Von einer “Informationssendung” am Schweizer Fernsehen, dem Zementieren bestehender Feindbilder und der Frage, wie professioneller Journalismus aussehen müsste

“Rundschau” vom 6. Dezember 2023 am Schweizer Fernsehen SRF1 zum Thema “Asylsuchende auf Diebestour”. Zwar hält die Moderatorin eingangs fest, dass sich “die ganz grosse Mehrheit der Asylsuchenden nichts zu Schulden kommen lässt”, aber der Rest der Sendung scheint voll und ganz darauf ausgerichtet zu sein, das Gegenteil zu beweisen. Zu sehen sind haufenweise Männer mit schwarzen Kapuzen, dunkle Szenen an Bahnhöfen und in Tiefgaragen, entrüstete Bewohner von Einfamilienhäusern, denen ein E-Bike gestohlen oder das Auto aufgebrochen wurde, die Aussage eines weiteren Betroffenen, man müsse “alles abschliessen” und alles, was einem gehöre, sei “nicht mehr sicher”, ein Gemeindepräsident, der darüber berichtet, dass in seiner Gemeinde schon von der Bildung einer “Bürgerwehr” die Rede gewesen sei, Interviews mit Polizistinnen, die von “deliktbelasteten Regionen” und “veritablen Diebestouren” sprechen und davon, dass es sich bei den Tätern fast ausschliesslich um “junge Männer aus Algerien, Marokko und Tunesien” handle. Da kann dann zwar Christine Schraner, die Vorsteherin des Staatssekretariats für Migration, in einem kurzen Interview schon sagen, dass bloss zwei Prozent aller Asylsuchenden Delikte begingen – am Gesamtbild, das sich mittlerweile in den Köpfen des TV-Publikums festgezimmert hat, wird dies kaum mehr etwas ändern, die wenigen Sekunden, in denen die Moderatorin zu Beginn der Sendung und die Migrationsfachfrau im kurzen Interview das Ausmass des Gezeigten deutlich relativiert hatten, werden gegen die zwanzigminütige Flut an angsteinflössenden Bildern kaum etwas auszurichten vermögen. Zumal Bilder ohnehin die viel stärkere und nachhaltigere Wirkung ausüben als noch so fundierte, auf Tatsachen beruhende Worte.

Ich bin mir fast ganz sicher, dass bei den allermeisten, welche sich diese Sendung angeschaut haben, dieses Bild zurückbleiben wird: Da gibt es “böse” Menschen, Menschen aus dem “Maghreb” – ein im Verlaufe der Sendung dutzendfach in Verbindung mit den gezeigten Delikten wiederholter Begriff -, Menschen aus Algerien, Marokko und Tunesien also, “böse” Menschen, die, obwohl sie hier nichts zu suchen haben, unrechtmässig in “unser” Land eingedrungen sind und uns, den “guten” Menschen, auf ganz skrupellose, unverschämte, verbrecherische Art Dinge wegzunehmen versuchen, die wir uns mit redlicher Arbeit verdient haben. Ganz so, als wäre dieser “Maghreb” so etwas wie ein “Reich des Bösen”, im Gegensatz zur Schweiz, die dann in diesem Bild das “Reich des Guten” verkörpern würde, als wären das von Grund auf andere Wesen als du und ich – latenter Rassismus in Reinkultur, denn, wie es einer der interviewten Asylsuchenden so treffend auf den Punkt brachte: “Es gibt überall gute und schlechte Menschen.”

Was war das Ziel dieser “Informationssendung” am öffentlich-rechtlichen Fernsehen SRF? Mehr als das Zementieren bereits bestehender Vorurteile und Schuldzuweisungen kann ich nicht erkennen. Das Verhältnis zwischen fünf Sekunden “Aufklärung” und zwanzig Minuten angsteinflössenden Bildern war schlicht und einfach unglaublich viel zu krass. Das pure Gegenteil von seriösem Journalismus. Wäre es nicht die Aufgabe einer Informationssendung mit so grosser Reichweite und meinungsbildender Wirkung, hinter die Oberfläche der Dinge zu schauen, Hintergründe und Zusammenhänge aufzudecken, die nicht unbedingt schon im öffentlichen Bewusstsein bekannt sind? Einer der befragten Asylsuchenden sagte: “Ich bin kein Krimineller. Ich bin nur gekommen, weil ich ein schöneres und besseres Leben haben möchte.” Das wäre doch ein Ansatz gewesen, um in die Tiefe zu schauen und zum Beispiel folgenden Fragen auf den Grund zu gehen: Weshalb ist das Leben in der Schweiz so viel schöner als im Maghreb? Würden wir Schweizer, wenn es umgekehrt wäre, möglicherweise nicht auch versuchen, in ein “schöneres” und “reicheres” Land aufzubrechen, so wie das zum Beispiel im 19. Jahrhundert der Fall war, als zahllose von Armut betroffene Familien aus der Schweiz nach Amerika auswanderten? Was haben die Menschen auf dem Weg aus dem Maghreb bis in die Schweiz durchgemacht, weshalb haben sie das alles auf sich genommen, was hat ihnen die Kraft gegeben, ihre eigene Familie zu verlassen und so grosse Opfer zu bringen? Hat die Armut in Marokko, Algerien und Tunesien möglicherweise einen Zusammenhang mit dem Reichtum in Europa? Können 500 Jahre kolonialer Ausbeutung einfach ausgeblendet werden oder würde uns historisches Wissen möglicherweise helfen, die Gegenwart besser zu verstehen? Kann man über Tatsachen wie jener, dass die Schweiz im Handel mit Entwicklungsländern einen 50 Mal höheren Profit erwirtschaftet, als sie diesen Ländern dann in Form von “Entwicklungshilfe” wieder zurückgibt, einfach hinwegsehen? Wem gehört was? Wer hat wen bestohlen? Ist das geklaute Schweizer E-Bike möglicherweise ein viel weniger schwer wiegendes Diebesgut als die über Jahrhunderte aus Afrika zu billigsten Preisen importierten Rohstoffe und Nahrungsmittel, die sich nach und nach in das Gold des reichen Nordens verwandelten? Wer leidet darunter und wer profitiert davon? Könnte es sein, dass die Asylsuchenden aus dem Süden und die Menschen im reichen Norden, die von ihnen beklaut werden und sich von ihnen bedroht fühlen, gleichermassen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmass, Opfer des gleichen kapitalistischen Wirtschaftssystems sind, das nach wie vor auf endlose Profitmaximierung und unbegrenztes Wachstum ausgerichtetes ist und eine immer tiefere Kluft zwischen reichen und armen Menschen, reichen und armen Ländern schafft? Würde man, anstelle oberflächlicher gegenseitiger Schuldzuweisungen, solchen und ähnlichen Fragen auf den Grund gehen, dann wäre dies möglicherweise, im Gegensatz zu reiner Symptombekämpfung, ein wesentlicher Schritt hin zur Bekämpfung der eigentlichen Ursachen all jener Probleme, die uns heute das Leben so schwer machen, nicht nur den Menschen im einen oder anderen Land, sondern den Menschen über alle Grenzen hinweg.

Ich freue mich auf eine Informationssendung am Schweizer Fernsehen zu diesem Thema, die dann diesen Namen auch tatsächlich verdienen würde, als gutes Beispiel für seriösen und professionellen Journalismus, der vielleicht noch nie so wichtig gewesen ist wie in einer heutigen Zeit voller Krisen, die uns immer mehr über den Kopf zu wachsen drohen und die Illusion erwecken, Probleme seien mithilfe gegenseitiger Feindbilder und Schuldzuweisungen zu lösen und nicht durch konstruktive, gemeinsame Lösungsansätze. Denn, wie schon Friedrich Dürrenmatt sagte: “Was alle angeht, können nur alle lösen.”