Das “Bündnis Sahra Wagenknecht”: Ein Hoffnungsschimmer, der leider schon bald wieder verglühen könnte

“Es ist ein bisschen auch ein historischer Tag”, sagte Sahra Wagenknecht am 8. Januar 2024 anlässlich der Gründung ihrer neuen Partei, welche nun offiziell den Namen “Bündnis Sahra Wagenknecht – für Vernunft und Gerechtigkeit” trägt. “Damit”, so Wagenknecht, “legen wir den Grundstein für eine Partei, die das Potenzial hat, das bundesdeutsche Parteienspektrum grundlegend zu verändern und vor allem die Politik in unserem Land grundsätzlich zu verändern”. 

Tönt ja eigentlich ganz gut. Doch schaut man sich das Ganze etwas genauer an, tauchen unweigerlich erhebliche Zweifel auf, ob das mit der “grundsätzlichen Veränderung” deutscher Bundespolitik auch tatsächlich klappen könnte. Zu Recht spricht der “Deutschlandfunk” von einem “vagen Parteiprogramm”. Tatsächlich steht da nichts wirklich Neues drin. Eher ist es ein Abklatsch bereits bestehender Parteiprogramme, aus denen das herausgepickt wurde, was zurzeit gerade möglichst viele Stimmen potenzieller Wählerinnen und Wähler mobilisieren könnte. So etwa könnte die Forderung nach “sozialer Gerechtigkeit” auch im Programm der Linken oder der SPD stehen. Die Forderung nach einer Zuwanderungspolitik, welche “auf eine Grössenordnung begrenzt bleiben muss, die unser Land und unsere Infrastrukturen nicht überfordert”, würde man, ähnlich lautend, auch im Programm der AfD finden. Die Forderung nach einer Energiepolitik, die “sich nicht allein auf erneuerbare Energiequellen beschränkt”, scheint fast wörtlich aus den Parteiprogrammen der CDU oder der FDP zu stammen. Und die Forderung nach einer Politik, die sich nicht bloss auf die “Interessen skurriler Minderheiten” fokussiert, erinnert stark an die Brandreden von CSU-Chef Markus Söder. Am unkonventionellsten tönen noch die Passagen zum Thema Friedenspolitik, wo es unter anderem heisst, Konflikte seien grundsätzlich nicht durch “militärische Mittel zu lösen”, die Bundeswehr müsste sich auf die “direkte Landesverteidigung beschränken” und “keine Auslandeinsätze leisten”, aber auch das geht nicht über das hinaus, was vor vielen Jahren bereits im Parteiprogramm der Grünen stand. Wohl nicht zu Unrecht bezeichnet die Politikwissenschaftlerin Andrea Römmerle Wagenknechts Parteiprogramm deshalb als “Blumenstrauss, der von links bis rechts reicht.”

Schade. Von einer neuen Partei, welche die Politik “grundsätzlich verändern” möchte, hätte ich mehr erwartet. Vor allem zuallererst eine möglichst umfassende und unvoreingenommene Analyse des bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Eine solche Analyse, die sich über eine blosse Symptombekämpfung aktueller sozialer, gesellschaftlicher, ökonomischer und ökologischer Missstände und Fehlentwicklungen hinausbewegt hätte, wäre nämlich unweigerlich zum Schluss gekommen, dass letztlich der Kapitalismus mit seinen heiligen Dogmen der endlosen Profitmaximierung, der institutionalisierten Umverteilung allen Reichtums von der Arbeit zum Kapital, der systematischen Ausbeutung von Mensch und Natur zugunsten multinationaler Konzerngewinne und des irrwitzigen Glaubens an ein uneingeschränktes Wirtschaftswachstum die eigentliche Grundursache allen Übels ist. Und dass eine wirklich “neue Politik” nur eine Politik sein kann, die sich auf die radikale Überwindung des Kapitalismus und den Aufbau eines von Grund auf neuen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems ausrichten müsste, in dem nicht mehr die Profitinteressen der Reichen und Mächtigen an oberster Stelle stehen, sondern die elementaren Lebensbedürfnisse der Menschen und der Natur über alle Grenzen hinweg.

So wie der Kapitalismus ein globales Macht- und Ausbeutungssystem bildet, dem nationale Grenzen so ziemlich gleichgültig sind, genau so müsste auch eine neue politische Bewegung, die daran wirklich grundlegend etwas verändern möchte, ebenfalls global organisiert und vernetzt sein. Die Gründung einer nationalen politischen Partei – und in diesem Punkt unterscheidet sich das Bündnis Sahra Wagenknecht nicht grundsätzlich von allen anderen politischen Parteien Deutschlands – ist eigentlich schon ein Grundbekenntnis zum herrschenden kapitalistischen Machtsystem. Das zeigt sich nicht zuletzt auch dadurch, dass die Wagenknecht-Partei gleichzeitig “soziale Gerechtigkeit” und eine restriktive Asylpolitik fordert, mit anderen Worten: soziale Gerechtigkeit in erster Linie für die deutsche Bevölkerung, nicht aber für all jene, die vom europäischen Wohlstandskuchen, der zu einem überwiegenden Teil aus der kolonialen und nachkolonialen Ausbeutung des globalen Südens gebacken wurde, ausgeschlossen sind. Das heisst nicht, dass eine politische Partei, die eine konsequente kapitalismuskritische Haltung verfolgen würde, die schrankenlose Aufnahme sämtlicher Asylsuchender propagieren müsste, aber sie müsste im Zusammenhang mit Asyl- und Migrationsfragen stets auf die globalen Zusammenhänge und Ursachen der Problematik hinweisen und in aller Beharrlichkeit auf eine Überwindung sämtlicher Ausbeutungsverhältnisse hinarbeiten, nicht nur im eigenen Land, sondern auch weltweit. Das schliesst nicht die Bildung einzelner nationaler politischer Parteien aus, aber diese machen, im Hinblick auf eine längerfristige Überwindung des Kapitalismus, nur dann Sinn, wenn sie gleichzeitig und parallel dazu in ein global agierendes Netz solidarischer Kräfte, Bewegungen, Parteien und Gruppierungen eingebunden sind. Denn, wie schon der schweizerische Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt sagte: “Was alle angeht, können nur alle lösen.”

Es sieht ganz so aus, als hätte sich auch das Bündnis Sahra Wagenknecht – anstelle eines kohärenten, in sich schlüssigen und konsequenten Grundsatzprogramms – vor allem dem Ziel verschrieben, bei kommenden Wahlen möglichst viele Stimmen zu gewinnen, um eine möglichst “starke politische Kraft” zu werden. Dies schafft man freilich am einfachsten dadurch, dass man sich an allen Ecken und Enden von links bis rechts möglichst viele Menschen abholt, die von den von ihnen bisher bevorzugten Parteien so sehr enttäuscht sind, dass sie alle ihre Hoffnungen noch so gerne auf eine neue, unverbrauchte politische Kraft setzen. Nur leider wird dadurch das gleiche Spiel bloss weitergehen. Denn auch ein Bündnis Sahra Wagenknecht wird – so lange das herrschende kapitalistische Macht- und Ausbeutungssystem nicht grundsätzlich überwunden wird – selbst die allerschönsten Versprechen nicht einhalten und auch die grössten Hoffnungen auf bessere Zeiten nicht erfüllen können und somit auch ihre eigenen neuen Wählerinnen und Wähler früher oder später masslos enttäuschen müssen.

Es sei denn, es gelänge Sahra Wagenknecht und ihrer Partei rechtzeitig, tatsächlich eine grundsätzlich “neue Politik” zu kreieren, die nichts mehr zu tun hat mit jener “Scheindemokratie”, die zurzeit nur noch einer möglichst “legitimen” Aufrechterhaltung der kapitalistischen Machtverhältnisse dient. Hierzu bedarf es auch einer radikal neuen Sprache und eines radikal neuen Denkens. Denn, wie schon Albert Einstein sagte: “Probleme lassen sich nie mit der gleichen Denkweise lösen, durch welche sie entstanden sind.”

Die Chance für eine wirkliche Zeitenwende sind vielleicht grösser, als uns dies zumeist bewusst ist. So haben bereits im Jahre 2020 – die Zahlen würden heute vermutlich noch um einiges höher liegen – im Rahmen einer Befragung durch die Kommunikationsagentur Edelman nur 12 Prozent der Deutschen die Aussage, das gegenwärtige “System” arbeite für sie, bejaht. 55 Prozent der Befragten sagten, dass der Kapitalismus in seiner heutigen Form “mehr schadet als nützt.” Damit lag Deutschland fast im globalen Mittel, welches bei 56 Prozent lag. 2024 soll, wie unlängst berichtet wurde, das Jahr sein, in dem es weltweit mehr demokratische Abstimmungen und Wahlen geben wird als je zuvor. Weshalb findet nicht endlich eine weltweite Abstimmung darüber statt, ob der Kapitalismus in seiner heutigen globalen Form weitergeführt werden soll oder nicht? Viel Aufklärungsarbeit müsste vermutlich noch geleistet werden, aber wenn das Bündnis Sahra Wagenknecht hierzu einen Beitrag leisten könnte, dann, aber nur dann, hätte sich die Gründung dieser neuen Partei mehr als gelohnt.