Schweizerische Bundesratswahlen am 13. Dezember 2023: Demokratie und Kapitalismus

Es ist vollbracht, der wochenlange, oft zermürbende Wahlkampf überstanden. Beat Jans, frischgewählter Schweizer Bundesrat, strahlt wie ein Maikäfer übers ganze Gesicht. Und als er während seiner Antrittsrede seine Frau und seine beiden Töchter auf der Empore erblickt, wie sie ihm begeistert zuwinken, brechen sich vollends sämtliche noch unterdrückten Emotionen ihre Bahn: Tränen kullern über sein Gesicht. Und er ist nicht der Einzige: Da und dort wird in der Schar der Anwesenden ein Taschentuch sichtbar, verstohlen werden Tränen der Freude und der Rührung weggewischt. Kurz nach 12 Uhr beginnen im Basler Rathaus die Glocken zu läuten. “Fünfzehn Minuten lang läuten sie”, wird der “Tagesanzeiger” einen Tag später schreiben, “die Menschen in der Stadt sollen wissen, dass in diesem Moment etwas ganz Spezielles geschehen ist.” Fast so etwas wie ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk, so wunderbar passend zur prächtigen Glitzerdekoration und den in allen Farben leuchtenden Kugeln im Bundeshaus in Bern. Am Ende nicht bloss der Sieg des Kandidaten, der am meisten Stimmen erhalten hat, sondern vor allem auch ein Sieg gutschweizerischer Demokratietradition, der Gipfelpunkt eines schon fast heiligen Rituals, mit dem sich die Schweiz nun schon seit über 175 Jahren so glorreich feiert. Doch das ist nur die eine Hälfte der Wirklichkeit.

Die andere Hälfte der Wirklichkeit, das ist: Dass, gemäss neuesten Zahlen der Caritas, rund 1,2 Millionen Menschen in der Schweiz von Armut betroffen sind, mehr denn je zuvor. Dass rund 160’000 Menschen in diesem Land trotz voller Erwerbstätigkeit nicht genug verdienen, um den Lebensunterhalt ihrer Familien bestreiten zu können, und dies, obwohl seit 175 Jahren in der schweizerischen Bundesverfassung schwarz auf weiss geschrieben steht, dass volle Erwerbstätigkeit für den Lebensunterhalt einer Familie ausreichen muss. Dass sich gleichzeitig in den Händen der 300 Reichsten des Landes bereits rund 800 Milliarden Franken angesammelt haben, eine Summe, die der gesamten schweizerischen Wirtschaftsleistung eines ganzen Jahres entspricht und nur wenig unter dem jährlichen Militärhaushalt der USA liegt, der mit Abstand grössten Militärmacht der Welt. Dass die Kluft in Bezug auf die Vermögensverteilung nur in weltweit zwei Ländern, nämlich Singapur und Namibia, noch grösser ist als in der Schweiz. Dass es in diesem Land Unternehmen gibt, in denen die Bestverdienenden einen 300 Mal höheren Lohn erhalten als die am schlechtesten Verdienenden. Dass der Lohn einzelner Topmanager um bis zu 10’000 Franken pro Stunde beträgt, während gleichzeitig bis heute die schweizweite Durchsetzung von gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlöhnen im Bereich von 20 bis 23 Franken stets von neuem an ihrer politischen Umsetzbarkeit gescheitert ist. Dass sich im gleichen Land eine grosse Anzahl von Menschen immer kostspieligere Luxusvergnügen leisten können, während andere selbst auf einen Kinobesuch, Ferienreisen oder eine dringend notwendige Zahnoperation verzichten müssen und man somit ohne jegliche Übertreibung von der immer krasseren Herausbildung einer “sozialen Apartheid” sprechen muss, von wachsenden Mauern zwischen den Zonen des Luxus und den Zonen der Armut, Mauern, an denen, unsichtbar, aber umso unerbittlicher, an allen Ecken und Enden Schilder hängen, auf denen geschrieben steht: Nur für Reiche! Dass die Auspressung menschlicher Arbeitskraft und der psychische Druck in der Arbeitswelt und in den Schulen stetig zunimmt und sich anlässlich einer kürzlich durchgeführten Befragung von 14Jährigen im Kanton Zürich gezeigt hat, dass sich rund die Hälfte der Mädchen – bei den Knaben liegen die Zahlen etwas tiefer – permanent gestresst fühlen, über ständige Bauch-, Kopf- und Rückenschmerzen klagen und sich die Anzahl von Suizidversuchen in dieser Altersgruppe nur allein schon in den vergangenen fünf Jahren drastisch erhöht hat. Dass die Schweiz als eines der reichsten Länder der Welt eine im Vergleich mit den meisten anderen Ländern weit höhere Mitschuld trägt an der Klimaerwärmung mit ihren unabsehbaren Folgen, die sich heute vor allem in den ärmeren Ländern zeigen, längerfristig aber die Lebensgrundlagen sämtlicher zukünftiger Generationen existenziell zu gefährden drohen. Dass die Schweiz immer noch zu jenen Ländern gehört, die sich auf Kosten anderer massiv bereichern und beispielsweise im Handel mit Entwicklungsländern einen 50 Mal höheren Profit erwirtschaftet, als sie diesen Ländern in Form von Entwicklungshilfe wieder zurückgibt.

Was für eine Diskrepanz. Was für eine unvorstellbare Kluft zwischen der einen und der anderen Wirklichkeit. Unwillkürlich sehe ich das Bild eines Monsters vor mir, eingepackt in ein wunderschönes, glitzerndes Geschenkpapier. Das Monster, die eine Seite der Wirklichkeit, ist das kapitalistische, unersättlich auf Profitmaximierung, Wachstum und Ausbeutung von Mensch und Natur ausgerichtete Wirtschaftssystem. Das Geschenkpapier, die andere Seite der Wirklichkeit, das ist das, was wir “Demokratie” nennen, das, was an diesem 13. Dezember 2023 wieder einmal so glorreich gefeiert wurde, das, was uns glauben macht, es sei alles gut, das, was den Blick versperrt auf all das, was sich im Inneren des Geschenks verbirgt, das, was in allen Herzen und Träumen so wundervolle Gefühle weckt und uns in der Illusion wiegt, dieses kapitalistische System, in dem wir leben, sei die einzige, beste und durch nichts zu ersetzende Art und Weise, wie Zusammenleben, Wirtschaft und Handel sinnvoll organisiert werden können. Und obwohl das Geschenkpapier unvergleichlich viel dünner ist als sein Inhalt, beherrscht es doch nach wie vor das allgemein vorherrschende Bild in der Öffentlichkeit. Es ist die Welt der Privilegierten, derer, die sich permanent selber feiern, derer, die es geschafft haben, die an der Spitze der Gesellschaftspyramide angelangt sind und denen alle anderen, die es noch nicht geschafft haben, unter der Aufbietung aller ihrer Kräfte nacheifern, um es irgendwann dann vielleicht auch noch so weit zu bringen. All die anderen, die schon längst aufgegeben haben, sieht man nicht. Im Gegensatz zu den Freudestränen all jener, die an diesem 13. Dezember gefeiert haben, bleiben die Tränen jener, die unter viel zu grosser Arbeitslast leiden, auf viel zu vieles, was für andere selbstverständlich ist, verzichten müssen und aus lauter Angst vor der Zukunft kaum schlafen können, in der öffentlichen Wahrnehmung unsichtbar. Denn es ist eben immer noch so, wie schon Bertolt Brecht sagte: “Die im Lichte sieht man, die im Dunklen sieht man nicht.”

Der Kapitalismus und die Demokratie. Allgemein herrscht die Vorstellung vor, beides gehöre untrennbar zusammen. Tatsächlich aber ist es eine sehr einseitige Beziehung. Kapitalismus und Demokratie sind sich wesensmässig zutiefst fremd. Im Grunde benützt der Kapitalismus die Demokratie bloss dazu, um sein Unwesen sozusagen “legitim”, “demokratisch” abgesichert, betreiben zu können. Er braucht das Geschenkpapier, damit man den Inhalt nicht sehen kann. Würden wir nämlich das Geschenk auspacken und sehen, dass dort drinnen jeden Tag weltweit rund 10’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben, und würden wir weiter sehen, dass wir Menschen des reichen Nordens, die sich den Luxus leisten können, einen Drittel aller gekauften Lebensmittel ungebraucht im Müll landen zu lassen, an dem Tod dieser Kinder dadurch mitschuldig sind, dass wir dieses kapitalistische Wirtschaftssystem nicht schon längst abgeschafft haben, und wenn wir dann noch all die anderen Verbrechen zu Gesicht bekämen, die weltweit jeden Tag durch Profitmaximierung, Wachstumswahn und Ausbeutung an den Menschen und an der Natur begangen werden, würden wir dies schlicht und einfach nicht aushalten. Der Kapitalismus ist existenziell auf das Geschenkpapier angewiesen, damit sein tatsächliches Wesen, damit das Monster nicht sichtbar zu werden vermag.

Aber nicht nur das. Indem der Kapitalismus die Demokratie missbraucht, um sein Unwesen zu verbergen, zerstört er zugleich diese Demokratie. Denn eine Gesellschaft, in der die Unterschiede zwischen Arm und Reich immer grösser werden und ein immer grösserer Teil der Bevölkerung ausgegrenzt, entmündigt und seiner grundlegenden Menschenrechte beraubt wird, entfernt sich immer weiter von einer wahren Demokratie gleichberechtigter, gleichermassen partizipierender Bürgerinnen und Bürger und verwandelt sich zunehmend in eine neue Form von Diktatur, einer Diktatur der Reichen gegen die Armen, der Profitierenden gegen die Ausgebeuteten, der Privilegierten gegen die Unterprivilegierten, einer Diktatur des Geldes, das jenen, die es besitzen, unvergleichlich viel mehr Macht beschert als jenen, denen es auf die eine oder andere Weise kapitalistischer Aneignung gestohlen wurde. Es gibt keine echte Demokratie ohne soziale Gerechtigkeit, und der Kapitalismus ist der natürliche Feind der sozialen Gerechtigkeit, indem die individuelle Anhäufung von Reichtum und der Konkurrenzkampf aller gegen alle seine eigentlichen heiligen Dogmen bilden.

Vielleicht kam das Feiern doch noch etwas zu früh. Vielleicht müssten wir ehrlicherweise damit noch warten, bis das Geschenkpapier doch noch eines Tages aufgerissen wird und der wahre Inhalt zum Vorschein kommt, um ein neues Zeitalter einzuläuten, in dem die uralte Sehnsucht der Menschheit nach sozialer Gerechtigkeit, gemeinsamem Wohlergeben, Fürsorglichkeit und einem Ende jeglicher Ausbeutung und Bereicherung auf Kosten anderer endlich Wirklichkeit werden kann. Damit dann die Kirchenglocken vielleicht sogar noch um einiges länger als 15 Minuten läuten werden und in allen Zeitungen zu lesen sein wird, alle Menschen müssten es wissen, dass “in diesem Moment etwas ganz Spezielles geschehen ist.”