Wann endlich gibt es eine internationale Geberkonferenz nicht nur für den Wiederaufbau der Ukraine, sondern auch für die Bekämpfung des weltweiten Hungers?

 

“So viel Leid an einem Ort habe ich noch nie erlebt”, so der schweizerische Bundespräsident und Aussenminister Ignazio Cassis nach seinem Besuch in der Ukraine am 20. Oktober 2022. Und im Interview mit dem schweizerischen “Tagblatt” vom 29. Oktober sagt er: “Der Wiederaufbau ist die grösste Hoffnung, die wir den Menschen in der Ukraine geben können, er liefert eine Perspektive. Dafür müssen wir jetzt handeln: Bis Ende Jahr sollte die Plattform definiert werden, um die unmittelbare Hilfe für diesen Winter, aber auch die Finanzierung des Wiederaufbaus zu koordinieren und in die Tat umzusetzen. Es ist eine riesige Aufgabe: Damit die ukrainischen Behörden überhaupt weiter funktionieren können, sind Milliarden pro Monat nötig.”

Wenn Ignazio Cassis noch in keinem anderen Land so viel Leid gesehen hat, dann wäre ihm dringend anzuraten, auf einer seiner nächsten Auslandsreisen den Jemen, Afghanistan, Syrien, Äthiopien oder eines der anderen 39 Länder, wo derzeit schlimmste Bürgerkriege, verheerende Dürren und Hungersnöte herrschen, zu besuchen. In Jemen sind rund 20 Millionen Menschen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen, 65 Prozent der Gesamtbevölkerung leiden an Hunger und Mangelernährung. Besonders stark betroffen sind Kinder unter fünf Jahren: Insgesamt sind rund 2,2 Millionen Kinder akut unterernährt. Darüber hinaus sind rund 1,3 Millionen schwangere und stillende Mütter unterernährt. “Immer mehr Kinder gehen im Jemen hungrig zu Bett”, sagt UNICEF-Exekutivdirektorin Catherine Russell, “dadurch besteht für sie ein erhöhtes Risiko für körperliche oder kognitive Beeinträchtigungen oder sogar den Tod.” In etlichen Städten gibt es kein sauberes Trinkwasser mehr, denn es fehlt an Treibstoff für die Pumpen. Auch die Abwassersysteme sind zusammengebrochen. 15 Millionen Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser oder einer Abwasserversorgung. Viele Krankenhäuser mussten schliessen oder wurden zerbombt. Ärztliche Hilfe ist vielerorts unerreichbar.

In Afghanistan ist rund die Hälfte der Bevölkerung von Hunger bedroht, 95 bis 97 Prozent der Bevölkerung leben in bitterer Armut, 30 Prozent der Kinder berichten, dass sie jeden Abend hungrig zu Bett gehen. In Syrien leben 90 Prozent der Bevölkerung in Armut, 12,4 Millionen Menschen sind von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen. In Äthiopien wissen 17 Millionen Menschen nicht, wann sie ihre nächste Mahlzeit haben werden, 13 Prozent der Kinder sind unterernährt, ebenso die Hälfte aller schwangeren und stillenden Frauen. Zehn Millionen Äthiopierinnen und Äthiopier haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Seit vier Jahren gab es keine Regenzeit, die Dürre hat den Menschen alles genommen, das Vieh, die Ernte, ihren Lebensunterhalt. Was trotz allem noch wächst, wird von millionenfachen Heuschreckenschwärmen weggefressen. Fast drei Millionen Menschen sind im eigenen Land auf der Flucht. Weltweit haben rund 811 Millionen Menschen nicht genug zu essen und 45 Millionen Menschen in 43 Ländern sind von Hungersnöten bedroht. Die Hauptursachen sind Bürgerkriege, fehlende Mittel für humanitäre Hilfe aufgrund von teilweise rigorosen Sparmassnahmen in den Geberländern und die Folgen des Klimawandels in Form von Dürren, Trockenzeiten, Hitze und Überschwemmungen. 

Und doch steht trotz dieser schier unbeschreiblichen Not kein einziges dieser Länder auch nur annähernd so stark im Fokus der westlichen Öffentlichkeit wie die Ukraine. Die jemenitischen, syrischen, afghanischen und äthiopischen Kinder sterben lautlos, ohne dass ihr qualvolles Sterben auch nur eine einzige Schlagzeile in einer westlichen Zeitung oder am Fernsehen zur Folge hätte, geschweige denn eine internationale Geberkonferenz auslösen würde, wie sie vom schweizerischen Bundespräsidenten zugunsten der Ukraine initiiert wurde und für den Wiederaufbau nach dem Krieg gigantische Summen in Aussicht stellt, von der die Menschen in Syrien oder dem Jemen nicht einmal zu träumen wagen.

“Solange der Krieg andauert”, so Wolodomir Selenski in den “Euronews” vom 9. Mai 2022, “braucht es monatlich eine Unterstützung von fünf bis sieben Milliarden Dollar. Später, für den Wiederaufbau, benötigen wir mehr als 600 Milliarden Dollar.” Gleichzeitig würden schon, wie eine Studie der UNO ergab, jährlich 14 Milliarden Euro zusätzlich an Geldern genügen, um den weltweiten Hunger bis 2030 wirkungsvoll eindämmen zu können.

So oft ist, im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg, von “Solidarität” die Rede. Doch wo ist unsere Solidarität mit all jenen Millionen von Menschen in Dutzenden südlichen Ländern, die unverschuldet hungern, leiden und sterben aufgrund der Folgen jahrhundertelanger, bis in die Gegenwart reichender Folgen kolonialer Ausbeutung, aufgrund des hauptsächlich von den reichen Ländern des Nordens verursachten Klimawandels und aufgrund von Bürgerkriegen, in denen sowohl wirtschaftliche Interessen der Grossmächte wie auch Waffenlieferungen aus dem Ausland eine wichtige Rolle spielen. 

Nicht nur die “Solidarität”, sondern auch die “Wertegemeinschaft” ist im Zusammenhang mit finanzieller Unterstützung für die Ukraine ein gern benützter Begriff. Doch von einer echten Wertegemeinschaft sind wir wohl noch Lichtjahre entfernt, solange Solidarität nicht gleichbedeutend ist mit weltweiter Verantwortlichkeit gegenüber jedem einzelnen Menschen auf dieser Erde über alle Grenzen hinweg. Denn ein Kind in Äthiopien hat genau das gleiche Recht auf ein menschenwürdiges Leben wie ein Kind in der Ukraine, in Russland oder in der Schweiz. Von “Wertegemeinschaft” zu sprechen und damit bloss einen Staatenbund zu meinen, der sich machtpolitisch gegenüber anderen Staaten abzugrenzen versucht, ist ein unverzeihlicher Hohn auf die Menschlichkeit.

Politiker und Politikerinnen, die in den letzten Wochen und Monate unter grossem Getöse und im grellen Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit zum ukrainischen Präsidenten Selenski gereist sind, um sich von den Kriegszerstörungen ein Bild zu machen, müssten ebenso andächtig und betroffen im Jemen oder in Afghanistan jenen Strassen entlang gehen, wo hungernde Kinder in zerlumpten Kleidern um einen Bissen Brot betteln, Bäuerinnen ihre vom Klimawandel zerstörten Getreidefelder zeigen und ihnen ein Mann von seiner Frau erzählt, die soeben verstarb, weil das nächste Krankenhaus durch einen Bombenangriff zerstört wurde.

Viel wahrscheinlich aber ist, dass keiner unserer Politiker und keine unserer Politikerinnen eine solche Reise unternehmen wird, weiterhin die Hälfte der Welt im Dunklen bleiben wird und die endlose Geschichte von Macht und Ohnmacht, Oben und Unten, Reichtum und Armut endlos weitergeht. Doch wie lange noch?