Übermässiger Reichtum, astronomische Kapitalgewinne, millionenschwere Erbschaften: Nicht nur ein Angriff auf die soziale Gerechtigkeit, sondern auch auf die Demokratie und die gesellschaftliche Teilhabe…

 

Die 30jährige österreichische Millionenerbin Marlene Engelhorn hat unlängst grosses Aufsehen erregt, weil sie ihre Erbschaft von mehreren Millionen Euro aus moralischen und sozialen Gründen nicht einfach für sich behalten, sondern in irgendeiner Form an die Gesellschaft zurückgeben möchte. Im Interview mit der “NZZ am Sonntag” vom 30. Oktober 2022 plädiert sie für eine radikale Reform des Erbrechts. Im Einzelnen fordert sie “eine umfassende Besteuerung von Überreichtum, etwa durch Steuern auf Erbschaften, Schenkungen, Vermögen und eine progressive Kapitalertragssteuer sowie eine bessere Ausstattung der Behörden, die sich um Steuerflucht und -hinterziehung kümmern.”

Zu Recht hat Marlene Engelhorn ein schlechtes Gewissen, wenn sie in den Genuss einer Erbschaft von mehreren Millionen Euro gelangen würde, für welche sie selber nie etwas geleistet hat. Ihre Forderungen nach einer umfassenden Besteuerung von Überreichtum und Erbschaften sind daher nur allzu verständlich. Doch das eigentliche Problem liegt nicht bei einem unzulänglichen Steuersystem, sondern darin, dass überhaupt so viel Reichtum geschaffen werden kann, dem keine entsprechende Leistung gegenübersteht. Wäre der Reichtum von Anfang an gerecht verteilt, dann bräuchte es auch keine steuerlichen Instrumente aller Art, um diesen Missstand im Nachhinein einigermassen auszugleichen.

An dieser Stelle müssen wir uns fragen, wie übertriebener Reichtum denn überhaupt entsteht. Erstens durch die Einkommensunterschiede in der kapitalistischen Arbeitswelt. Hohe und niedrige Löhne sind nicht so sehr Ausdruck tatsächlich erbrachter Arbeitsleistungen, sondern definieren sich aus der Position in der Hierarchie von Berufen und Unternehmungen. Die besser Verdienenden verdanken ihren höheren Lohn nicht so sehr ihrer Arbeitsleistung, als vielmehr dem Umstand, dass viele andere weniger verdienen, als ihre Arbeit eigentlich Wert wäre. Die zweite Quelle von übertriebenem Reichtum sind die Einkommen aus Kapitalbeteiligung. Auch hier sind es nicht echte Arbeitsleistungen, die Reichtum schaffen, im Gegenteil: Aktionärinnen und Aktionäre verdanken ihre Gewinne ausschliesslich der Arbeit anderer, ohne dafür einen Finger krümmen zu müssen. Wenn die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer ihre Vermögen innerhalb eines einzigen Jahres um mehr als 100 Milliarden Franken vermehren, dann ist kein Rappen davon ehrlich verdient – und dieses Reichwerden auf Kosten anderer ist in der Schweiz mittlerweile dermassen weit verbreitet, dass die Einkommen aus Kapital jene aus Arbeit bereits weit übertreffen. Die dritte Quelle für übertriebenen Reichtum sind die Erbschaften: Der in der einen Generation angehäufte Reichtum, der sozusagen “überflüssig” war und für den eigentlichen Lebensunterhalt gar nicht gebraucht wurde, wird an die nächste Generation weitergereicht, ohne dass diese hierfür eine besondere Leistung erbringen muss.

Ob Reichtum aufgrund ausbeuterischer Lohnunterschiede, aufgrund von Kapitalgewinnen oder aufgrund von Erbschaften: Stets handelt es sich auf die eine oder andere Weise um “gestohlenes” Geld, das bei den ärmeren und weniger vermögenden Bevölkerungsschichten einzig und allein aus dem Grunde fehlt, weil es bei den reicheren Bevölkerungsschichten in dermassen sündhaftem Ausmass angesammelt wird. “Wärst du nicht reich”, sagte der arme Mann zum reichen in einer Parabel des deutschen Schriftstellers Bertolt Brecht, “dann wäre ich nicht arm.” Noch deutlicher der französische Schriftsteller Honoré de Balzac: “Hinter jedem grossen Vermögen steckt ein grosses Verbrechen.” Erbschaftssteuern, Reichtumssteuern, Kapitalgewinnsteuern und dergleichen sind nicht mehr als winzige Trostpflaster, um das begangene Unrecht ein klein wenig zu minimieren: “Der Sozialstaat”, so der US-Ökonom Thomas Sowell, “ist der älteste Trickbetrug der Welt. Zuerst nimmst du den Menschen still und heimlich das Geld weg und dann gibst du ihnen einen Teil davon mit grossem Getöse wieder zurück.”

Marlene Engelhorns Bereitschaft, auf ihre Erbschaft zu verzichten, ist löblich. Auch ihren Forderungen nach einer stärkeren Besteuerung von Überreichtum und Erbschaften kann nicht widersprochen werden. Doch dies allein kann nicht genügen. Es braucht eine breite gesellschaftliche Debatte darüber, wie Reichtum und Armut entstehen und wie beides gegenseitig voneinander abhängt. Und dass man nicht die Armut wirksam bekämpfen kann, solange man nicht auch den Reichtum bekämpft. Das ist nicht nur eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, sondern vor allem auch eine Frage der Demokratie und der gesellschaftlichen Teilhabe. “Wir leben in einer Zeit”, sagt der Schriftsteller Lukas Bärfuss, “in der die wachsende Ungleichheit die Gesellschaft zerreisst.” 

“Glücklicherweise”, so beschrieb Gottfried Keller die Schweiz um 1860, “gibt es bei uns keine ungeheuer reichen Leute, der Wohlstand ist ziemlich verteilt; lass aber einmal Kerle mit vielen Millionen entstehen, und du wirst sehen, was die für einen Unfug treiben.” Manchmal kann man sich nicht ganz des Eindrucks erwehren, dass sich das Rad der Geschichte in die falsche Richtung bewegt…