Abfahrt der Frauen in Cortina d’Ampezzo am 27. Januar 2024: So viele Stürze in einem einzigen Rennen gab es wohl noch selten. Zuerst Mikaela Shiffrin. Sie stürzt im oberen Streckenteil und fliegt ins Fangnetz, der Aufprall ist so heftig, dass sie zunächst regungslos liegen bleibt. Als sie wieder aufstehen kann, lässt sich das linke Bein nicht mehr belasten, sie muss mit dem Helikopter abtransportiert werden, wie zwei Wochen zuvor ihr Freund Aleksander Kilde, der in Wengen schwer gestürzt war und den Rest des Winters verpassen wird. Dann Corinne Suter. Bei der Landung nach einem hohen Sprung kann sie zwar gerade noch knapp vor den Fangnetzen abbremsen, verletzt sich dabei aber am Knie und schreit vor Schmerz laut auf. Auch sie muss ins Spital gebracht werden. Schon am Abend werden die schlimmsten Befürchtungen Tatsache: Kreuzbandriss im linken Knie, Meniskusverletzung, Saisonende. Bereits vor Jahresfrist stürzte sie in Cortina d’Ampezzo und erlitt dabei eine Gehirnerschütterung. Dann Federica Brignone. Dann Emma Aicher. Dann Priska Nufer. Und schliesslich Michelle Gisin. Sie landet in den Netzen, kann jedoch selbständig ins Ziel fahren, verspürt aber starke Schmerzen im rechten Unterschenkel und wird bei den weiteren Rennen an diesem Wochenende nicht mehr starten können. Doch dieser Freitag ist keine Ausnahme. Er passt in diese, wie ein Journalist schreibt, “seltsame Skisaison”: Reihenweise sind sie in den vergangenen Wochen infolge von Stürzen und Verletzungen ausgeschieden: Nebst Aleksander Kilde auch Petra Vlhova, Wendy Holdener, Alexis Pinturault und Marco Schwarz, um nur die Bekanntesten unter ihnen zu nennen.
Und jedes Mal, wenn wieder ein Fahrer oder eine Fahrerin ins Netz fliegt oder regungslos auf der Piste liegen bleibt, geht ein Aufschrei durch das Publikum und alle schlagen sich die Hände vor die Augen, nur um das Entsetzliche nicht sehen zu müssen. Wie scheinheilig. Man baut die Pisten genau so, dass sie Stürze förmlich provoziert, und gibt sich dann völlig überrascht, wenn tatsächlich genau das passiert, was man eigentlich hätte verhindern können, aber offensichtlich gar nicht wirklich hat verhindern wollen. “Ich habe an dieser Stelle einen Fehler gemacht” oder “Ich habe zu wenig aufgepasst” oder “Ich war zu wenig konzentriert”, sagen die Fahrerinnen im Interview nach dem Rennen, ganz so, als ob sie sich für irgendetwas entschuldigen oder rechtfertigen müssten und nicht der einzige wirklich ausschlaggebende Fehler darin besteht, eine solche Art von sportlichem “Wettkampf” überhaupt zu planen und durchzuführen, bei dem jede Fahrerin und jeder Fahrer schon lange vor dem Start ganz genau weiss, dass sie oder er schon das nächste Opfer sein könnte.
Doch nicht nur Skifahrerinnen und Skirennfahrer, sondern auch Motorradfahrer, Kunstturnerinnen, Leichtathleten, Schwimmerinnen und Tennisspieler. Sie alle bezahlen mit ihrer Gesundheit, manchmal sogar mit ihrem Leben, für die Schaulust des Publikums und für jene Gewinne, die dann früher oder später in die Kassen von Sportorganisatoren, Veranstaltern, Fernsehanstalten und all jener Firmen fliessen, die dank diesem oder jenem Event ihre Profite erzielen. Und, obwohl sie alle dafür so grosse Opfer erbringen: Niemand von ihnen wird gefragt, ob sie selber all das tatsächlich auch wollen. Weder die Skirennfahrerinnen, noch die angehenden, mit brutalsten Trainingsmethoden belasteten Kunstturnerinnen von Magglingen, noch die Fahrer der Tour de France oder der Tour de Suisse, die sich über himmelhohe Berge quälen und sich auf glitschigem Kopfsteinpflaster der Gefahr von Stürzen aussetzen müssen, worauf dann wieder die scheinheilige Menge aufschreit und so tut, als wären das bloss irgendwelche dumme Zufälle oder “Fehler”, aber nicht die ganz logische Folge genau dieser Art von zu möglichst werbewirksamen Grossveranstaltungen emporgepushten “Sportveranstaltungen”, bei denen der ganz besondere, heimliche “Kick” vermutlich eben genau darin liegt, dass jederzeit etwas ganz Entsetzliches passieren könnte.
Vor 2000 Jahren warf man, zur Belustigung der Massen, in den Amphitheatern Roms die Menschen den Löwen und Tigern zum Frass vor. Heute wirft man junge Menschen, angelockt durch Geld, Prestige, Berühmtheit und die Aussicht auf den definitiven Sieg in einem immer härter und gnadenloser werdenden gegenseitigen Konkurrenzkampf aller gegen alle einem millionenfachen Fernsehpublikum zum Frass vor, einem Publikum, das zuhause auf dem Sofa gemütlich zuschauen kann, wie sich andere zu Tode quälen und ihr Leben aufs Spiel setzen – sehr viel weiter scheinen wir in diesen 2000 Jahren nicht gekommen zu sein…
Das zutiefst Verrückte daran ist, dass durch diese Art von Wettkampf Menschen buchstäblich dazu gezwungen werden, sich gegenseitig Leid zuzufügen – obwohl sie dies wohl kaum selber wirklich wollen. Aber wenn, angetrieben durch die Aussicht auf einen Sieg, der einzelne Sportler und die einzelne Sportlerin immer mehr an die äussersten Grenzen körperlicher Belastbarkeit gehen und auch noch die letzten, allergrössten Gefahren und Risiken auf sich nehmen, dann zwingen sie, ob sie wollen oder nicht, alle ihre Konkurrentinnen und Konkurrentin dazu, dies ebenfalls zu tun oder, wenn irgend möglich, diese Grenze noch weiter hinauszuschieben. Je schneller die eine Skifahrerin auf die nächste gefährliche Kurve zurast, umso mehr steht die nächste Fahrerin unter dem Druck, noch schneller auf diese Kurve zuzurasen und damit ein noch höheres Risiko einzugehen. Je härter der eine Tennisspieler die Bälle schlägt, umso härter muss der andere sie zurückschlagen – bis die Handgelenke, die Ellbogen, die Knie oder der Rücken eines Tages einfach nicht mehr mitmachen. Je riskantere Sprünge die eine Kunstturnerin beherrscht, umso mehr sind alle anderen gezwungen, noch riskantere Sprünge einzuüben, selbst wenn sie dadurch ihren Körper dermassen überdehnen müssen, dass sie möglicherweise bleibende Schäden davontragen werden. Je länger es die eine Synchronschwimmerin unter dem Wasser aushält, umso länger müssen alle anderen Synchronschwimmerinnen es auszuhalten versuchen, bis eine von ihnen das Bewusstsein verliert – das, was mit der amerikanischen Synchronschwimmerin Anita Alvarez an den Weltmeisterschaften 2022 geschah und ihr fast das Leben gekostet hätte.
Sie alle, Skirennfahrerinnen, Radrennfahrer, Turnerinnen, Gewichtheber und Synchronschwimmerinnen und alle anderen Spitzensportlerinnen und Spitzensportler, sind Teil eines gewaltigen Experiments, von dem man eigentlich schon längst weiss, welches seine Folgen sind: zerstörte Körper bis zum Lebensende, unerträgliche Schmerzen durch übermässiges Training oder Unfälle, Depressionen, Magersucht oder der Verlust jeglichen Selbstvertrauens infolge unerbittlich sich wiederholender Rückschläge und Misserfolge trotz grenzenloser Anstrengungen über Jahre, zerplatzte Zukunftsträume, eine gestohlene Kindheit, wenn schon im Alter von vier oder fünf Jahren fünfmal pro Woche trainiert werden muss, damit überhaupt die geringste Chance besteht, je einmal zu den Besten zu gehören.
Wie viele Stürze wie diese bei der gestrigen Abfahrt in Cortina d’Ampezzo, wie viele kaputttrainierte Kunstturnerinnen, wie viele zerschundene Gelenke von Tennisspielerinnen und wie viele Massenkarambolagen von Radrennfahrern werden wohl noch nötig sein, bis auch der Spitzensport endlich wieder dorthin zurückkehren wird, wo er einmal angefangen hatte: beim Wohlergehen und bei der Gesundheit der Menschen und, vor allem, bei ihrem Recht auf Selbstbestimmung: mit dem eigenen Körper nur das zu tun, was ihm guttut und sich nicht von äusseren Interessen, Profitzwecken und der Schaulust des Publikums instrumentalisieren und missbrauchen zu lassen.
(Nachtrag am 29. Januar 2024: Auch beim Super-G der Frauen vom 28. Januar in Cortina d’Ampezzo kam es wieder zu fürchterlichen Stürzen. Die Kanadierin Valerie Grenier touchierte ein Tor und wurde richtiggehend durch die Luft geschleudert. Jasmin Flury kamen vor laufender Kamera die Tränen, weil kurz vor dem Interview auch die Norwegerin Kajsa Vickhoff gestürzt war. Sie fühle sich gerade leer, sagte Flury. Es hätte sie mehr mitgenommen, als sie gedacht hätte. Lara Gut-Behrami setzt die vielen Stürze an diesem Wochenende mit fehlender Erholung in Zusammenhang. Drei Rennen am gleichen Wochenende seien einfach zu viel. Dazu kämen Events wie die Startnummernauslosungen, so dass die Athletinnen kaum Zeit hätten, sich zu erholen.)
(Weiterer Nachtrag am 2. Februar 2024: Es sind schwer ertragbare Bilder, welche der vor drei Wochen verunfallte Skirennfahrer Aleksander Kilde in den sozialen Medien teilt. Eine tiefe, mehrere Zentimeter breite und bis auf die Knochen reichende Schnittwunde an seiner Wade. Die zweifach operierte und mit zahlreichen Stichen genähte Schulter. Nach dem medizinischen Eingriff an der Schulter hätte er Schmerzen gehabt wie noch nie in seinem ganzen Leben. Die Schmerzmittel hätten Panikattacken ausgelöst, durch die Schnittwunde an der Wade seien so viele Nerven beschädigt worden, dass er die Zehen lange nicht mehr hätte fühlen können. Die Topathleten hätten einfach ein zu brutales Programm, jeden Abend müssten sie an die Auslosung der Startnummern und dann an die Siegerehrung. Es gehe meist bis 16.30 Uhr, ehe alles erledigt sei. Und wenn man zu den Besten gehöre, dann spüre man nach dem Mammutprogramm erst recht die Erwartungen, erneut gewinnen zu müssen.)
(Noch ein Nachtrag am 2. Februar 2024: Laut einer Pressemitteilung hat der slowenische Skirennfahrer und WM-Silbermedaillengewinner von Åre (2019) bekanntgegeben, seine Karriere im Alter von 28 Jahren zu beenden. Seinen Rücktritt erklärt er mit anhaltenden physischen und psychischen Beschwerden. Er sei trotz aller Arbeit, Zeit und Energie, die er investiert habe, am Punkt angelangt, wo er nicht mehr könne. Er könne nicht mehr über die Gefühle hinwegsehen, die sein Körper ihm sende.)
(Nachtrag am 12. Februar 2024: Die Walliserin Malorie Blanc, Zweite in der Abfahrt bei den Junioren-WM Ende Januar in Frankreich, verletzt sich bei der zweiten Europacup-Abfahrt in Crans-Montana VS schwer: Nach einem Sprung gerät sie in Rücklage, kann sich nicht mehr aufrichten und stürzt ins Netz. Fazit: Kreuzband- und Aussenmeniskusriss sowie Zerrung des inneren Seitenbandes im linken Knie. Aus der Feuertaufe im Weltcup vom 16. bis 18. Februar wird nun nichts.)
(Nachtrag am 14. Februar 2024: Beim ersten Abfahrtstraining der Frauen in Crans-Montana stürzt die Rumänin Ania Monica Caill kurz nach der Ziellinie schwer, bleibt liegen und muss ins Spital von Sitten transportiert werden, wo eine Schulterverletzung diagnostiziert wird. Die Schweizer Fahrerin Jasmine Flury ärgert sich. Sie verstehe nicht, weshalb man kurz vor dem Ziel diesen Buckel aufgebaut habe, mit dem die Fahrerinnen gefährlich in die Höhe katapultiert werden. Nach dem Training zeigt sich der Pistenverantwortliche dann doch noch einsichtig und meint, Jasmin Flury hätte ja eigentlich Recht, der Sprung vor der Ziellinie mache aus sportlicher Sicht überhaupt keinen Sinn und sei nur deshalb aufgebaut worden, weil man dank ihm mehr Werbung platzieren könne. Nachdem sich auch andere Fahrerinnen über den Zustand der Piste kritisch geäussert haben, sagt OK-Vizechef Hugo Steinegger hingegen: “In diesem Winter wird sehr, sehr schnell gejammert. Einige müssen sich schon fragen, ob sie eigentlich den richtigen Job gewählt haben.” OK-Chef Marius Robyr sagt: “Warum gleich Drama machen? Das verstehe ich nicht. Ich frage mich, ob die Frauen Angst haben vor dieser technisch schwierigen Strecke. Man muss doch dem Publikum auch ein Spektakel bieten. Und ein Sprung macht das Rennen eben attraktiver – ich sehe da kein Problem.” Auch behauptet er, nichts sei gefährlich gewesen und es sei auch “nichts passiert” – dies trotz des schweren Sturzes von Ania Monica Caill. Und Jean-Philippe Vuillet, der jahrelang als Renndirektor bei der FIS gearbeitet hat, sagt: “Ich glaube schon, dass die Leute, welche die Piste machen, wissen, was sie tun.”)
(Nachtrag am 25. Februar 2024: Nun hat es auch die österreichische Speed-Athletin Michelle Niederwasser erwischt: Sie kann an den nächsten Rennen in Kvitfjell, Are und Saalbach nicht teilnehmen. Seit ihrem Sturz bei der Abfahrt in Cortina d’Ampezzo hat sie so grosse Knieschmerzen, dass das Weiterführen ihrer Saison unmöglich ist. Niederwieser war eine von vielen Athletinnen, die in Cortina stürzte.)
(Nachtrag am 27. Februar 2024: Am kommenden Wochenende werden in Aspen (USA) zwei Riesenslaloms und ein Slalom durchgeführt, aus der Sicht des Slalom- und Riesenslalomspezialisten Manuel Feller sei dies geradezu “fahrlässig” in Anbetracht dessen, dass die Kräfte einiger Fahrer gegen Saisonende “langsam aber sicher ausgehen” und die Verletzungsgefahr durch Unfälle infolge der viel zu kurzen Regenerationszeit zwischen den einzelnen Rennen immer grösser werde. Feller verzichtet deshalb auf den Riesenslalom am Samstag und fährt nur die beiden anderen Rennen.)
(Nachtrag am 27. Februar 2024: Bei seinem fürchterlichen Lauberhorn-Sturz am 13. Januar hatte sich Aleksander Kilde schwer verletzt. Die Diagnose: tiefe Schnittwunde an der Wade und eine ausgekugelte Schulter. «Ich habe nie zuvor solche Schmerzen erlebt», sagte er wenige Tage später in einem Interview, das er aus seinem Spitalbett gab. Nach sieben Wochen im Rollstuhl macht er nun wieder die ersten Schritte. «Babyschritte. Buchstäblich», schreibt er zu einem Video, das zeigt, wie er zunächst beide Beine nacheinander vorsichtig belastet und sich dabei an einer Stange festhält, ehe er ganz vorsichtig und hochkonzentriert ein paar kleine Schritte geht – noch etwas wackelig, aber ohne sich festzuhalten. Ob er es jemals wieder zurück in den Weltcup schaffen wird, muss sich noch zeigen.)
(Nachtrag am 9. März 2024: Walter Reusser, CEO Sport bei Swiss-Ski, hat kürzlich eingeräumt, “die eine oder andere der jungen Schweizer Skirennfahrerinnen” sei “zu früh in den Weltcup geschickt” worden, nur weil Startplätze frei gewesen seien. “Von den Jahrgängen 1996 bis 1999”, so Reusser, “kam keine einzige Fahrerin ohne gröbere Verletzung durch.”)