Ukrainekrieg: Schuldzuweisungen, um von den eigenen Unzulänglichkeiten, Missetaten und Verbrechen abzulenken…

 

Frontseite der “NZZ am Sonntag” vom 6. November 2022: Ein schwarzer Balken mit der Schlagzeile “Die Saat des Krieges”, links davon das Bild einer russischen Rakete in einem ukrainischen Kornfeld, rechts davon das Bild einer vom Hunger gezeichneten Frau mit ihrem Baby am Horn von Afrika, dazu der Kommentar: “Ein ukrainischer Bauer und eine Ziegenhirtin am Horn von Afrika: Sie sind einander nie begegnet, und doch sind ihre Leben verbunden durch den russischen Überfall auf das Nachbarland. Er kann seine Felder nicht bestellen, sie ihre Familie nicht ernähren.”

Endlich hat man einen Schuldigen gefunden! Russland also soll Schuld sein, dass die Menschen in Afrika oder anderswo an Hunger leiden, wer denn sonst. So schnell scheint vergessen gegangen zu sein, dass schon lange vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine weltweit Hunderte Millionen von Menschen an Hunger litten und jeden Tag über 10’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs starben, weil sie nicht genug zu essen hatten. Ich kann mich nicht erinnern, dass dies in den westlichen Medien jemals so grosse Schlagzeilen gemacht hätte. Aber eben, daran waren ja auch nicht die Russen Schuld, sondern das kapitalistische Wirtschaftssystem, das immer noch auf kolonialer Ausbeutung beruht und in dem die Güter stets nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo am meisten Geld vorhanden ist, um sie kaufen zu können – was einen stetig wachsenden Überfluss am einen Ort und einen stetig wachsenden Mangel an vielen anderen Orten zur Folge hat.

Wie einfach, wie bequem. Seit dem 24. Februar 2022 trägt an allen Übeln der Welt einzig und allein Russland die Schuld. So schnell wird alles vergessen gemacht, was zuvor gewesen war. Man spricht von einem der grössten Verbrechen seit Jahrzehnten und vergleicht das Vorgehen Russlands in der Ukraine sogar mit den Gräueltaten des Nationalsozialismus – und niemand erinnert daran, dass es noch keine 20 Jahre her sind, als die USA einen völkerrechtswidrigen Angriff auf den Irak anzettelten, dem im Laufe der folgenden Jahre über eine halbe Million Menschen zum Opfer fielen. Niemand erinnert an die unvorstellbaren Massaker und Kriegsverbrechen, die von den USA während des Vietnamkriegs begangen wurden. Und niemand zählt die über 40 Kriege und Militäroperationen auf, welche seit dem Zweiten Weltkrieg von den USA verübt worden sind, mit insgesamt über 50 Millionen Todesopfern. 

Ja, die “Guten” und die “Bösen”. Das Bild, das uns jetzt täglich eingehämmert wird, bis es auch noch die Allerletzten glauben. Wie schön und wie einfach. Das Schlimme daran ist nicht nur, dass es eine grandiose Verfälschung der historischen Realität bedeutet. Das Schlimme ist vor allem, dass es uns, die “Guten”, blind macht für unsere eigenen Unzulänglichkeiten, Missetaten und Verbrechen. Und sich alles nur noch zuspitzt auf die simple Botschaft, es ginge bloss darum, Russland so schnell wie möglich militärisch in die Knie zu zwingen, und dann wäre die Welt wieder in Ordnung.

Ich hätte mir auch eine andere Frontseite der “NZZ am Sonntag” vorstellen können. Im schwarzen Balken die Schlagzeile “Die Saat des Kapitalismus”. Links davon das Bild eines bis auf die Knochen abgemagerten afrikanischen Kleinkinds, rechts davon entweder ein von Nahrungsmitteln aus aller Welt überquellender westeuropäischer Supermarkt oder der Blick in ein Luxusrestaurant irgendwo in Berlin, Paris oder Zürich, wo üppigste Mahlzeiten zu horrenden Preisen aufgetischt werden, oder das Bild einer Mülltonne irgendwo in Spanien oder Grossbritannien, angefüllt mit Lebensmitteln, die weggeworfen worden sind, obwohl sie noch längst geniessbar gewesen wären. Dazu der Kommentar: “Ein zu Tode gehungertes Kind in Afrika und der Gast in einem europäischen Luxusrestaurant: Sie sind einander nie begegnet und doch sind ihre Leben verbunden durch das kapitalistische Weltwirtschaftssystem, in dem die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden.” Oder man hätte in den schwarzen Balken ganz einfach auch folgendes Zitat von Papst Franziskus schreiben können: “Kapitalismus tötet.”

Doch nicht nur das hungernde Kind und der Gast im Luxusrestaurant sind sich noch nie begegnet. Auch der kongolesische Minenarbeiter, der unter unmenschlichen Bedingungen all jene für unsere Computer und Handys unentbehrlichen Metalle aus der Erde schürft, und jene Menschen in den reichen Ländern, welche diese Geräte tagtäglich benutzen, sind sich noch nie begegnet. Ebenso wenig wie sich Textilarbeiterinnen in Bangladesch, die zu Hungerlöhnen arbeiten müssen, und die Konsumentinnen und Konsumenten in den Boutiquen und Modegeschäften des Westens jemals begegnet sind. In einer so verrückten Welt, in der nicht einmal die drohende Klimakatastrophe und die drohende Zerstörung der Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen Anlass genug sind, um ein immer noch von endlosem Wachstumszwang getriebenes Wirtschaftssystem radikal zu hinterfragen.

Werden sich die Täter und Opfer des kapitalistischen Wirtschaftssystems tatsächlich eines Tages begegnen, wäre das vielleicht der Anfang einer neuen Zeit. Die Hoffnung, dass die Sehnsucht der Menschen nach einem Leben in Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden endlich Wirklichkeit werden könnte, die aber mit einem Ende des Ukrainekriegs noch längst nicht erfüllt wäre, sondern damit erst so richtig beginnen würde…