittel- und Südamerikas ging vielerorts bis ins 20. Jahrhundert weiter. So etwa bekamen die «Pongos» in Bolivien bis ins Jahr 1952 nur das zu essen, was von den Hunden, neben denen sie auch schlafen mussten, übrigblieb, und wenn sie an eine Person weisser Hautfarbe das Wort richten wollten, mussten sie zuerst vor dieser Person auf die Knie fallen. (Eduardo Galeano, «Die offenen Adern Lateinamerikas») Respektlosigkeit und Rassismus gegenüber Indios, die oft zu den am meisten benachteiligten und ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen gehören, sind bis heute weit verbreitet. So etwa müssen junge Indiomädchen in der peruanischen Region Lima bis zu 18 Stunden täglich in Haushalten der Oberschicht arbeiten und bekommen oft nicht einmal einen Lohn, weil man sie, meist grundlos, des Diebstahls bezichtigt. Gewerkschaften sprechen von «sklavenähnlichen Zuständen». Und obwohl die indigene Bevölkerung gerade in Peru einen grossen Teil der Gesamtbevölkerung ausmacht, ist diese in den meisten staatlichen Einrichtungen, in der Politik, in den Medien, der Literatur, der Werbung und der Kunst so gut wie nicht vertreten. (Frankfurter Rundschau, 20.3.2022)

Am 10. April 1809 erlangte Ecuador als erste lateinamerikanische Kolonie die staatliche Unabhängigkeit, es folgten bis 1825 die meisten übrigen Kolonien Zentral- und Südamerikas. Doch dies bedeutete ganz und gar nicht die wirtschaftliche Unabhängigkeit von den Industrieländern des Nordens. Verheerend wirkte sich vor allem das Erbe der Monokulturen aus. Denn fast nur von einem einzigen Exportprodukt abhängig zu sein, bedeutet, den schwankenden Weltmarktpreisen für eben dieses Produkt hilflos ausgeliefert zu sein. «Ein Volk, das sein Wohlergehen auf ein einziges Produkt begründet», so der kubanische Dichter und Nationalheld José Martí,«begeht Selbstmord».

Wachsende Bedeutung, bis heute, gewann der Export von Fleischprodukten aus Lateinamerika. Statt Nahrung für den Eigenbedarf der Bevölkerung, wurden immer grössere Flächen für den Anbau von Futtermitteln für Rinder, Schweine und Hühner verbraucht, was schon in den Siebzigerjahren vom internationalen Entwicklungsorganisationen mit dem Slogan «Das Vieh der Reichen frisst das Brot der Armen» angeprangert wurde. Das Eiweiss, das in der Nahrung der Länder des globalen Südens im Übermass fehlt, wird bis heute in den Ländern des globalen Nordens, aber zu einem grossen Teil auch von den Reichen in den eigenen Ländern im Übermass konsumiert.

«Die in den Anfängen der Kolonialisierung entstandene und bis heute andauernde globale Arbeitsteilung», so Eduardo Galeano, «besteht darin, dass einige Länder sich auf das Gewinnen spezialisieren und die anderen auf das Verlieren. Seit dem Beginn der Kolonialisierung bis in unsere Tage hat sich alles zuerst in europäische, dann in nordamerikanisches Kapital verwandelt. Alles: Die Schätze der Natur und die beruflichen Fähigkeiten der Menschen, die Produktionsmethoden und die Klassenstruktur jedes Ortes. Die Kette der aufeinanderfolgenden Abhängigkeiten ist ins Unendliche gewachsen. Die Verewigung der heutigen Weltordnung ist die Verewigung dieses Verbrechens.»

Bis heute haben sich die armen Länder des Südens nie wirklich aus der Abhängigkeit, Bevormundung und Fremdbestimmung durch die reichen Länder des Nordens befreien können. Die während der Kolonialzeit entstandenen Strukturen verunmöglichen bis heute eine eigenständige, unabhängige Entwicklung dieser Länder. Um einigermassen über die Runden zu kommen, sind sie gezwungen, immer wieder Kredite von der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds oder privaten Institutionen aufzunehmen, zu Bedingungen, die einzig und allein von diesen Geldgebern bestimmt werden und dazu führen, dass die Verschuldung immer noch weiter zunimmt.

Lateinamerika 2024, das sind weiter zunehmende Armut und Hoffnungslosigkeit, steigende Preise bei sinkenden Löhnen, Arbeitslosigkeit, kaputtgesparte Schulen und gestrichene Sozialprogramme, Kriminalität, Drogenhandel und Prostitution als einzige mögliche Auswege aus dem Kampf ums nackte Überleben, überquellende Gefängnisse, Mordanschläge auf Politiker und Richter, wachsender Einfluss der Mafia auf Unternehmen und Regierungen, Korruption, Überfälle auf Fernsehsender und öffentliche Institutionen, allgegenwärtige Gewalt auf den Strassen und in den heruntergekommenen Wohnquartieren ohne jede Zukunftsperspektive, nahezu täglich wachsende Flüchtlingsströme in Richtung Nordamerika, bei denen Millionen von Menschen, die schon viel zu Gewalt erfahren haben, noch einmal und erst recht vielen zusätzlichen Qualen und Formen von Gewalt ausgesetzt sind. Die einzige Antwort der Politik und der von alledem immer noch profitierenden Oberschichten besteht darin, all dieser Gewalt noch mehr Gegengewalt entgegenzusetzen, mehr Polizei, strengere Gesetze, mehr Gefängnisse und mehr Kampf gegen die vermeintlich «bösen» Kriminellen, Mafiabosse, Menschenhändler und «Terroristen», während das eigentliche, aller Misere zugrunde liegende Böse doch nichts anderes ist als der seit 500 Jahren wütende Kapitalismus mit all seinen verheerenden Folgen bis zum heutigen Tag.