Oliver Diggelmann: Ein “Völkerrechtler” erklärt uns den Krieg und dass Töten “legal” sein kann und alles bloss die Frage einer “angemessenen Güterabwägung” ist…

Oliver Diggelmann ist Professor für Völkerrecht an der Universität Zürich. In einem Interview mit dem “Tagesanzeiger” vom 18. November 2023 verbreitet Diggelmann Theorien, von denen man die eine oder andere wohl durchaus kritisch hinterfragen müsste.

So etwa beantwortet er die Frage, ob Israels Einsatz gegen das Al-Shifa-Spital völkerrechtlich legal sei, wie folgt: “Wenn wirklich feststeht, dass sich unter dem Spital eine Kommandozentrale, ein Waffenlager oder ein Versteck für Soldatinnen und Soldaten befindet, und sofern gewarnt und eine Frist eingeräumt wurde, ist der Einsatz Israels im Grundsatz legal. Erwartbare militärische Vorteile und Opfer müssen in einem vertretbaren Verhältnis sein. Das ist natürlich eine teuflische Abwägung.” Geht es da um Mathematik oder um Menschen? “Sofern gewarnt und eine Frist eingeräumt wurde” – Was heisst das konkret für Schwerverletzte, für Babys, für Patientinnen und Patienten, die an Infusionen hängen, was für eine “Frist” benötigen die, um aus dem Spital evakuiert zu werden, und wohin sollen sie dann gebracht werden, auf die Strasse, wo sie Bombardierungen noch schutzloser ausgeliefert sein werden als im Spital selber? “Erwartbare militärische Vorteile und Opfer müssen in einem vertretbaren Verhältnis sein”: Was ist “vertretbar” und wem gegenüber, kann man Menschenleben überhaupt gegeneinander aufrechnen, ist nicht jede Vernichtung auch nur eines einzigen Menschen ein Verbrechen, das durch nichts zu rechtfertigen ist? Und was meint Diggelmann, wenn er von einer “teuflischen Abwägung” spricht? Wenn es schon “teuflisch” ist, müsste er dann als Professor für Völkerrecht nicht einen sofortigen Waffenstillstand fordern und nichts, absolut nichts anderes, kein Abwägen, kein Aufrechnen, kein Relativieren, einfach nichts?

Auf die Frage, ob ein unterirdisches Waffenlager ausreiche, um ein Spital als militärisches Ziel zu betrachten, sagt Diggelmann, dass ein paar Gewehre das Spital noch nicht zu einem militärischen Objekt machen würden, ein “substanzielles Waffenlager” aber schon. Was bedeutet in diesem Zusammenhang “substanziell” und wer definiert das? Gibt es “böse” Waffen – die Gewehre der Hamas – und “gute” Waffen – die Bomben der israelischen Armee -, mit denen man die “bösen” Waffen zerstören darf, egal, ob dabei ein paar Dutzend schwerverletzte Kinder ihr Leben verlieren? Kann man Leben retten, indem man Leben zerstört?

“Wenn die Hamas”, sagt Diggelmann, “das Spital dazu nutzt, Kampfhandlungen von sich fernzuhalten – und vieles spricht dafür, dass dies der Fall ist -, so ist das klarerweise ein Kriegsverbrechen.” Aber wenn die israelische Armee über 12’000 zum allergrössten Teil unschuldige Kinder, Frauen und Kinder ermordet, dann soll dies kein Kriegsverbrechen sein?

“Wenn Terroristen inmitten von Zivilisten kämpfen”, so Diggelmann, “kommt es zu einer Güterabwägung. Wenn Zivilpersonen quasi als Nebenfolge des Einsatzes gegen ein militärisches Ziel getötet werden, kann dies legal sein – sofern Verhältnismässigkeit vorliegt. Man spricht dann von Kollateralschäden. Gleichermassen kann es legal sein, Gewalt gegen Sanitätseinrichtungen auszuüben, wenn sie militärisch genutzt werden.” Unschuldige Menschen töten könne legal sein, “Kollateralschäden” seien in Kauf zu nehmen? “Güterabwägung”, “Verhältnismässigkeit” – spricht Diggelmann hier eigentlich von Kartoffelsäcken, von Plastikeimern oder von Menschen? War er jemals selber mitten in einem Kriegsgebiet, hat er jemals die Schreie eines zu Tode verwundeten Kindes gehört, das zuerst seine beiden Eltern und kurz darauf seine beiden Beine verloren hat? Oder hat Diggelmann alle seine Theorien nur in der Schreibstube seiner Universität entwickelt?

“Die israelische Offensive”, erklärt Diggelmann, “ist gerechtfertigt, soweit die Kampfhandlungen der Abwehr des Angriffs dienen und die Gesamtintensität noch als verhältnismässig gelten kann.” Ist sich Diggelmann der Widersprüchlichkeit seiner Aussage eigentlich nicht bewusst? Er rechtfertigt den Angriff Israels auf den Gazastreifen, der bisher über 12’000 Menschen das Leben gekostet hat, als Antwort auf den Angriff der Hamas auf israelische Zivilpersonen, welche etwa 1400 Menschenleben gekostet hat, würde aber vermutlich jeden Versuch, diesen Angriff der Hamas als Antwort auf die 75jährige Leidensgeschichte des palästinensischen Volkes nicht einmal rechtfertigen, sondern lediglich erklären zu wollen, in aller Entschiedenheit weit von sich weisen. Was ist da noch “verhältnismässig”?

“Verhältnismässigkeitsfragen”, sagt Diggelmann, “haben immer etwas sehr Vages, wenn sie Ereignisse in der Zukunft betreffen. Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit wirkt begrenzender, wenn er auf bereits feststehende Tatsachen angewandt wird.” Verstehe das, wer wolle. Zurück bleibt so oder so die beklemmende Frage, wofür ein “Völkerrechtler” an einer schweizerischen Universität forscht und lehrt, solange er nicht seine ganze Kompetenz, sein ganzes Wissen, seine ganze Erfahrung, seine ganzen Studien und sein ganzes Ansehen in die Waagschale wirft und dafür benützt, um sich nur schon von der leisesten Idee, ein Konflikt wie der zwischen Israel und der Hamas könne mit militärischen Mitteln auch nur ansatzweise sinnvoll gelöst werden, in aller Entschiedenheit zu distanzieren und ohne jeglichen Hinweis auf “Verhältnismässigkeit”, “Güterabwägung”, “legales” Töten Unschuldiger, “militärische Vorteile” und “Kollateralschäden” nichts anderes zu fordern als einen sofortigen, bedingungslosen Waffenstillstand und eine Lösung des Konflikts mit friedlichen Mitteln.