Von der deutschen Ampel über Georgia Meloni bis zu Biden und Trump: Die Regierungen kommen und gehen, doch der Kapitalismus bleibt

 

In der Schweiz stehen Ersatzwahlen in den Bundesrat an und kürzlich wurden die aktuellsten Meinungsumfragen für die kommenden Parlamentswahlen publik. In Deutschland steht die derzeitige “Ampelkoalition” in der Kritik, weil zahlreiche Wahlversprechen längst noch nicht eingelöst worden sind. In Italien steht mit der Postfaschistin Georgia Meloni zum ersten Mal eine Frau an der Spitze der Regierungsmacht. In Schweden regiert zukünftig eine Koalition von Christdemokraten, Liberalen und sogenannten “Moderaten”. In Grossbritannien ist nach nur 45 Tagen Amtszeit die Premierministerin Liz Truss zurückgetreten. In Israel konnte der Ex-Premier Netanjahu die Parlamentswahlen klar für sich entscheiden. In den USA stehen Demokraten und Republikaner für die Wahlen ins Repräsentantenhaus und in den Senat in den Startlöchern. Und in Brasilien hat Lula da Silva dank einer hauchdünnen Mehrheit die Präsidentschaftswahlen für sich entscheiden können.

Demokratie, wie sie leibt und lebt. Die schlechteste aller Staatsformen, wie Winston Churchill einmal scherzend meinte, aber immer noch besser als alle anderen. Und der deutsche Schriftsteller Heinrich Mann schrieb: “Demokratie ist im Grunde die Anerkennung, dass wir, sozial genommen, alle füreinander verantwortlich sind.” Schön und gut, und doch entbindet uns dies alles nicht davon, auf diese “am wenigsten schlechte” aller möglicher Staatsformen immer wieder einen kritischen Blick zu werfen und sie an den Resultaten zu messen, die sie tatsächlich hervorbringt.

Fragen wir nach der Effizienz der traditionellen, von unterschiedlichen Parteien und politischen Strömungen getragenen Demokratie westlicher Länder, so fällt sogleich ein eklatanter Widerspruch auf zwischen den jeweiligen Wahlversprechungen der einzelnen Parteien, Regierungskandidatinnen und Regierungskandidaten auf der einen Seite und dem, was sie dann, wenn sie erst einmal an der Macht sind, auch tatsächlich umsetzen und erreichen. So etwa gibt es wohl kaum ernsthafte Politikerinnen und Politiker, die ihren Wählerinnen und Wählern nicht alles Blaue vom Himmel herunter versprechen, von sozialer Gerechtigkeit und mehr Umweltschutz über faire Löhne, günstige Wohnungen, gerechte Bildungschancen bis zum Kampf gegen Korruption, Wohlstand und ganz allgemein einem guten Leben für alle. Doch schauen wir uns die Realität an, so scheinen die meisten der schönen Worte, sind erst einmal die Wahlen vorüber, schnell wieder in Vergessenheit geraten.

Die Erklärung ist einfach. Die tatsächlich entscheidende Macht ist eben sehr ungleich verteilt. Man bildet sich zwar ein, Politikerinnen und Politiker, Staatspräsidentinnen und Staatspräsidenten würden ihre Länder regieren. Tatsächlich aber ist es das kapitalistische Wirtschaftssystem, die Banken und die Konzerne, das Geld, welche den Takt vorgeben, nach dem sich alles auszurichten hat, jene heimliche Macht, die hinter und in allem steckt und unser Leben weit mehr bestimmt als jedes noch so schöne und wohlklingende Programm einer politischen Partei.

So etwa werden in allen kapitalistischen Ländern – egal, welche Partei gerade an der Macht gewesen ist oder sich gegenwärtig noch an der Macht befindet – die Unterschiede zwischen Arm und Reich immer grösser, selbst in so wohlhabenden Ländern wie der Schweiz sind mehr als ein Zehntel der Bevölkerung von Armut betroffen, während sich beispielweise nur schon die Vermögen der 300 Reichsten von Jahr zu Jahr um über 100 Milliarden Franken vermehren. Ebenso eklatant sind die Unterschiede zwischen tiefsten und höchsten Einkommen, die, wenn wir wiederum die Schweiz als Beispiel nehmen, in einem Verhältnis von 1 zu 300 stehen. Die Folge ist eine Klassengesellschaft, in der immer grössere Teile der Bevölkerung an den Rand gedrängt werden und von einer “Demokratie”, von der sie selber rein gar nichts profitieren, innerlich Abschied nehmen. Immer schmerzlicher auch, wie im gegenseitigen Wettbewerb und Verdrängungskampf zwischen den einzelnen Unternehmen wie auch zwischen ganzen Volkswirtschaften der Druck auf die Arbeiterinnen und Arbeiter, in möglichst kurzer Zeit eine möglichst grosse Leistung zu vollbringen, kontinuierlich zunimmt, mit verheerenden Folgen für die Gesundheit der Menschen. Auch schwebt die drohende Arbeitslosigkeit wie ein Damoklesschwert über den Menschen und treibt sie dazu, auch geradezu unmenschliche Arbeitsbedingungen in Kauf zu nehmen. Produzieren und herausquetschen auf Teufel komm unter einem stets sich selber überbietenden Wachstumszwang hat auch zur Folge, dass die Warenberge immer höher anwachsen, wobei die Güter nicht zu denen fliessen, die sie am dringendsten bräuchten, sondern zu denen, die am meisten Geld haben, um sie kaufen zu können. Das heilige Prinzip des Kapitalismus, möglichst viel Arbeit und möglichst viele Rohstoffe in möglichst kurzer Zeit in möglichst viel Geld zu verwandeln, hat in letzter Konsequenz auch die Zerstörung der Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen zur Folge.

So sehr alle diese von der kapitalistischen Wirtschaftsmacht verursachten und weiter vorangetriebenen Entwicklungen die Menschen immer stärker belasten und früher oder später sogar das Überleben der Menschheit auf diesem Planeten in Frage stellen könnten, so wenig vermag die traditionelle Partei- und Regierungspolitik der kapitalistischen “Demokratien” daran grundlegend und wirkungsvoll etwas zu ändern. Anders gesagt: So lange sich “Demokratie” bloss innerhalb des vom Kapitalismus vorgegebenen Rahmens bewegt und diesen nicht grundlegend in Frage stellt, müssten wir eigentlich von einer “Scheindemokratie” sprechen. Zwar gaukeln uns die “demokratischen” Parteien eine scheinbare Vielfalt vor, tatsächlich aber sind sie bloss einzelne Fraktionen einer grossen kapitalistischen Einheitspartei, zu der es weit und breit keine radikale Alternative gibt. Mit ihrem Fokus auf das “Tagesgeschäft” lenken Parteien und Regierungen von den tatsächlichen, grossen, wichtigen und letztlich lebensbedrohenden Probleme ab, werden zu reinen Handlangern des Kapitals, liefern sich bloss gegenseitige Scheingefechte und fressen die Energie und die Phantasie, die wir dringendst bräuchten, um den Kapitalismus nicht bloss ein wenig zu reformieren, sondern radikal zu überwinden. Mit anderen Worten: Regierungen kommen und gehen, aber der Kapitalismus bleibt.

Damit plädiere ich nicht für die Einführung einer Diktatur. Ganz im Gegenteil: Die “schlechteste” aller Staatsformen, die immer noch besser ist als alle anderen, muss mutig vorangetrieben werden. Sie darf keine Tabus kennen, auch nicht und ganz besonders nicht den Kapitalismus als die ganze, grosse, übermächtige “Religion” unserer Zeit. “Eine Demokratie”, sagte der ehemalige deutsche Bundespräsident Walter Scheel, “ist immer auf dem Weg zu sich selbst, sie ist nie fertig.” Dies bedeutet auch einen anderen Umgang mit Mehrheiten und Minderheiten. Die traditionelle “Mehrheitsdemokratie” geht davon aus, dass stets die Mehrheit Recht hat, auch wenn sie bloss 50,1 Prozent der Wahl- oder Stimmbevölkerung erreicht hat. “Der Fortschritt aber”, so der britische Schriftsteller Gilgert Chesterton, “zeigt, dass vielmehr die Minderheit immer Recht hat.” In den Minderheiten, die noch nicht mehrheitsfähig sind, schlummern die besten Ideen, die noch unverbrauchte Phantasie und das kritische Denken, die Welt könnte auch von Grund auf ganz anders sein als so, wie ist – eigentlich dieses unermessliche Potenzial, das Kinder und Jugendliche, die noch nicht gänzlich von der Erwachsenenwelt vereinnahmt sind, stets von Neuem von einer schöneren, friedlicheren und gerechteren Welt träumen lässt. 

Bis zu jener Demokratie, die sich nicht auf das gegenseitige Wetteifern um Prozentpunkte in Wahlen und Abstimmungen beschränkt, sondern zur tatsächlichen Lösung unserer existenziellen Gegenwarts- und Zukunftsfragen aufbricht, ist wohl noch ein weiter Weg. Wahrscheinlich könnten uns all jene, die mit der heutigen Politik voller Oberflächlichkeit und Selbstdarstellung am wenigsten am Hut haben, am besten helfen, diesen Weg zu finden. Denn, wie schon Mahatma Gandhi sagte: “Die Demokratie muss den Schwächsten die gleichen Chancen zusichern wie den Stärksten.” Die Schwächsten, das sind nicht nur die Bedürftigen und all jene, die für wenig Lohn schwerste Arbeit verrichten müssen, es sind auch die Kinder und die Jugendlichen, es sind auch die Menschen im Süden, auf deren Kosten die nördlichen Länder ihren Reichtum aufgebaut haben, es ist auch die Natur, es sind auch die Tiere in den Schlachthöfen, es sind all die Menschen, die noch nicht einmal geboren sind und deren Lebensgrundlagen wir heute so blindlings zerstören. Und deshalb lässt sich der Kapitalismus als Herrschaftsform der Reichen gegen die Armen, der Starken gegen die Schwächen nicht mit einer echten Demokratie gleicher Rechte für alle vereinbaren. Nur eine Überwindung des Kapitalismus kann den Weg freimachen für eine echte Demokratie anstelle der heutigen Scheindemokratie…