Von der Ukraine bis nach Palästina: Nicht in die Vergangenheit sollten wir schauen, sondern in die Zukunft

Der Vorwurf des Westens an die Adresse Russlands, wegen des völkerrechtswidrigen Überfalls auf die Ukraine am 24. Februar 2022 für diesen Konflikt die alleinige Schuld zu tragen, wird von Russland mit der Begründung zurückgewiesen, diese Militäraktion sei nur die Reaktion gewesen auf eine seit Jahrzehnten gegenüber Russland feindselige Politik der Westmächte, die sich vor allem in der kontinuierlichen Erweiterung der Nato bis an die Grenzen Russlands manifestiert hätte, dies entgegen dem Versprechen führender westlicher Politiker nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die Nato unter keinen Umständen in Richtung Osten auszudehnen. Somit sei nicht Russland der Hauptschuldige, sondern der Westen, der Russland zu diesem Angriffskrieg provoziert hätte. Dem wiederum könnte die Gegenseite entgegenhalten, Russland hätte im Jahre 1994 der Ukraine volle Souveränität zugesichert und damit auch das Recht, jederzeit über seine Aussen- und Sicherheitspolitik autonom entscheiden zu können. Doch auch gegen diese Feststellung gäbe es auf der anderen Seite wieder Gegenargumente und je weiter man in die Geschichte zurückgehen würde, ergäben sich immer wieder neue und andere “Beweise” dafür, wer nun der eigentliche Hauptschuldige am heutigen Krieg in der Ukraine sei.

Genau das Gleiche beim Nahostkonflikt. Konfrontiert man die israelische Regierung mit dem Vorwurf eines Völkermords an der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen, so wird dieser Vorwurf mit der Behauptung zurückgewiesen, dies alles sei nur eine legitime Reaktion auf die Terrorattacke der Hamas gegenüber israelischen Zivilpersonen am 7. Oktober 2023. Der wahre Schuldige also sei nicht Israel, sondern die Hamas. Palästinenserinnen und Palästinenser auf der anderen Seite könnten dann wiederum die jahrzehntelange Unterdrückung und Diskriminierung ihres Volkes durch Israel ins Feld führen und kämen genau zum gegenteiligen Schluss: Der wahre Schuldige sei weder die Hamas noch das palästinensische Volk, sondern einzig und allein die israelische Besatzungspolitik. Israel wiederum könnte ins Feld führen, sein Existenzrecht sei wiederholt von palästinensischer Seite in Frage gestellt worden, während dann wiederum die Gegenseite daran erinnern könnte, dass frühere Versuche einer friedlichen Lösung wiederholt an der Haltung israelischer Extremisten gescheitert seien. Auch hier: Je nachdem, an welchem Punkt der Vergangenheit man ansetzt, kann man immer wieder die eine oder dann wieder die andere Seite als die einzig und allein Schuldigen darstellen.

Das Graben in der Vergangenheit bringt uns nicht weiter. Hat die eine Seite einen Punkt erreicht, von dem aus gesehen die Schuldfrage zur Gänze klar zu sein scheint, wird die andere Seite einfach wieder ein paar Jahre weiter zurück in die Vergangenheit gehen und schon ist alles wieder auf den Kopf gestellt. Man könnte das Spiel endlos weitertreiben, bis zu Adam und Eva, und käme doch nie an ein endgültiges Ziel. Deshalb müssen wir uns von diesem Weg verabschieden.

Es braucht eine grundlegend neue Sicht. Statt in die Vergangenheit, müssen wir in die Zukunft schauen. “Mehr als die Vergangenheit”, sagte Albert Einstein, “interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.” Wenn uns das gelingt und wir, statt Schuldige für vergangenes Unrecht zu suchen, uns Lösungen für die Zukunft vorzustellen versuchen, wird alles auf einmal in einem ganz anderen Licht erscheinen. Und wir werden wieder erkennen, dass das Wesentliche nicht das ist, was uns Menschen voneinander trennt, sondern das, was uns miteinander verbindet. Und wir werden uns auf wunderbare Weise an all das wieder zu erinnern beginnen, was uns, im Augenblick unserer Geburt, miteinander verbunden hatte, als es in unseren Köpfen weder Grenzen, noch Nationen, noch irgendwelche Feindbilder, noch Zäune und Mauern gab, die uns voneinander trennten. Uns gemeinsam an diesen Traum erinnernd, werden wir lernen, uns nicht mehr gegenseitig zu hassen, zu verachten oder gar zu vernichten, sondern miteinander zu verschmelzen als Bewohnerinnen und Bewohner einer grossen gemeinsamen Erde, auf der wir alle miteinander und füreinander gemeinsam verantwortlich sind.

Territorien, Grenzen, Nationalstaaten sind nichts Gottgegebenes. Sie sind künstliche Erfindungen von Menschen in ganz bestimmten Zeitpunkten der Geschichte. „Der erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab”, schrieb der Genfer Schriftsteller und Philosoph Jean-Jacques Rousseau vor fast 300 Jahren, “und der auf den Gedanken kam zu sagen, dieses Stück Land gehöre ihm, und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Elend und Schrecken wären dem Menschengeschlecht erspart geblieben, wenn jemand diese Pfähle ausgerissen und seinen Mitmenschen zugerufen hätte, sich davor zu hüten, diesem Betrüger Glauben zu schenken und zu vergessen, dass zwar die Früchte dieser Erde allen Menschen, die Erde als Ganzes aber niemandem gehört.” Während Zehntausenden von Jahren hatten die Menschen nach anderen Prinzipien gelebt, privates Eigentum war unbekannt, alles wurde mit allen geteilt. Als die europäischen Kolonisten in die Lebensgebiete der indigenen Bevölkerung Nordamerikas eindrangen und als sie mit allen Mitteln versuchten, diese “unzivilisierten Wilden” dem “fortschrittlichen” Denken des “zivilisierten” Europa zu unterwerfen, bestand die grösste Schwierigkeit darin, diesen Menschen beizubringen, anstelle des Wortes “wir” das Wort “ich” und anstelle des Ausdrucks “es ist unseres” den Ausdruck “es ist meines” zu verwenden.

Der unvoreingenommene Blick in die Zukunft könnte uns die Augen für diese Erkenntnis öffnen. Dass es je länger je weniger darauf ankommen wird, ob ein Mensch Bürger oder Bürgerin dieses oder jenes Staates ist, auf dieser oder der anderen Seite einer Grenze oder einer Mauer lebt, sich zu dieser oder jener Nation, Landeshymne oder Landesflagge bekennt, eine “Schweizerin” oder ein “Türke” ist, ein “Chilene” oder eine “Japanerin”. Sondern dass es einzig und allein nur darauf ankommt, ob die Menschen dort, wo sie geboren wurden, in Frieden, Sicherheit und unter menschenwürdigen Verhältnissen leben können. Staatliche Grenzen, Territorien, die man für sich in Anspruch nimmt und die man, selbst durch das Opfern von Menschenleben, gegen die Ansprüche anderer zu verteidigen und zu sichern trachtet, würden mit der Zeit ebenso in Bedeutungslosigkeit versinken wie all die unsichtbaren Grenzen, welche schon heute von Störchen, Kranichen, Schwalben, Lerchen und Nachtigallen über alle Kontinente hinweg überflogen werden und von deren Verschwinden auch schon John Lennon in seinem legendären Lied “Imagine” träumte: Es gäbe keine Länder mehr, keine Religionen, kein Besitztum, nichts, wofür man sterben oder töten müsste, alle würden alles miteinander teilen und es gäbe nur noch eine einzige grosse, gemeinsame Welt. Lässt uns der Blick in die Vergangenheit verzweifeln und in den ewig gleichen Kreisen von Pessimismus und Hoffnungslosigkeit verharren, so würde dem gegenüber der Blick in die Zukunft wohl ungeahnte Energien freisetzen, um ein so in unseren Köpfen entstehendes Bild nicht nur zu erträumen, sondern auch tatsächlich in die Wirklichkeit umzusetzen. Voraussetzung dafür ist nur, dass wir, wie der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt einmal sagte, nicht aufhören dürfen, uns “die Welt so vorzustellen, wie sie am vernünftigsten wäre”.

Zurück zur Ukraine. Nichts spricht dagegen und wäre im Gegenteil sogar in höchstem Masse demokratisch, als die Bewohnerinnen und Bewohner der umkämpften Gebiete darüber abstimmen zu lassen, ob sie lieber zum einen oder zum anderen Staat gehören oder ob sie vielleicht sogar eine eigene, unabhängige Republik bilden wollen. Denn die entscheidende Frage ist nicht, ob über diesem oder jenem Dorf, über dieser oder jener Stadt, an diesem oder jenem Fluss, über diesem oder jenem Weizenfeld die ukrainische Flagge weht oder die russische. Das einzige wirklich Entscheidende ist, ob in diesem oder jenem Dorf, in dieser oder jener Stadt, an diesem oder jenem Fluss und auf diesem oder jenem Weizenfeld für die dortigen Menschen ein gutes, sorgenfreies Leben möglich ist oder nicht. Eine solche Abstimmung müsste freilich unter UNO-Aufsicht erfolgen und selbstverständlich müssten sich sowohl die Ukraine als auch Russland damit einverstanden erklären, das Resultat, wie immer es herauskäme, zu akzeptieren. Niemand könnte dabei verlieren, alle könnten nur gewinnen. Auch was Palästina betrifft, wäre es völlig zweitrangig, ob ein Einparteienstaat oder eine Zweitstaatenlösung verwirklicht würde. Das einzige wirklich Entscheidende wäre, dass beide Völker in Frieden, Gerechtigkeit und gegenseitigem Respekt leben könnten, ohne gegenseitigen Hass, ohne Diskriminierung und ohne jegliche Missachtung der elementaren Menschenrechte. Und dies, der Blick in die Zukunft statt in die Vergangenheit, hätte wohl auch für alle anderen Kriege um Grenzen, Ressourcen, Territorien und Macht, die weltweit gegenwärtig wüten, die genau gleiche Gültigkeit.

„Du hast die Wahl”, so der US-amerikanische Publizist Noam Chomsky, “du kannst sagen: Ich bin Pessimist, das wird alles nichts, ich verzichte und garantiere damit, dass das Schlimmste kommt. Oder du orientierst dich an den Hoffnungsschimmern und den vorhandenen Möglichkeiten und sagst, dass wir vielleicht eine bessere Welt errichten werden.” Worauf sollen wir noch warten?