Toni Brunner und die Bundesratswahlen: Wer gehört zur Schweiz und wer nicht?

 

“Bedenken Sie”, schreibt Ex-SVP-Parteipräsident Toni Brunner in seiner Gastkolumne im “Tagblatt” vom 7. November 2022 zum Thema Bundesratswahlen, “die Grünliberalen kommen logischerweise erst dann ins Spiel, wenn sie drei- bis viermal bei eidgenössischen Wahlen bewiesen haben, dass sie effektiv zur Schweiz gehören und konstant sind. Sie sind zu neu und zu jung, als dass man jetzt schon ernsthaft über solcherlei Umkrempelungen der Parteien in der Regierung reden müsste. Für Experimente ist jetzt definitiv der falsche Zeitpunkt.”

Aha, Toni Brunner will uns also allen Ernstes erklären, wer zur Schweiz gehört und wer nicht. Was für eine Anmassung. Sie erinnert an die dunkelsten Zeiten der neueren Schweiz, als es etwa hiess, Frauen gehörten nicht in die Politik, oder als, zur Zeit des Nationalsozialismus, viele Schweizer die Meinung vertraten, Jüdinnen und Juden hätten in der Schweiz nichts verloren, oder, als man über unliebsame, “linke” Mitbürgerinnen und Mitbürger geheimdienstlich gesammelte Fichen anlegte oder ihnen empfahl, die Schweiz mit einer Einwegfahrkarte in Richtung Moskau zu verlassen. Eigentlich war ich der Ansicht, diese Zeiten seien lange vorbei. Und dann diese Aussage von Toni Brunner.

Doch er sagt ja nicht nur das. Er wirft den Grünliberalen auch vor, zu “jung” und zu “unerfahren” zu sein, um Regierungsverantwortung übernehmen zu können. Hat Brunner nicht mitbekommen, was für ein Riesenpotenzial zur Gestaltung unserer Zukunft gerade in jungen, “unverbrauchten”, kreativen und phantasievollen Menschen liegt, die noch anders denken können als so, wie die Mehrheit denkt? Gewiss, es braucht in der Politik sowohl jüngere wie auch ältere Persönlichkeiten. Aber wenn die Älteren meinen, sie könnten es alleine, ohne die Jüngeren und “Unerfahreneren”, bewerkstelligen, dann vergeben sie eine Riesenchance, ihre eigenen Positionen und Denkvorstellungen aufgrund neuer, ungewohnter und unkonventioneller Ideen stets wieder neu zu hinterfragen. Fortschritt entsteht nicht aus sturem Festhalten an Altem, scheinbar “Bewährten”, sondern nur durch all jene, die ihre Träume und Visionen von einer anderen, gerechteren und friedlicheren Welt noch nicht verloren haben. “Im Jugendidealismus”, so Albert Schweitzer, “erschaut der Mensch die Wahrheit. Mit ihm besitzt er einen Schatz, den er gegen nichts in der Welt eintauschen sollte.”

Und noch etwas sagt Toni Brunner. Nämlich, dass jetzt der “falsche Zeitpunkt für Experimente” sei. Dabei sind doch die weltweit treibenden und massgebenden politischen Kräfte, die nicht nur für zunehmende soziale Spaltungen und die Verarmung und Ausgrenzung breiter Bevölkerungsschichten verantwortlich sind, sondern auch für den Klimawandel mit seinen existenziell bedrohlichen Auswirkungen, nichts anderes als ein riesiges, weltumspannendes Experiment auf Kosten der Menschen und der Natur. Nichts ist gerade in der heutigen Zeit und angesichts dieser immensen Herausforderungen so wichtig wie eine neue Sicht, ein neues Denken, neue “Experimente”, nachdem die bisherigen Rezepte offensichtlich versagt haben. “Man kann Probleme”, so Albert Einstein, “nicht mit der gleichen Denkweise lösen, durch sie entstanden sind.”

Zurück zu Brunners Aussage, die Grünliberalen müssten noch beweisen, dass sie zur Schweiz gehörten. Ja, vielleicht gehören sie ja tatsächlich nicht zu jener Schweiz, die Brunner offensichtlich meint, zur Schweiz der unersättlichen Rohstoffgiganten und Finanzkonzerne, zur Schweiz, in der die Saläre der Bestverdienenden jene der am schlechtesten Verdienenden um das Dreihundertfache übersteigen, zur Schweiz, in der die 300 Reichsten mit über 800 Milliarden ein Gesamtvermögen besitzen, welches der gesamten jährlichen Wirtschaftsleistung des ganzen Landes entspricht, zu jener Schweiz, die im Handel mit den Ländern des Südens fast 50 Mal so viel erwirtschaftet, wie sie diesen Ländern in Form von “Entwicklungshilfe” wieder zurückgibt. Vielleicht gehören sie damit umso mehr zu einer Schweiz, die sich nicht so wichtig nimmt, die bereit ist, ihren Reichtum und Wirtschaftskraft mit denen zu teilen, die auf der Schattenseite sind, und in der es endgültig der Vergangenheit angehört, darüber ein Urteil zu fällen, wer zu diesem Land gehören darf und wer nicht…