Skandal: Arbeiterinnen und Arbeiter haben eine bis um fünf Jahre tiefere Lebenserwartung als Akademikerinnen und Akademiker…

 

Aufgrund von Daten der Schweizerischen Gesundheitsbefragungen (EES) lässt sich, wie das schweizerische “Tagblatt” am 26. Oktober 2022 berichtet, feststellen, dass Akademikerinnen und Akademiker eine um fünf Jahre (Männer) bzw. zweieinhalb Jahre (Frauen) höhere Lebenserwartung haben als Arbeiterinnen und Arbeiter. Zudem verfügen Arbeiterinnen und Arbeiter über eine schlechtere Gesundheit als Akademikerinnen und Akademiker: Diese leben 8,8 Jahre (Männer) bzw. 5 Jahre (Frauen) länger bei guter Gesundheit als Männer und Frauen, die nur über einen obligatorischen Schulabschluss verfügen. Die Schere zwischen tendenziell gesünderen Akademikerinnen und Akademiker und tendenziell kränkeren Arbeiterinnen und Arbeitern hat sich zudem im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre erheblich vergrössert, “Je nach Bildungsniveau”, so resümiert das “Tagblatt”, “variiert nicht nur die Lebenserwartung, sondern auch die Gesundheit.”

Doch die geringere Lebenserwartung und die schlechtere Gesundheit im Alter sind längst nicht die einzigen Benachteiligungen von Menschen, die “nur” die Volksschule besucht haben, gegenüber jenen, die über einen akademischen Abschluss verfügen. Es beginnt nämlich schon ganz früh, spätestens in der Schule, wo Kinder, die weniger gut und schnell rechnen, lesen und schreiben können, die Erfahrung machen müssen, dass sie weniger “wertvoll” und “wichtig” sind als andere – auch wenn sie in anderen Bereichen über noch so viele Begabungen und Fähigkeiten verfügen. Der schon in frühem Alter aufgedrückte Stempel, weniger “wertvoll” oder gar weniger “intelligent” zu sein als andere, kann sich oft lebenslang negativ auf das Selbstwertgefühl und das Selbstbewusstsein auswirken und demzufolge auch – weil psychische und physische Gesundheit eng zusammengehören – auf das körperliche Wohlbefinden und die körperliche Gesundheit.

Es geht weiter mit dem Einstieg in die Berufswelt. Während die zukünftigen Akademikerinnen und Akademiker noch gemütlich im Gymnasium sitzen, sind die Jugendlichen, die “nur” eine Berufslehre absolvieren, schon auf der Baustelle dem Wind und dem Wetter ausgesetzt, kümmern sich um alte und kranke Menschen oder füllen im Supermarkt Gestelle auf, bis sie vor lauter Rückenschmerzen kaum mehr richtig schlafen können. 

Ist erst einmal der Arbeiter im Strassengraben und der Akademiker auf seinem Lehrstuhl an der Universität, dann kommen diese unsäglichen Lohnunterschiede dazu, die alles noch weiter verschlimmern. Weniger verdienen heisst ja nicht nur, am Ende des Monats weniger Geld in der Lohntüte zu haben. Eine kleinerer Lohn wirkt sich auf das gesamte Leben aus, auf die Lebensweise, auf die Lebensqualität. Weniger Lohn heisst konkret: eine kleinere Wohnung, weniger Platz für die Kinder, kein Garten, dafür in unmittelbarer Nähe eine dichtbefahrene Strasse, Lärm und Abgase. Weniger Lohn heisst auch: weniger Geld für Freizeitaktivitäten wie Fitnesstraining, feines Essen im Restaurant, Ferien im Wellnesshotel oder am Meer – lauter Dinge, die für andere, besser Verdienende, selbstverständlich sind. Weniger Lohn heisst auch: weniger Geld für Geschenke, Spiel- und Sportgeräte, Freizeitkurse, Musikunterricht oder Ferienlager für die Kinder, was für die betroffenen Eltern ganz besonders schmerzlich ist und sich häufig mit dem Gefühl verbindet, im Kampf um den sozialen Aufstieg selbstverschuldet auf der Strecke geblieben zu sein. Auch dies eine überaus schlechte Voraussetzung für Wohlbefinden, Zufriedenheit und Gesundheit. Umso mehr, als die unbefriedigende soziale Situation nicht selten Anlass für Ersatzbefriedigungen aller Art sein kann, von der Spielsucht über den Nikotinkonsum bis hin zum Alkohol. 

Kommt dazu, dass ausgerechnet geringer verdienende Arbeiterinnen und Arbeiter in hohem Masse von besonders schweren und oft auch gefährlichen Tätigkeiten betroffen sind, welche ihre Gesundheit zusätzlich belasten und nicht selten für lebenslange Gebrechen oder frühen Tod verantwortlich sind. Denken wir nur an Strassen- und Bauarbeiter, Maurer, Zimmerleute, Paketboten, Krankenpflegerinnen, Angestellte im Supermarkt, Malerinnen, Gerüstbauer, Fliessbandarbeiter, Friseusen, Köche oder Serviceangestellte – lauter Arbeiten, bei denen man übermässig schwere Lasten heben, Rücken und Arme viel zu stark belasten, überlang stehen muss oder mit Chemikalien und giftigen Substanzen zu tun hat, welche Haut und Atemwege gefährden. Auch von den schweizweit jährlich rund 170’000 Arbeitsunfällen sind fast ausschliesslich Arbeiterinnen und Arbeiter betroffen und höchst selten eine Akademikerin oder ein Akademiker.

Wie wenn das alles nicht schon genug wäre, leiden Arbeiterinnen und Arbeiter und ganz generell Beschäftigte in untergeordneten Positionen erheblich darunter, dass sie auf ihre Arbeitssituation fast keinen Einfluss haben und den Anordnungen ihrer Vorgesetzten mehr oder weniger hilflos ausgeliefert sind. Meist arbeiten sie hart, nicht selten sind sie gezwungen, Überstunden zu leisten – und sehen am Ende des Tages dennoch nur wenig von dem, was sie geleistet haben, sondern müssen im Gegenteil mit ansehen, wie ihre Chefs oder die Aktionäre der Firma ein viel luxuriöseres Leben führen als sie selber, während sie selber sich nebst dem geringen Lohn auch noch mit viel geringerer Wertschätzung abfinden müssen. Keine Frage, dass Demütigungen dieser Art in der Seele tiefe Spuren hinterlassen und sich letztlich auch wieder auf die Gesundheit negativ auswirken.

“Klügere Menschen”, so die englische Philosophin Rosalind Arden in einem am 26. Oktober 2022 auf 3sat ausgestrahlten Dokumentarfilm über das Phänomen der Intelligenz, “leben länger und gesünder, werden besser bezahlt und haben sogar stabilere Partnerschaften.” Dies würde ja dann heissen, dass alle Menschen, welche schlechter bezahlt sind, daran selber Schuld wären, weil sie eben nicht so “klug” seien. Offensichtlich fühlen sich akademisch gebildete Menschen wie Rosalind Arden gescheiter als all die Menschen, welche für sie Häuser bauen oder Strassen, über die sie täglich fahren, und gescheiter als all die Menschen, die ihre Autos und ihre Heizungen reparieren, ihre Haare frisieren oder das Brot backen, das sie essen. Was für eine grenzenlose Überheblichkeit! Und was für eine masslose Beleidigung all jener Menschen, die mit grösstem Geschick, präzisester Fleissarbeit, unendlicher Hingabe und bewundernswertem Sachverstand Tag für Tag all jene Arbeiten verrichten, die so schlecht bezahlt sind und dennoch das Fundament bilden, ohne welches die ganze Gesellschaft augenblicklich wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen würde.

Wundern wir uns bei so vielen seelischen Wunden, bei so viel Demütigung, bei so viel Missachtung existenzieller Lebensbedürfnisse immer noch darüber, dass Arbeiterinnen und Arbeiter weniger lange leben und schneller krank werden als Akademikerinnen und Akademiker? Kann eine Gesellschaft als Ganzes gesund sein, wenn ein erheblicher Teil der Bevölkerung nur deshalb länger gesund sein darf, weil ein anderer so viel früher von Krankheit und Tod betroffen ist? Lässt sich das mit der Grundidee der Demokratie und der gleichen Rechte für alle tatsächlich vereinbaren? Müsste nicht alles unternommen werden, um die Früchte der Arbeit, die gesamthaft geleistet wird, auch wieder auf alle möglichst gerecht zu verteilen?

“Es gibt viele Arten zu töten”, lesen wir beim deutschen Schriftsteller Bertolt Brecht, “man kann den Menschen das Brot entziehen, man kann sie in den Krieg führen oder man kann sie durch Arbeit zu Tode schinden.” Wie recht er hatte! Hier und heute, selbst im reichsten Land der Welt: Jahr für Jahr Tausende von Menschen, die frühzeitig krank werden und frühzeitig sterben. Nicht weil sie “dümmer” sind als andere. Sondern weil der gnadenlose Kampf um den sozialen Aufstieg, eine himmelschreiende Ungerechtigkeit von Einkommen und Lebensbedingungen und die rücksichtslose Anhäufung von Reichtum auf Kosten anderer in unseren Köpfen immer noch so tief verwurzelt sind und als “normal” empfunden werden, dass zwar über jeden Verkehrsunfall, jeden Mord und jeden tödlichen Absturz eines Bergsteigers ausführlich berichtet wird, nicht aber über das lautlose Sterben all jener, die nichts anderes getan haben, als sich ein Leben lang unter grössten Entbehrungen für den Reichtum und die Interessen anderer abzurackern…